Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Stefan Karner

 

Gisela Schwarze (Hrsg.) Die Sprache der Opfer. Briefzeugnisse aus Russland und der Ukraine zur Zwangsarbeit als Quelle der Geschichtsschreibung. Essen: Klartext Verlag, 2005. 331 S., zahlr. Abb. ISBN: 3-89861-484-0.

Etwa 13,6 Millionen ausländische Arbeitskräfte wurden in der Zeit von 1939 bis 1945 zum Arbeitseinsatz ins „Dritte Reich“ verbracht, davon waren zirka 8,4 Millionen aus den von der Deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten verschleppte zivile Zwangsarbeiter. Etwa 2,8 Millionen kamen aus Gebieten der ehemaligen UdSSR. In den letzten zehn Jahren wurde eine Fülle an wissenschaftlicher Literatur zum Thema „Zwangsarbeit im Dritten Reich“ publiziert; erwähnt seien die Arbeiten von Ulrich Herbert über „Fremdarbeiter‟, von Mark Spoerer über „Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz‟ und von Stefan Karner / Peter Ruggenthaler über „Zwangs­arbeit in der Land- und Forstwirtschaft auf dem Gebiet Österreichs‟. Bei vielen Publikationen handelt es sich um Detailstudien, die sich mit dem Phänomen „Zwangsarbeit“ in einer Stadt, einem Gebiet oder einem bestimmten Wirtschaftsbetrieb befassen. Die vorliegende Studie von Gisela Schwarze entstand aus einem ähnlichen Bestreben heraus: Die Aufarbeitung des Zwangsarbeitereinsatzes im Raum Münster während des Zweiten Weltkrieges. Im Zuge der Recherchen nahm die Autorin mit etwa 700 Betroffenen aus der ehemaligen Sowjetunion Briefkontakt auf und bat sie, ihr in Briefform ihre Schicksale zu schildern. Sie erhielt daraufhin an die 340 Antwortschreiben mit Schilderungen ihrer Erfahrungen und Erlebnisse während ihres Zwangsarbeitseinsatzes. Erzählungen zu den Verschleppungen, den Transporten nach Deutschland und den Arbeits- und Lebensbedingungen am Arbeitsort finden sich ebenso wie Berichte zum Prozess der Repatriierung und der Behandlung der Heimgekehrten als „Vaterlandsverräter“ und „Menschen zweiter Klasse“.

Eine Auswahl dieser Briefe bildet den Kern der vorliegenden Publikation. Aus ihnen ergibt sich ein sehr kompaktes und umfangreiches Bild der Lebensumstände der Zwangsarbeiter aus Osteuropa. Erlebnisberichte sind zwar zweifellos eine sehr interessante Quelle, sie bedürfen aber einer besonders sorgfältigen Quellenkritik, handelt es sich doch um die Sichtweisen und Interpretationen einzelner Personen, deren Erlebnisse noch dazu mehrere Jahre zurückliegen. Durch die zeitliche Distanz zwischen ‚Erlebtem‛ und ‚Erzähltem‛ ergeben sich natürlich Unschärfen, die bei der Auswertung solcher Quellen berücksichtigt werden müssen. Ein methodischer Ansatz, dessen sich auch Schwarze in ihrem Buch bedient, besteht im Sammeln einer möglichst großen Anzahl von ‚Erlebnisberichten‛ und der Auswertung zu bestimmten Fragestellungen, um ein möglichst vielfältiges und ausdifferenziertes Bild zu erhalten.

In dem Dokumentieren persönlicher Schicksale und der thematischen Gliederung des ‚Erzählten‛ liegt auch eine der Stärken des vorliegenden Buches. Die Darstellung nimmt die lebensgeschichtlichen Erinnerungen der ehemaligen Zwangsarbeiter in den Fokus. Zur geschichtswissenschaftlichen Erläuterung dienen Kapiteleinleitungen und kurze Begleitkommentare. Bei der Lektüre fällt allerdings auf, dass die Erläuterungen zu den in den Briefen angesprochenen Themen und Wahrnehmungen leider zum Teil Fragen offen lassen. So greift die Autorin etwa im Kapitel „Der Arbeitseinsatz in Haushalt, Handwerk und Gewerbe“ (S. 68–80) das Thema „Kontakt zwischen ‚fremdvölkischen‘ Arbeitskräften und einheimischer Bevölkerung“ auf, geht dabei aber nicht auf die zu diesem Zweck gefassten Beschlusspakete („Polenerlasse“, „Ostarbeitererlasse“) ein. Eine kurze Abhandlung zu den „Polenerlassen“ findet sich zwar im thematischen Einleitungskapitel auf Seite 16, die „Ostarbeitererlasse“ allerdings werden an keiner Stelle des Buches erläutert.

Die thematische Gliederung der Untersuchung nach der Art des Arbeitseinsatzes (Landwirtschaft, Industrie, Gewerbe, Reichsbahn etc.) bzw. nach Themen (Verhaftung, Bestrafung, „Befreiung“ und Repatriierung usw.) erscheint im Hinblick auf die verwendete wissenschaftliche Methode, die Schreiben der Zwangsarbeiter mit ihren Lebenserinnerungen in den Vordergrund zu stellen, sehr gut und sinnvoll. Sie erleichtert den Überblick über die im Buch geschilderten Fälle und vermittelt ein gutes Bild davon, wie sich die Lebensumstände und die Arbeitsbedingungen in den einzelnen Wirtschaftszweigen unterscheiden konnten.

