Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 156-158

Verfasst von: Steffi Keil

 

Viktor Krieger: Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft. Historische Schlüssel­erfahrungen und kollektives Gedächtnis. Berlin: LIT, 2013. IV, 264 S., 61 Abb. = Geschichte, Kultur und Lebensweisen der Russlanddeutschen, 1. ISBN: 978-3-643-12073-1.

Viktor Kriegers Publikation wurde anlässlich der 70. Wiederkehr des Jahrestages der Deportation der Russlanddeutschen am 28. August 1941 verfasst. An diesem Tag löste die Sowjetunion die Wolgarepublik auf und beschloss die Deportation der Titularnation. Mit dem Ziel, unterschiedliche Perspektiven auf identitätsstiftende Ereignisse sowie Entwicklungen der Geschichte der Russlanddeutschen im letzten Jahrhundert bis hin zur aktuellen Lage einzunehmen, richtet der Autor den Fokus auf die Geschichte der Russlanddeutschen in der Zeit nach 1917.

Bei dem vorliegenden Band des Heidelberger Historikers, der sich auf dem Feld der Geschichte der Deutschen im Zarenreich und in der Sowjetunion einen Namen gemacht hat, handelt es sich um eine Zusammenstellung von Artikeln aus den Heimatbüchern und der Zeitung Volk auf dem Weg der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. – veröffentlicht zwischen 2006 und 2011 –, die Krieger aufgrund des wissenschaftlichen Anspruchs mit Kommentaren und Zitaten versehen sowie fast durchgängig überarbeitet hat. Einen geringen Teil des Buches bilden andere Textsorten wie z. B. ein Interview.

Der Schwerpunkt liegt auf dem Thema des ersten Kapitels Verfolgung, Verbannung und Zwangsarbeit, welches sich über 91 Seiten erstreckt. Im Vergleich dazu werden den drei weiteren Kapiteln über das Nonkonforme Verhalten der Russlanddeutschen im Sowjetstaat, Die politischen, geistigen und sprachlich-kulturellen Tendenzen und über die Historischen Hintergründe und die aktuelle Lage der deutschen Minderheit. Eine Denkschrift jeweils nur circa 40 bis 50 Seiten eingeräumt. Diese Gewichtung hängt sicherlich mit dem Ursprung der Texte zusammen, denn für die Heimatbücher und für Volk auf dem Weg sind Verfolgung, Verbannung und Zwangsarbeit zentrale, wenn nicht sogar die zentralen Themen. Abgerundet wird das Werk mit einem ausführlichen Anhang von rund 30 Seiten: Er umfasst ein Glossar, welches die wichtigsten Begriffe ausreichend erklärt und zusammenfasst, ein Orts- und Personenregister, ein Abkürzungsverzeichnis und eine Chronologie der antideutschen Maßnahmen im Russischen Reich bzw. in der UdSSR neben der Opferbilanz. Diese Chronologie bietet einen schnellen, gut gelungenen Überblick über die Ereignisse.

Das vierte und letzte Kapitel über die gegenwärtige Geschichte der Russlanddeutschen, vor allem ab Unterkapitel 4.3., behandelt die Schwierigkeiten der Russlanddeutschen nach der Stalinzeit. Dabei werden Probleme wie jenes der Identität sowie der Integration und Diskriminierung in der Bundesrepublik Deutschland diskutiert. Den Bogen zum Anlass des Buches spannt Krieger mit seinem letzten Unterkapitel (4.8.), in dem er Vorschläge und Forderungen anlässlich des 70. Jahrestages am 28. August 2011 erörtert. Obwohl hier die Opferperspektive im Vordergrund steht, wird das Thema der Publikation in einen aktuellen Kontext gehoben und die Relevanz der Aufarbeitung der Geschichte der Russlanddeutschen deutlich.

Jedem größeren Kapitel wird ein kleines, teilweise aber zu kurz geratenes Fazit angefügt; allerdings fehlt eine allumspannende Schlussbetrachtung. Zwar ist dies wahrscheinlich dem Charakter eines Sammelbandes geschuldet, doch hätte der Autor diesen relativieren, seine Auswahl der Texte begründen und erläutern sowie sein Buch insgesamt umrahmen können.

Eine Besonderheit des Buches ist die reiche, teilweise farbliche Bebilderung, die das Thema veranschaulicht. Auch wenn manche Bilder nicht zwingend notwendig erscheinen, so sind sie immer treffend positioniert. Zur weiteren Veranschaulichung dienen aufschlussreiche Tabellen, die sich ebenso exzellent in den Text einfügen. Hinzu kommen viele Quellen, die abgedruckt und kommentiert die Veröffentlichung bereichern. Im Kapitel 3.3. beispielsweise arbeitet Krieger die Geschichte der Russlanddeutschen mit Hilfe von Thesen auf genuin wissenschaftliche Art auf. Laut dem Verfasser kann die Geschichte der Russlanddeutschen nach 1941 nicht in den Kontext von Flucht und Vertreibung gestellt werden, und er konstatiert einen erzwungenen Identitätswandel bei den Russlanddeutschen, den die staatliche Politik bewirkte. Indessen fehlen in diesem Kapitel die Literaturverweise, wobei sie gerade hier besonders interessant gewesen wären. Dazu kommt, dass die nach fast jedem Kapitel aufgelisteten „ausgewählten Quellen“ hier nicht vorhanden sind und somit das gesamte Kapitel ohne Nachweise auskommen muss.

Nicht alle Texte sind im strengen Sinne wissenschaftlicher Natur. Einige wurden mit einem ausführlichen wissenschaftlichen Apparat versehen, darunter mit Verweisen auf viele Quellen, auch auf russische, sowie auf die einschlägige Literatur von deutscher und russischer Seite. Andere Artikel fallen in den Ton der Landsmannschaft ab oder berichten über private Familiengeschichten (Seite 179 f.). Wieder andere kommen ohne Literaturangaben aus, etwa im Kapitel 3.2.

In der Gesamtbetrachtung vermittelt die Publikation, trotz formaler Mängel, zweifels­ohne einen wissenschaftlich gehaltvollen Eindruck. Sie leistet einen detaillierten, meist reproduktiven Gesamtüberblick über Verfolgung, Deportation, Widerstand, Autonomiebewegung und vieles mehr, was den Hauptinhalt darstellt. Weniger oft in der Wissenschaft thematisiert wurde der Widerstand der Russlanddeutschen gegenüber der Sowjetregierung (S. 99–140) oder auch wie in Kapitel 4.6. die heutige Situation der deutschen Minderheit in den Russischen Föderationen. Neuland betrat Krieger mit der Interpretation von Protestbriefen Russlanddeutscher gegen ihren Status als Personen minderen Rechts auf Seite 124 f. Hier zeigt sich die Nähe der Veröffentlichung zur Forschungsdebatte. Dazu kommt Kriegers durchgängig kritische Betrachtung von Zahlen, die sich durch das gesamte Buch verfolgen lässt. Insgesamt liegt hier ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der Russlanddeutschen vor.

Steffi Keil, Leipzig

Zitierweise: Steffi Keil über: Viktor Krieger: Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft. Historische Schlüssel­erfahrungen und kollektives Gedächtnis. Berlin: LIT, 2013. IV, 264 S., 61 Abb. = Geschichte, Kultur und Lebensweisen der Russlanddeutschen, 1. ISBN: 978-3-643-12073-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Keil_Krieger_Bundesbuerger.html (Datum des Seitenbesuchs)

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