Stefani Hoffman, Ezra Mendelsohn (Hrsg.) The Revolution of 1905 and Russia’s Jews. University of Pennsylvania Press Philadelphia 2008. IX, 320 S., Abb. = Jewish Culture and Contexts.

Mit Jonathan Frankel (1935–2008) hat die Geschichtsschreibung über die Juden in der Moderne einen ihrer bedeutendsten Vertreter verloren. Frankel zu Ehren vereint der Sammelband, dem 2004 eine Konferenz an der Hebrew University in Jerusalem vorausging, teilweise hochkarätige Beiträge ehemaliger Schüler und Schülerinnen sowie von Kollegen und Kolleginnen, die an seinen Forschungen und methodologischen Neuerungen anknüpfen. Forscher aus den USA, Russland, Polen und Israel setzen im Sinne des ‚cultural turn‘ hinsichtlich des Wechselverhältnisses der Revolution von 1905 und der russischen Judenheit Frankels geschichtswissen­schaftlichen Ansatz fort. Über Ereignisgeschichte hinaus ist er der Untersuchung kultureller Repräsentationsformen historischer Ereignisse und Prozesse verpflichtet.

Zuvörderst versucht die Studie wider Lenins These, die Revolution von 1905 sei nur eine Kostümprobe für 1917 gewesen, und wider teleologische Vorstellungen gerade die Kontiguität von Geschichte und somit den – höchst ambivalenten – Eigenwert der revolutionären Ereignisse für die Juden im Zarenreich darzustellen. Zu diesem Zwecke nehmen Abraham Ascher und Richard Wortman im ersten der insgesamt fünf Teile der Studie eine Neueinschätzung von 1905 vor. Zwar blieb der Zarismus intakt, doch erschütterte die Revolution von 1905 das Russische Reich in seinen Grundfesten schwer. Der von Nikolaj II. instrumentalisierte Nationalmythos, der Volk, Zar und Orthodoxie zusammenband, zeigt deutlich die Unvereinbarkeit von Monarchie und jüdischer Minderheit.

Das jüdische Druckwesen mag von der Revolution und der neu eingerichteten Duma profitiert haben, doch zeigen die weiteren Beiträge des zweiten Teils zur Situation jüdischer Soldaten in der russischen Armee und zur Darstellung von Juden in der rechten Presse deutlich die latent judenfeindliche Haltung im Zarenreich.

Der veränderte rechtliche Rahmen eröffnete jüdischen politischen, sozialen oder kultu­rellen Organisationen einen größeren Wirkungs­raum. Der dritte, stärker politik- und sozial­wissenschaftliche Teil des Sammelbandes nimmt jüdische Aktivitäten im öffentlichen Raum wie beispielsweise im Bildungs- oder Parteiwesen in den Blick. Diese bewegen sich zwischen den Polen der Integration in die fremde Kultur und des Separatismus. Scott Ury macht am Beispiel von David Green alias Ben-Gurion die institutionellen Möglichkeiten der Juden im Ansiedlungsrayon unbenommen auf die schwierige Situation einer „lost generation“, die zwischen den eigenen Bedürfnissen und den verschiedenen nationalen oder geschichtlichen Ideologien stand, aufmerksam.

Im vierten, mit sechs Beiträgen ausführlichsten und kulturwissenschaftlich interessantesten Teil liegt der Schwerpunkt auf dem Widerhall der Revolution von 1905 in der jüdischen Literatur, Wissenschaft und Kultur. Wissenschaftsge­schichtlich geht Barry Trachtenberg der Etablierung einer in der jiddischen Sprache begründeten Wissenschaft des Ostjudentums nach, wie sie im YIVO, dem „yidishn visnshaftlekhn institut“, ihre wohl bekannteste Ausprägung fand. Die Wurzeln dieser wissenschaftlichen Metaper­spektive lägen bereits in der Zeit vor 1905. Die durch die Revolution ausgelöste Spannung zwischen Ästhetik und Politik, künstlerischer Au­tonomie und (national-)ideologischer Abhängigkeit innerhalb der Ostjudenheit reflektieren Ag­niesz­ka Friedrich für die polnische Literatur (And­rzej Strug, Bolesław Prus, Jósef Weyssenhoff) und Hannan Hever mit einer Analyse von Chaim Brenners Werk für die hebräische Literatur. Mikhail Krutikov ergänzt dies um eine Aus­wertung zweier während der Stalin-Ära verfassten Romane der jiddischen Autoren Dovid Ber­gelson und Lipman-Levin. Diese Spannung zwischen Ästhetik und Ideologie war dem Schlüsselbeitrag von Kenneth Moss zufolge bereits vor 1905 der ostjüdischen Kultur generell inhärent. Sie lässt sich exemplarisch an der Entwicklung des Jiddischismus, einer in Abgrenzung vom hebräisch-zionistischen Lager primär an der jiddischen Sprache orientierten ostjüdischen Kulturideologie, ablesen. Durch die Ereignisse von 1905 katalysiert, werde dieser Gegensatz bis zur Shoah zum Zentralkonflikt ostjüdisch-jiddischen kulturellen Lebens.

Der abschließende, fünfte Teil dehnt die russisch-jüdische Innensicht auf eine transkontinentale Außenperspektive aus: Rebecca Kobrin beleuchtet anhand autobiographischer Quellen die gesellschaftliche Spezifik der von den revolutionären Ereignissen von 1905 ausgelösten jüdischen Massenemigration in die USA. Laut Eli Lederhendler blieben 1905 und die damit im Zusammenhang stehenden Pogrome für die jüdischen Zuwanderer auch in der Neuen Welt ein zentraler Topos. Inwieweit dies auch auf Auswanderer nach Palästina zutraf, wäre sicher eine weitere Rubrik wert gewesen. Nichtsdestoweniger bietet der vorliegende Band in seiner Perspektivenkoppelung von jüdischer Minderheit und Russischer Revolution (einschließlich ihrer Niederwerfung) sowie den komplexen, dynamischen kulturell-ideologischen Wechselwirkungen wertvolle, Nationalgeschichte transzendierende Einblicke in die Geschichte Osteuropas zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Sabine Koller, Regensburg

Zitierweise: Sabine Koller über: Stefani Hoffman, Ezra Mendelsohn (Hrsg.): The Revolution of 1905 and Russia’s Jews. University of Pennsylvania Press Philadelphia 2008. = Jewish Culture and Contexts. ISBN: 978-0-8122-4064-1, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 105-107: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Koller_Hoffman_Revolution.html (Datum des Seitenbesuchs)