Michail Luk’janov Rossijskij konservatizm i reforma, 1907–1914 [Russländischer Konservatismus und Reform 1907–1914]. ibidem-Verlag Stuttgart 2006. 282 S. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 39. ISBN: 3-89821-503-2.

Vertreter einer konservativen Ideologie sind in Russland in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg für Michail Luk’janov alle Gruppierungen rechts der Oktobristen gewesen. Sie waren allesamt Anhänger der Autokratie, Verteidiger der orthodoxen Kirche und Befürworter einer privilegierten Stellung des Russentums, d.h. für sie alle galt – mehr oder weniger – noch immer die Uvarovsche Formel „Rechtgläubigkeit, Selbstherrschaft und Volkstum“ aus der Zeit Nikolajs I. Ihre ideologische Ausrichtung war indes schwach entwickelt und zudem vor allem durch ihre allgemeine Abwehr der Moderne wenig dazu prädestiniert, sich mit den für sie bedrohlichen politischen Alternativen des Liberalismus und erst recht des Sozialismus erfolgreich auseinanderzusetzen. Als kompromisslose Kämpfer für die Erhaltung der Autokratie waren sie auch kaum imstande, Staatsrat und Staatsduma als Repräsentativorgane anzuerkennen und ihnen mehr zuzubilligen als bloße gesetzeberatende Funktionen. Konnte doch für sie jegliche Art von Gewaltenteilung nur eine Einschränkung der absoluten Macht des Zaren bedeuten. Wenngleich besonders die „Nationalisten“ unter ihnen starke Vorbehalte gegenüber den beiden Ministerpräsidenten der Vorkriegszeit, Stolypin und erst recht Kokovcov, hatten, waren und blieben selbst diese immer loyale Unterstützer der Regierung. Die Spitze der Vorbehalte richtete sich dabei in erster Linie gegen die westlich eingestimmte Petersburger Bürokratie – seit jeher Gegnerin des „wahren Russentums“ und des­sen ureigener Interessen.

Dass im vorhandenen Staatswesen das russische Element und die russisch-orthodoxe Kirche nicht die ihnen gebührende Dominanz besaßen und mehr und mehr bedroht waren, gehörte zu den Stereotypen konservativer Beschwerden. Vor allem glaubte man diese Gefahr innerhalb der linken Gruppierungen am dort vorherrschen­den „fremdstämmigen“ Element festmachen zu können; dies zielte in erster Linie auf die Juden als revolutionäre Unruhestifter. Die Juden wurden aber auch für die Überfremdung der russischen Wirtschaft verantwortlich gemacht und vor allem als Vorreiter des für Russlands Eigen­art bedrohlichen westlichen Kapitalismus samt seinen politischen und sozialen Folgen angesehen. Aus konservativer Sicht galt es dagegen die Landwirtschaft zu schützen und weiterzuentwickeln – den eigentlichen Hort des Russentums und vor allem seiner adligen Gutsbesitzer. Zerstörte doch gerade das industrielle Wachstum in Russlands Städten die traditionelle Sozialstruktur auf dem Lande. Für die konservative Presse war es deshalb typisch, die in Russland greifbaren wirtschaftlichen Fortschritte als fraglich hinzustellen und dabei insbesondere auf die starke Abhängigkeit von ausländischem Kapital hinzuweisen. Mit Sorge wurde zugleich beobachtet, dass sogar eine russische Bourgeoisie in Erschei­nung zu treten begann.

Freilich galt die Ablehnung der Moderne und vor allem des liberalen Gedankenguts nicht für alle Konservativen gleichermaßen. Jedenfalls war man mancherorts bereit, alle Formen privaten Eigentums anzuerkennen und seine gesetzliche Garantie als Voraussetzung für wirtschaftliche Freiheit zu fordern. Sah man darin doch eine Gewähr für soziale Stabilität. Manche, in erster Linie „gemäßigte Konservative“ und „Nationalisten“, machten sogar die seit Jahrhunderten unterentwickelte gesellschaftliche Privatinitiative als eine der Ursachen für Russlands ökonomische Rückständigkeit gegenüber dem Westen aus. Ländliche Gutsbesitzer und der sonst vielge­schmähte städtische Unternehmer wurden in ihren unterschiedliche Wirtschafssphären zuweilen sogar als gleichwertig anerkannt, besonders wenn es darum ging, sie als Verbündete gegen den alles nivellierenden Sozialismus zu gewinnen.

Trotz dieser neuen Sichtweise bewahrte das Herangehen aller „russländischen“ Konservativen an die sozial-ökonomischen Probleme viele archaische Züge. Priorität auf dem Gebiet der „vaterländischen Ökonomie“ besaß für sie nach wie vor die Landwirtschaft. Die Konservativen maßen den ständischen Elementen große Bedeutung bei; zu diesen gehörten der Gutsadel und der Bauer in seiner traditionellen Gemeinde, wäh­rend die Bourgeoisie und nicht zuletzt die Fab­rikarbeiterschaft nicht als neue Heilsbringer, sondern eher als Totengräber des alten Systems gesehen wurden. Im politischen Sinne blieb des­halb der Liberalismus ebenso wie der Sozialismus der Gegner aller Konservativen, die aber selbst nicht in der Lage waren, vor dem Ersten Welt­krieg und insbesondere im Revolutionsjahr 1917 gegen diese neuen Ideologien eine ernst­hafte politische Alternative für Russland zu entwickeln.

Besonders zu bemängeln ist bei Luk’janovs Darstellung, dass bei all der Fülle an Informationen über konservatives Denken in Russland zwischen 1907 und 1914 wenig ausgesagt wird über die Personen, die erwähnt und zitiert werden, ihre soziale Stellung und ihren politischen Einfluss in und außerhalb der Staatsduma bzw. des Staatsrats. Deren Grobeinteilung in „Konservative“, „gemäßigte Konservative“ und „Natio­nalisten“ reicht wohl kaum aus, um das Meinungsspektrum vollständig wiederzugeben. Es wäre sicher besser gewesen, die handelnden Personen und ihren Wirkungskreis näher zu charakterisieren. So bleibt bei allen Bemühungen, kon­servatives Gedankengut in aller Ausführlichkeit zu präsentieren, doch wenig für den Leser, um es auch als repräsentativ zu erkennen und historisch richtig einordnen zu können.

Klaus Heller, Fürth

Zitierweise: Klaus Heller über: Michail Luk’janov: Rossijskij konservatizm i reforma, 1907–1914 [Russländischer Konservatismus und Reform 1907–1914]. ibidem-Verlag Stuttgart 2006. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 39. ISBN: 3-89821-503-2., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 1, S. 123-124: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Klaus_Heller_Lukjanov_Rossijskij_konservatizm.html (Datum des Seitenbesuchs)