Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 267-269

Verfasst von: Tomasz Kargol

 

Galizien. Peripherie der Moderne – Moderne der Peripherie? Hrsg. von Elisabeth Haid / Stephanie Weisman / Burkhard Wöller. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2013. VIII, 216 S., Tab., Abb. = Tagungen zur Ostmitteleuropaforschung, 31. ISBN: 978-3-87969-379-5.

Das rezensierte Buch versammelt die Ergebnisse eines Workshops zum Thema Galizien. Peripherie der Moderne – Moderne der Peripherie?, die im November 2011 an der Wiener Universität im Rahmen des Doktoratskollegs Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe stattfand.

Die Autoren des Sammelbandes, zum größten Teil junge Historiker, stammen aus verschieden Staaten (darunter auch aus der Ukraine und aus Österreich) und haben verschiedene Forschungsinteressen, die mit ihren laufenden Dissertationsvorhaben im Zusammenhang stehen. Der Leser hat es mit einem interdisziplinären Werk zu tun, das historische Forschungen (z.B. aus der Wirtschaftsgeschichte, der Militärgeschichte, der jüdischen Geschichte und Kultur, der Historiographie) und andere Forschungsgebiete wie Literaturgeschichte und Kulturwissenschaften integriert. Bei aller thematischen und methodischen Vielfalt verbindet sie die Frage, ob Galizien als Provinz und später als Kronland Österreichs (seit 1867 Österreich-Ungarn) im 19. Jahrhundert von deren Modernisierungsprozessen abgeschnitten war oder als periphere Provinz der Habsburgermonarchie zu gelten hat.

Der Band besteht aus einem Vorwort, zwei Einführungsartikeln und zwölf Aufsätzen, die auf vier Kapitel verteilt sind. Alois Woldan schildert im Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buches. In der von den drei Herausgebern verfassten Einführung wird die Fragestellung des Buches dargelegt, eine kurze Charakteristik der einzelnen Artikel im vor dem Hintergrund unseres Wissens zu Thema Galizien geboten und in die Quellen‑ und Forschungslage eingeführt. Darauf folgen noch „Einführende Überlegungen“ von Moritz Csáky unter dem Titel Moderne-Peripherie-Mehrdeutigkeiten. Dieser Artikel legt den Diskurs über Begriffe wie Fortschritt und Rückständigkeit, Zentrum und Peripherie von der globalen Ebene auf diejenige Mittel- und Osteuropas und weiter auf die der Habsburger-Monarchie und schließlich Galiziens um.

Das erste Kapitel des Hauptteils unter dem Titel Galizien in Diskursen über die Moderne umfasst vier Texte über einen vielfältigen Themenkreis. Nadja Weck stellte die These auf, dass der neue Bahnhof in Lemberg ein Symbol für die Bedeutung der Eisenbahnlinien für die Entwicklung der modernen Stadt im 19. Jahrhundert war. In ihrem Text behandelt sie die Geschichte des Baus der Eisenbahnlinie nach Lemberg, der Errichtung des ersten, nicht mehr bestehenden Lemberger Bahnhof und der Entstehung des zeitgenössischen Bahnhofs, der 1904 feierlich geöffnet wurde. Die Autorin richtet ihr Augenmerk auf die Eröffnungsfeier des neuen Bahnhofs und die Presseberichterstattung darüber, leider aber beschränkt auf nur auf eine Zeitung, den Kurier Lwowski. Tatsächlich hat über diese Festlichkeit die ganze galizische Presse geschrieben. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Bau und Modernisierung von Bahnhöfen in den galizischen Städten ein wesentlicher Teil der Modernisierung der Infrastruktur. Neue Bahnhöfe, die bis heute im Betrieb sind, entstanden auch in Bochnia (1906–1908) und in Tarnów (1906–1919). Zugleich wurden andere Bahnhöfe umgebaut und modernisiert, z.B. in Krakau (1869–1871, 1892–1894, 1920), in Przemyśl (1895) und in Rzeszów (1908). Im Galizien des 19. Jahrhundert drehte sich die Debatte über Fortschritt und die Rückständigkeit nicht nur um aktuelle Fragen, sondern auch um die Vergangenheit. An diesem Diskurs beteiligte sich auch die Geschichtsforschung, z.B. in Form von Kontroversen über das mittelalterliche galizisch-wolhynische Fürstentum (Fürstentum Halyč-Volyn’). Burkhard Wöller hebt hervor, dass die polnische Forschung die Entwicklung des Territoriums des Fürstentums Halyč-Volyn’ mit der Annektierung durch Polen im 15. Jahrhundert in Zusammenhang brachte. Auf der anderen Seite haben ukrainische Historiker diese These vehement zurückgewiesen und den hohen Entwicklungsstand des Fürstentums vor der polnischen Annexion hervorgehoben. Bis 1914 Jahre wurde Galizien teils zutreffend, teilweise klischeehaft, als rückständiges Land, als „Halb-Asien“ und nicht als Teil Westeuropas angesehen. Die ‚Aufhellung‘ des Bildes Galiziens begann währender des Ersten Weltkriegs. Darauf weist Elisabeth Haid in ihrem Artikel unter dem signifikanten Titel Galizien: ,Östliche Peripherie‘ oder ‚Bollwerk des Westens‘? Mediale Darstellungen von ,Rückständigkeit‘ und ,Modernität‘ im Ersten Weltkrieg hin. In den Jahren 1914–1918 wurde Galizien in der österreichischen Presse, in der Publizistik und in den Erinnerungen als Entwicklungsland angesehen, das zur westlichen Zivilisation gehörte und durch die russische Invasion gefährdet war. Man schrieb über die Bewahrung, den Nachkriegswiederaufbau und sogar über die Modernisierung Galiziens. Der letzte Artikel des ersten Teiles ist der Vision der Modernisierung der Peripherien von Leopold Sacher-Masoch gewidmet. Die Autorin, Stephanie Weismann, unternimmt eine Neuintepretation der Stellung der ukrainischen Bauern aus Ostgalizien im literarischen Werk und in der Gedankenwelt von Sacher-Masoch. Frau Weismann stellt die wichtigsten Thesen des Autors der Venus im Pelz heraus. Die Bauern als die starke Gemeinschaft können sich dem Individualismus des Westens entgegenstellen. Die Bauern als die vitale Gemeinschaft können die anachronistische und vom polnischen Adel repräsentierte Vergangenheit ersetzen. Die Bauern können die Stütze der Monarchie in der Zukunft werden.

