Yvonne Kleinmann Neue Orte – neue Menschen. Jüdische Lebensformen in St. Petersburg und Moskau im 19. Jahrhundert. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2006. 459 S., 21 Abb., 15 Tab. = Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, 6. ISBN: 978-3-525-36984-5.

Forschungen zur Geschichte der Juden in Russland kommen zumeist aus den angelsächsischen Ländern, gefolgt von Israel und Russland seit dem Ende der Sowjetunion. In Deutschland sind sie Teil der osteuropäisch-jüdischen Studien sowie der Antisemitismusforschung und vielfach Gelegenheitsarbeiten. In der Schriftenreihe des Simon-Dubnow-Instituts sind bereits vier Monographien zum Themenfeld erschienen. Die erste Forschungsarbeit in deutscher Sprache zur Geschichte der Juden in St. Petersburg und Mos­kau hat Yvonne Kleinmann vorgelegt. Es ist eine umfangreiche Studie aus sozialge­schicht­licher Sicht, die in den Kernkapiteln vielfältiges, bisher unbekanntes und aufschlussreiches Archivmaterial zur Entstehung und Entwicklung der jüdischen Gemeinden in den beiden reichsrussischen Metropolen auswertet. Mit der Formulierung „Lebensformen“ im Titel bezieht sich die Autorin bewusst auf das Konzept des Konstanzer Historikers Arno Borst. Die Arbeit ist der Versuch, die Vielfalt und Heterogenität jüdischen Lebens zu rekonstruieren und da­bei die Bevölkerungsmehrheit, das meščanst­vo, be­stehend aus Handwerkern, Kleingewerbetreibenden und Veteranen, besonders zu berücksich­tigen. Die zweite konzeptionelle Säule liefern Migrationstheorien, denn die Juden in den reichsrussischen Metropolen waren Migranten, die zum größten Teil erst zwischen 1860 und 1880 eingewandert waren; und St. Petersburg und Moskau bildeten neue Orte jüdischen Lebens, fernab vom traditionellen Siedlungsgebiet im westlichen Grenzland des Russländischen Reiches. Insofern liegt es nahe, dass zunächst aus­führlich die Ausgangsbedingungen – die traditionelle jüdische Solidargemeinde, der „Ansied­lungsrayon“, die Migranten, Motive und Wege der Migration – beschrieben werden. Es waren zunächst Kaufleute und Soldaten, später Akademiker und erst zuletzt Handwerker, die das Privileg erhielten, sich in den reichsrussischen Metropolen niederzulassen. Militärdienst, Brot­erwerb und moderne Bildung waren die Mo­tive der Migration. Höhere Bildungsgrade hal­fen, größere Distanzen zu überwinden.

Yvonne Kleinmann untersucht jüdische Lebensformen im urbanen Raum während der zwei­ten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei die Städte verglichen werden und die Hauptstadt in der Regel führt. Die Wohngebiete der Juden bildeten keine Ghettos, wohl aber gab es Viertel mit mehr oder weniger dichter jüdischer Bevölkerung. In St. Petersburg waren dies die südwest­lichen Stadtteile Kolomenskaja, Spasskaja IV und Narvskaja I, das heißt Gewerbegebiete zwischen Zentrum und Peripherie. Mit der Zeit, im Zuge des sozialen Aufstiegs und der Integration, zeichneten sich leichte Verschiebungen Rich­tung Zentrum ab. In Moskau ging die jüdische Siedlung vom Glebov-Handelshof aus, der den jüdischen Kaufleuten ursprünglich als Aufenthaltsort diktiert worden war, und entwickelte sich besonders dicht in den zentralen Vierteln Go­rodskaja, Pjatnickaja, Mjasnickaja I und II sowie Sredenskaja. Im Vergleich zu anderen Ein­wanderergruppen war die jüdische Bevölkerung in den reichsrussischen Metropolen jung, lebte in der Regel im Familienverband, wies eine relativ hohe Geburtenrate sowie einen mittleren Alphabetisierungsgrad auf und war zur Akkulturation bereit. Unterschiede in den Bevölkerungsstrukturen gab es im Hinblick auf die Herkunftsgebiete und die soziale Zusammensetzung. Die Moskauer Juden kamen meist aus den belorussischen Gouvernements, die St. Petersburger aus einem größeren Einzugsgebiet. Auffällig ist der relativ hohe Anteil der Akademiker vor allem in freien Berufen in der Residenz- und Verwaltungsstadt St. Petersburg (1900: 14%) im Unterschied zur Handelsmetropole Moskau (1890: 7%). Im Blickpunkt stehen in beiden Städ­ten die neuen wirtschaftlichen und soziokul­turellen Eliten, in St. Petersburg der Kreis um den Mäzen und Bankier Baron Evzel’ Gincburg und in Moskau der Rabbiner Zalkind (Zelik) Minor und dessen Förderer. In der Residenz­stadt kam ihnen die Regierungsnähe zugute, dafür aber stießen sie dort in der Regel auf mehr Widerstand bei der Stadtregierung als in der Handelsmetropole. Die Politik gegenüber den Migranten war weder einheitlich noch kon­stant.

