Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  616–617

Laurie Manchester Holy Fathers, Secular Sons. Clergy, Intelligentsia, and the Modern Self in Revolutionary Russia. Northern Illinois University Press DeKalb, IL 2008. XIV, 288 S., Abb. ISBN: 978-0-87580-380-7.

Mit „Holy Fathers, Secular Sons“ legt Laurie Manchester eine umfassende sozial- und kulturhistorische Studie vor, die erstmals den Beitrag der orthodoxen Geistlichkeit zur Entwicklung der russischen Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts beleuchtet. Ausgangspunkt dieses sehr gut lesbaren Werks sind die Söhne der Geistlichen, die popoviči, deren Weg in die säkulare Gesellschaft individuell sehr verschieden war; einzig ihre Herkunft und der Bildungsweg verband sie.

Die Verfasserin beginnt ihren Rückblick auf die Situation der Geistlichkeit Mitte des 19. Jahr­hunderts mit einem Auszug aus einem Brief des Kritikers V. Belinskij an Gogol’ 1847 (S. 14), der das negative Image der orthodoxen Pfarrgeistlichkeit widerspiegelt. Es sind die Klischees von ungebildeten Priestern oder gar Analphabeten, die  später als antiklerikale Stereotypen im kommunistischen Russland wieder auftauchten. Diese Vorurteile entbehrten schon zur Zeit der Großen Reformen jeglicher Grundlage, denn bereits 1862 hatten 82 % der Priester einen Seminarabschluss vorzuweisen (S. 18).

Mit einer Fülle bisher nicht erschlossener Ar­chivalien illustriert die Verfasserin das nur wenig bekannte Umfeld von Bildung und Kultur, welches die Basis für den Weg der popoviči hinaus in die Welt bildete. In Abgrenzung gegenüber dem Adel betonten sowohl die Geistlichen als auch deren Söhne ihre Nähe zum Volk und ihre innige Verbundenheit mit der russischen nationalen Tradition und Kultur. Es ist daher kein Zufall, dass gerade unter den vorrevolutionären Historikern viele popoviči zu finden sind. Mehr als der Adel fühlte sich die Geistlichkeit moralisch gerechtfertigt, den Anspruch zu erheben, die „einzig wahren Russen“ zu sein. Im Unterschied zum romantisch-verklärenden Adel entwickelte sie durch ihre Nähe zu den einfachen Bauern eine realistischere Sicht der gesellschaftlichen Situation. Das Engagement einiger popoviči in sozialen und sozialrevolutionären Bewegungen resultiert auch aus ebendieser Erfahrung.

Es ist besonders die spezifische Perspektive, die Laurie Manchesters Darstellung auszeichnet. Anhand von persönlichen Aufzeichnungen, Tagebüchern, Briefen und anderen Ego-Dokumenten werden die Innenansichten eines Standes und dessen Sicht auf die Welt detailreich geschildert. In den ausgewerteten Quellen sind immer wieder antiaristokratische Töne zu vernehmen. Es kommt hier wiederholt das gegenüber dem Adel und dessen Gepflogenheiten empfundene Gefühl der kulturellen Fremdheit zum Ausdruck. Zwei das Leben der popoviči prägende Erfahrungen, die Kindheit und die Seminarzeit, fanden als gegensätzliche Topoi Eingang in die von Manchester untersuchten Quellentexte und werden von ihr in ihrer Darstellung einander kontrastiv gegenübergestellt – die Kind­heit als „Himmel auf Erden“ und die Seminarzeit als „Hölle“, geprägt durch die Erfahrung von Gewalt und Ungerechtigkeit seitens der Lehrer und Ältesten. Daneben spiegeln diese Texte ein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl (tovariščestvo) (S. 145).

Erst die letzten zwei Kapitel sind dem Aufbruch der popoviči in die Welt gewidmet, dem Exodus, der laut den autobiographischen Texten eine freiwillige Gewissensentscheidung war (S. 168). Das Verlassen des geistlichen Standes war nur in den wenigsten Fällen mit der Abkehr von der Religion verbunden. Das Bildungswesen und die Medizin waren die begehrtesten beruflichen Betätigungsfelder; Professoren aus dem geistlichen Stand waren z. B. an den historischen oder historisch-philologischen Fakultäten in Odessa und Kazan’ in der Mehrheit (S. 173–174). Das siebte und letzte Kapitel widmet sich der Suche nach säkularer Erlösung, die auf der professionellen, der politischen und der persönlichen Ebene gesucht werden konnte.

Im Anhang findet sich eine Namensliste, in der über 200 Personen (mit Angabe der Herkunft und des Berufs) verzeichnet sind, deren persönliche Aufzeichnungen den wesentlichen Bestandteil dieser Untersuchung ausmachen. Ein sehr kurz gehaltenes Glossar sowie ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis bilden den Abschluss.

Wie Laurie Manchester in ihrer Studie belegt, ist es nur scheinbar ein Widerspruch, dass durch die starke Verwurzelung in der Tradition die Söhne der Pfarrgeistlichkeit ein neues Ethos, eine neue Sicht auf das Individuum und dessen Rolle in der Welt mit in die säkulare Gesellschaft brachten. Der Weg der popoviči ins 20. Jahrhundert war inspiriert durch die Tradition; dabei schlossen sie sich dem selbsterklärten Ziel der intelligencija an, „Russland zu retten“.

Maria Köhler-Baur, München

Zitierweise: Maria Köhler-Baur über: Laurie Manchester Holy Fathers, Secular Sons. Clergy, Intelligentsia, an the Modern Self in Revolutionary Russia. Northern Illinois University Press DeKalb, IL 2008. XIV. ISBN: 978-0-87580-380-7, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 616–617: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Koehler_Baur_Manchester_Holy_Fathers.html (Datum des Seitenbesuchs)