Das zweite Kapitel konzentriert sich auf das Thema Galizien im Zeichen der Modernisierung. Lesya Ivasyk formuliert die These vom „Modernisierungspotenzial“ der Revolution von 1846 für die polnischen Gebiete (Krakauer Aufstand, Bauernrevolte gegen den polnischen Adel in Galizien). Weiter behandelt die Autorin den Einfluss der Revolution von 1846 auf die Veränderungen in der österreichischen Monarchie (z.B. die Modernisierung der Polizei) und auf die Neuausrichtung des Programms der polnischen Revolutionäre (Vorbereitung der Bauern auf den Volksaufstand gegen Russland, Österreich und Preußen). Serhij Choliy untersucht den Zusammenhang zwischen den Armeereformen in Österreich-Ungarn in den Jahren 1867–1914 und den Karrierechancen der galizischen Rekruten (z.B. Hebung des Bildungsstandes, Militär-Karriere, Karriere in der Zivilverwaltung oder im Bildungswesen nach Beendigung der Wehrdienstzeit). Choliy hat eine gediegene Arbeit vorgelegt, aber er verwechselt Krzysztof Baczkowski mit (richtig) Michał Baczkowski als Autor der Monographie Pod czarno-żółtymi sztandarami. Galicja i jej mieszkańcy wobec austro-węgierskich struktur militarnych 1868-1914 (S. 109, Anm. 2). Boerries Kuzmany präsentiert ein Projekt für eine Wahlordnung in Galizien aus den Jahren 19131914 als Versuch der Modernisierung des Wahlsystems und des polnisch-ukrainischen Ausgleichs. Kuzmany behandelt den politischen Hintergrund dieser Reform und und deren wichtigste gesellschaftliche und nationale Ziele: die Erhöhung der Zahl der Wahlberechtigten und eine Verstärkung der ukrainischen Vertretung im galizischen Landtag.

Das dritte Kapitel mit dem Titel Galizien, Kaleidoskop moderner Ideologien und Identitätskrisen besteht aus drei Artikeln, die den Diskurs über Modernisierung und Fortschritt behandeln, der in Galizien im 19. Jahrhundert geführt wurde. Lyubomyr Borakowskyy behandelt die Vorstellungen der ukrainischen Schriftsteller Ivan Franko und Osyp Makovey von der Rolle der griechisch-katholischen Geistlichkeit für den Modernisierungsprozess in Galizien. Katharina Krčal diskutiert das Motiv der Zerrissenheit des galizischen Judentums zwischen Tradition und Moderne in den Werken des jüdisch-deutschen Schriftstellers Moritz Rappaport, besonders in seinem Gedicht Bajazzo. Und Anna Krachkovska beleuchtet das Bild der Juden in der Vorstellungswelt von ostgalizischen Bauern und Intellektuellen.

Das letzte Kapitel, Galizien als postmoderner Erinnerungsraum, bilden zwei Artikel über den Rückblick auf Galizien durch spätere Generationen. Marianne Windsperger behandelt das Bild des Schtetls und der Emigration der Juden aus Galizien in die USA im literarischen Werk von Dary Horn und Rebecca Goldstein. Anna Susak untersucht die Stellung Galiziens in der zeitgenössischen polnischen und ukrainischen Presse (behandelte Probleme, Niveau des Interesses anhand der Anzahl der Artikel). Beide Texte sind nicht als Beiträge zur Geschichte, sondern zu Literaturgeschichte, zur historischen Anthropologie und zur Presseforschung zu klassifizieren.

Tomasz Kargol, Kraków

Zitierweise: Tomasz Kargol über: Galizien. Peripherie der Moderne – Moderne der Peripherie? Hrsg. von Elisabeth Haid / Stephanie Weisman / Burkhard Wöller. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2013. VIII, 216 S., Tab., Abb. = Tagungen zur Ostmitteleuropaforschung, 31. ISBN: 978-3-87969-379-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kargol_Haid_Galizien.html (Datum des Seitenbesuchs)

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