In dem Maße, wie die Juden als beargwöhnte Gruppe im Zarenreich reglementiert und akribisch gezählt wurden, entzogen sie sich den Kon­trollen. Deshalb sind die offiziellen Statistiken nur bedingt aussagekräftig. Demnach war der jüdische Anteil an den Stadtbevölkerungen mit je 2% (1881) bzw. 1,4% (27.000) in St. Petersburg und 0,8% (7.800) in Moskau (1897) ebenso gering wie der Anteil der außerhalb des „Ansiedlungsrayons“ lebenden Juden an den Juden im Russländischen Reich insgesamt (1897: 6,1%). Die historische Bedeutung der jüdischen Migranten in St. Petersburg und Moskau liegt darin, dass sie neue Lebens- und Gemeinschaftsformen herausbildeten.

Im Zentrum des Forschungsinteresses steht die von Maskilim und Regierung aus unterschiedlichen Motiven durchgesetzte zentrale, konfessionelle und repräsentative jüdische Großstadtgemeinde mit Wohltätigkeits- und Bildungsinstitutionen, architektonisch manifest im Bau, Stil und Standort der Choralsynagogen. Daneben registriert die Autorin die mit Regierung und Maskilim unter Schwierigkeiten ausge­handelte Koexistenz dezentraler traditioneller jüdischer Gemeinschafts- und Lebensformen im Milieu der Handwerker, Soldaten, Veteranen und kleinen Gewerbetreibenden, die vor allem in Betstuben und im Koscherfleischhandel zutagetraten und eine „weiche“ Integration förderten, wobei die Konflikte zwischen den Parteien in der Hauptstadt St. Petersburg in der Regel schärfer waren als in der Handelsstadt Moskau. Zeichen der Integration waren die Annahme rus­sischer Eigennamen, die Aneignung der Staats- und Verwaltungssprache und der Erwerb formaler Bildung. Die Migration in die urbanen Zentren ging mit radikalen Traditionsbrüchen einher. Dennoch blieben, wie die Autorin, gestützt auf neueste Forschungen John D. Kliers, am Umgang mit der Pogromkrise 1881/82 zeigt, die Ver­bindungen zum traditionellen Siedlungsgebiet erhalten. Die Realpolitik des Gincburg-Krei­ses ebenso wie die Zivilcourage und Hilfsaktionen Rabbiner Minors galten in der Krise den Juden im „Ansiedlungsrayon“.

Yvonne Kleinmann betrachtet das Siedlungsrecht in den reichsrussischen Metropolen nicht als entscheidenden Schritt zur rechtlichen Gleich­stellung. Sie widerspricht Benjamin Nathans Bestimmung der „selektiven Integration“ der Juden in St. Petersburg. Stattdessen spricht sie vom „revidierbaren leistungsgebundenen Pri­vileg“ und macht das am Extremfall der Aus­weisungen der Juden aus Moskau, St. Petersburg und anderen zentralrussischen Städten (Orel, Kaluga, Tula) nach 1881 fest. Die Absolutheitsansprüche der russisch-orthodoxen Kirche, gesellschaftliche Vorbehalte gegen Modernisierung und die Konkurrenz zwischen russischen und jüdischen Kaufleuten führten in eine Politik der Ausgrenzung unter nationalistischem Vorzeichen. Die Massenvertreibungen aus Moskau 1891/92, die vor allem Handwerker und Veteranen trafen und der Wirtschaft insgesamt scha­deten, sind gut dokumentiert und wurden zum Inbegriff nationalistisch begründeter antise­mi­tischer Politik im Russländischen Reich.

Zuweilen erschweren allzu detaillierte Darstellungen der Kämpfe um die Choralsynagogen­gemeinden die Lektüre. Priorität hat die Her­aus­arbeitung von Heterogenitäten. Über die Lebensformen der Migranten, auch in der Illegalität, hätte man gern mehr erfahren, ebenso über die beiden neuen, großen Netzwerke der hauptstädtischen Juden, die „Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung“ (OPE) und die „Gesellschaft zur Förderung von Handwerk und Land­wirtschaft unter den Juden im Russländischen Reich“ (ORT). Die Auseinandersetzung mit beiden Organisationen ist unerlässlich zur Bestimmung der neuen Lebens- und Gemeinschaftsformen der Juden jenseits des „Ansiedlungsrayons“. Anders als die Autorin behauptet, ist sie bisher ein Forschungsdesiderat. Auch fehlt eine Begründung dafür, dass die „Pahlen-Kommission“ (1883–1888) kein Thema ist. Ein Kapitel über sie könnte die Tragweite der Realpolitik der neuen jüdischen Eliten im Russländischen Reich unter Beweis stellen.

Verena Dohrn, Göttingen

Zitierweise: Verena Dohrn über: YVONNE KLEINMANN Neue Orte – neue Men-schen. Jüdische Lebensformen in St. Petersburg und Moskau im 19. Jahrhundert. ISBN: 978-3-525-36984-5., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 1, S. 114-116: http://www.oei-dokumente/JGO/Rez/Kleinmann-Neue-Orte_DF.html (Datum des Seitenbesuchs)