Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 511-512

Verfasst von: Steffi Keil

 

Ulrike Huhn: Glaube und Eigensinn. Volksfrömmigkeit zwischen orthodoxer Kirche und sowjetischem Staat 1941 bis 1960. Wiesbaden: Harrassowitz, 2014. 363 S., 19 Abb. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 81. ISBN: 978-3-447-10103-5.

„Die Sowjetunion war ein Land des Wundersamen. In der Vorstellung der orthodoxen Bevölkerung war der ländliche Raum durchzogen von sakralen, potenziell wundertätigen Orten. Das waren nicht nur die alten Klosteranlagen, sondern auch besondere Quellen, charakteristische Steine oder Bäume, die meist jenseits der Dörfer und damit außerhalb des bewohnten Raumes lagen. Diese Heiligtümer waren Orte der Kommunikation mit dem Göttlichen – auch gerade unter der Herrschaft der Bolschewiki, als sie einen Ersatz für die vielen geschlossenen Kirchen darstellen konnten.“ (S. 214)

Das Zitat aus Ulrike Huhns Dissertation, welche 2014 unter dem Titel Glaube und Eigensinn. Volksfrömmigkeit zwischen orthodoxer Kirche und sowjetischem Staat 1941 bis 1960 veröffentlicht wurde, beschreibt die Situation, in der sich die orthodoxe Kirche damals befand. Die vorliegende Publikation untersucht hauptsächlich religiöse Praktiken in der Sowjetunion in den zwanzig Jahren nach dem Einmarsch der Deutschen. Die Autorin stellt sich die Aufgabe, auf Marktplätze, Bauernhütten und Waldlichtungen (S. 10) zu schauen, um ihre Frage nach der Volksfrömmigkeit zu beantworten. Dabei stellten lokale und regionale Vertreter sowie staatliche und kirchliche Organisationen die Akteure, die in einem Dreiecksverhältnis zwischen Staat, Kirche und Kirchenvolk handelten (S. 10); Bäuerliche Schichten hielten an Traditionen fest, ebenso wie Geistliche – auch wenn sie teilweise mit dem Staat kooperierten –, und lokale sowjetische Funktionsträger – Bevollmächtigte des 1943 gegründeten Rats für Angelegenheiten der Russisch-Orthodoxen Kirche – beobachteten und bekämpften die traditionellen Werte und Bräuche. Bevollmächtigte dokumentierten das religiöse Leben auf lokaler Ebene und berichteten nach Moskau. Eben diese Berichte bilden die Quellengrundlage der Arbeit. Obwohl die Archivdokumente in erster Linie eine äußere Sicht auf die Gläubigen und deren Praktiken wiedergeben, bieten sie einen außerordentlich aufschlussreichen Blick auf die Interaktion zwischen staatlichen und kirchlichen Instanzen sowie auf das Private, welches im Fokus der Publikation steht. Es ist also der besondere Blickwinkel und die außergewöhnliche Fragestellung, die das Werk einzigartig machen – eine vergleichbare Studie gibt es nicht.

Zudem hat die Autorin wahres Talent zum Schreiben! Ihr gelingt es in jedem Kapitel die Aufmerksamkeit des Lesers zu wecken und zu halten. Keine Seite ist langweilig, was die Publikation aus der Masse heraushebt. Doch ist es nicht nur der Schreibstil, der den Leser in seinen Bann zieht, es sind auch die Geschichten, die Ulrike Huhn erzählt. Sie lässt den Leser in die Welt orthodoxer Gläubiger eintauchen, da sie es versteht, die Volksfrömmigkeit aus den Archivalien herauszufiltern. Außerdem zeigt sich das Feingefühl der Autorin in der Themenauswahl und der Ausarbeitung der einzelnen Kapitel, welche gründlich und strukturiert konzipiert sind.