Einen besonderen inhaltlichen Schwerpunkt legt die Autorin hierbei neben der Rüstungsindustrie auf die Zwangsarbeit bei der Deutschen Reichsbahn, unter anderem deshalb, weil diese Thematik, wie die Autorin korrekt anmerkt, noch kaum Eingang in die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas ‚Zwangsarbeit‛ gefunden hat (S. 205). Die von Schwarze gesammelten Briefe bieten einen interessanten Einblick in diese in vielen Aspekten noch aufzuarbeitende Thematik. (Zu nennen wäre hier nur eine aktuelle Publikation von Ralf Roth Wenn sich Kommunikations- und Transportsysteme in Destruktionsmittel verwandeln. Die Reichsbahn und das System der Zwangsarbeit in Europa, in: Ralf Roth [Hrsg.] Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2009, S. 235–260).

Ebenfalls viel Platz widmet die Autorin dem Schicksal der nach 1945 in die UdSSR zurückgekehrten Zwangsarbeiter – ein Thema und ein Umstand, den Pavel Poljan (Zertvy dvuch diktatur. Moskva 2002) sowie Walter M. Iber und Peter Ruggenthaler (Hitlers Sklaven – Stalins Verräter. Innsbruck, Wien 2010) als „Opfer zweier Diktaturen“ beschrieben haben. Was mit dieser Formulierung gemeint ist, wird anhand der abgedruckten Briefe, insbesondere in Kapitel 4.8 (S. 287–298), deutlich. Ehemalige Zwangsarbeiter, die zum Großteil aus der heutigen Ukraine stammten, berichten von den Demütigungen im Laufe der „Filtration“ durch den NKVD im Zuge der Heimkehr und von der Benachteiligung an ihrem Wohnort. Vielen war es versagt, ihre durch den Arbeitseinsatz unterbrochene Ausbildung fortzusetzen bzw. eine Hochschule oder Universität zu besuchen, auch bei der Arbeitsplatzsuche haftete ihnen der Ruf eines „Verräters“ an. Dabei fällt der Blick auf bis in die postsowjetische Zeit reichende Konsequenzen in Form von geringeren Pensionszahlungen, daraus resultierender Armut sowie gesundheitlichen und psychischen Spätfolgen, wie vielen Briefen zu entnehmen ist. Die Benachteiligungen dieser Gruppe endeten also eindeutig nicht mit dem Ende des sowjetischen Systems und sind somit, wie die Autorin auch richtig festhält, nicht nur ein historisches, sondern auch ein aktuelles Problem (S. 298).

Ein in den Schreiben vielfach anklingender Grundtenor ist der starke Unterschied in der Behandlung der Zwangsarbeiter aus der ehemaligen Sowjetunion, unabhängig von ihrem Einsatzbereich. Die Schilderungen in den Briefen machen deutlich, dass die Behandlung in hohem Maße vom ‚Arbeitgeber‛, nämlich dessen politischen Ansichten und Charakter, abhängig war. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiter können also nicht einfach anhand der u.a. vom „Reichssicherheitshauptamt“, dem „Reichsministerium für Arbeit“ oder dem „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ Fritz Sauckel getroffenen Anordnungen und Erlässe analysiert werden. In diesen Betrachtungen ist eine viel größere alltagsgeschichtliche Differenzierung vonnöten. Die publizierten Briefe machen genau auf diesen Umstand aufmerksam, was zweifellos ein weiteres großes Verdienst des Buches darstellt, auch wenn dieser Ansatz durch die stellenweise Polemik und Verallgemeinerung der Autorin leider nicht in dem Maße weiterverfolgt wird, wie dies anhand des Quellengehalts möglich gewesen wäre.

Insgesamt bietet das Buch aufgrund seines methodischen Ansatzes und der publizierten Lebenserinnerungen von ehemaligen Zwangsarbeitern eine sehr interessante Lektüre. Die Briefe ermöglichen eine Betrachtung des Themas „Zwangsarbeit im ‚Dritten Reich‘“ über 1945 hinaus und geben den Blick auf die ‚Spätfolgen‛ dieses Phänomens frei. Sie beschäftigen sich nicht nur mit der geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung des Themas, sondern auch mit dem Schicksal dieser Gruppe von Menschen bis in die Gegenwart. Es zeigt sich, dass ehemalige Zwangsarbeiter noch immer ‚Benachteiligte‛ sind, eine ‚Bewältigung‛ der Vergangenheit bei vielen also eigentlich noch nicht stattgefunden hat. Zwar finden sich ein paar Mängel in der Editierung der Quellen und den begleitenden Kommentaren, diese schmälern allerdings nur geringfügig das Hauptverdienst des Buches: Die Dokumentation der Lebensgeschichten ehemaliger Zwangsarbeiter, also die Opfer selbst „sprechen zu lassen“ – ein Versprechen, dass Schwarze im Titel ihres Buches gibt und auch hält.

Stefan Karner, Graz

Zitierweise: Stefan Karner über: Gisela Schwarze (Hrsg.) Die Sprache der Opfer. Briefzeugnisse aus Russland und der Ukraine zur Zwangsarbeit als Quelle der Geschichtsschreibung. Klartext Verlag Essen 2005. ISBN: 3-89861-484-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Karner_Schwarze_Sprache_der_Opfer.html (Datum des Seitenbesuchs)

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