Mit einer 23 Seiten langen, fundiert recherchierten und direkt zum Thema hinführenden Einleitung beginnt Ulrike Huhn ihre Arbeit. Danach folgen sechs Kapitel und die Schlussbetrachtung. Jedes der sechs Kapitel stellt einen in sich geschlossenen Mikrokosmos dar, der jeweils mit einer Hinführung zum Thema, einem erklärenden und interpretatorischen Hauptteil und einer Schlussbetrachtung strukturiert ist. Jedes Thema wird im Verlauf der 20 Jahre betrachtet, was sich einheitlich durch die Arbeit zieht. Das zweite und vierte Kapitel ist jeweils circa 70 Seiten lang, während die übrigen zwischen 30 und 40 Seiten umfassen. Das zweite und gleichzeitig eines der interessantesten Kapitel beschäftigt sich mit Gerüchten, genauer gesagt damit, was Gerüchte sind, was von den sowjetischen Behörden als Gerüchte angesehen wurde und wie sich diese verbreiteten. Beispielsweise war die Annahme verbreitet, der Einmarsch der deutschen Wehrmacht sei eine Strafe Gottes, die aufgrund der Kirchenschließungen – gegen die man sich zu wenig gewehrt hatte – folge (S. 35). Das Hervorbringen und Verbreiten von Gerüchten kann laut der Autorin als „Prozess kollektiver sozialer Selbsthilfe verstanden worden, der zugleich Vertrauen und Gruppenzugehörigkeit schafft[e]“ (S. 36 f). Demnach waren Gerüchte ein Medium für die Verbreitung von Nachrichten oder auch ein Kommunikationsweg, gewissermaßen „improvisierte Nachrichten in Krisensituationen“ (S. 36). Andere Medien wie Zeitungen konnten aufgrund der staatlichen Kontrolle über sie nicht genutzt werden. Zudem halfen Gerüchte dem kollektiven Sozialgefüge, da sie ein Selbsthilfemedium darstellten und die Gruppenzugehörigkeit förderten sowie das Vertrauen in diese stärkten. Gerüchte werden in Huhns Publikation als Teil der Volksfrömmigkeit betrachtet, was bisher keine andere Publikation in diesem Maße herausgearbeitet hat; sie betritt neues Territorium, was ihre Ausarbeitung sehr wertvoll für die historische Forschung macht.

Äußerst hohes wissenschaftliches Niveau zeigt sich auch in allen restlichen Kapiteln. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem Handlungsspielraum, den die orthodoxe Kirche als nur formal eigenständige Organisation innerhalb des stalinistischen Regimes seit den 1940er Jahren hatte. Staatliche Maßnahmen gegen den sogenannten „religiösen Untergrund“ werden ebenso wie Repressionen fern des Rats für Kirchenangelegenheiten angesprochen. In diesem vierten Kapitel erfährt der Leser viele bisher unbekannte Details über die Arbeitsweise und Struktur dieses Rats. Viele Mitarbeiter stammten aus geheimdienstlichen Strukturen und wurden von dorther versetzt, da sie entweder über zu wenig Bildung verfügten oder nicht mehr voll leistungsfähig waren. Verständlicherweise waren die Posten als Bevollmächtigte des Rats für Kirchenangelegenheiten keine beliebten Stellen, vor allem wenn man bedenkt, dass Bevollmächtigte wenig bis keine Sonderrationen und Privilegien bekamen. Die Ergebnisse der Arbeit werfen ein neues Bild auf den Rat, insbesondere hinsichtlich seiner Arbeitsmoral, Arbeitsweise und Durchsetzungskraft.

Auch die letzten drei Kapitel sind gekennzeichnet von interessanten und neuen Details auf reicher und äußerst sinnvoll strukturierter Quellengrundlage. Anhand konkreter Beispiele werden Wallfahrten (Kapitel 5), die dörfliche Festkultur (Kapitel 6) und die Krisenjahre sowie religiöse Narrative (Kapitel 7) untersucht. Auch hier lässt es sich die Autorin nicht nehmen, üppig aus ihrem reichen Quellen- und Literaturfundus zu schöpfen. Sie erzählt detailliert von Prozessionen, wie die Staatsmacht mit diesen umging und auch, wie sich die religiösen Praktiken selbst veränderten. Aufgrund der Verfolgung der Geistlichen übernahmen Laien, vor allem Frauen, die Leitung der Prozessionen. Zudem beschreibt Ulrike Huhn die Uneinigkeit der Führungsspitze, welche selten zu einer einheitlichen Position kam und keinen rechten Umgang mit der Ausübung religiöser Praktiken wusste.

Insgesamt ist Ulrike Huhns Dissertation vor allem wegen der vielen bisher unbekannten Details sowie der neuen Herangehensweise an das Thema eine sehr bemerkenswerte Veröffentlichung. Doch auch die Sprache und die Struktur der Arbeit lassen keine Wünsche offen. Sie versteht es, den Leser über die Seiten zu tragen und ihn auf herausragend gut recherchierter Basis zu unterhalten. Unbedingt lesen!

Steffi Keil, Leipzig

Zitierweise: Steffi Keil über: Ulrike Huhn: Glaube und Eigensinn. Volksfrömmigkeit zwischen orthodoxer Kirche und sowjetischem Staat 1941 bis 1960. Wiesbaden: Harrassowitz, 2014. 363 S., 19 Abb. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 81. ISBN: 978-3-447-10103-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Keil_Huhn_Volksfroemmigkeit.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2016 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Steffi Keil. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.