Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 464-466

Verfasst von: Tomasz Kargol

 

Jörg Ganzenmüller: Russische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772–1850). Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2013. 425 S. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 47. ISBN: 978-3-412-20944-5.

Die Monografie von Jörg Ganzenmüller beschreibt eine umfassende Problematik, sowohl geographisch als auch chronologisch. Behandelt wird der ganze Teil des Territoriums der polnischen Adelsrepublik, der in der Jahren 1772, 1793 und 1795 an Russland angegliedert wurde. Es ist in der Tat sehr zu begrüßen, dass der Autor sein Thema nicht auf eine Teilregion begrenzt hat. Auch der chronologische Rahmen (1772–1850) steht außer Zweifel. Das erste Datum (1772) ist klar – die erste Teilung Polens. Die Auswahl des zweiten Datums (1850) wurde von dem Autor logisch begründet. In der polnischen Historiographie gelten zwar ausschließlich die Daten der großen Aufstände gegen das Zarenreich (Novemberaufstand 1830/31 und Januaraufstand 1863/64) als die chronologischen Zäsuren für die Geschichte Polens im 19. Jahrhundert. Jörg Ganzenmüller kommt von den obigen Daten ab und argumentiert, dass der Prozess der Integration der polnischen Ostgebiete (Kresy Wschodnie) in das Russländische Reich nach der Niederschlagung des Novemberaufstandes bis ungefähr zum Jahr 1850 gedauert haben.

Das Buch besteht aus drei Kapiteln. Im ersten Kapitel Zwischen Elitenkooptation und Staatsausbau: die Integration des polnischen Adels in die autokratische Ordnung des Zarenreiches stellt der Autor die Etappen der Integration der ehemaligen polnischen Gebiete und des dortigen polnischen Adels chronologisch vor. Ganzenmüller interpretiert die Politik von Katharina II. gegenüber dem polnischen Adel, vor allem gegenüber dem unbegüterten Adel, im Westen des Staates nicht als polenfeindliche Nationalitätenpolitik, sondern als Sozialpolitik und als Element staatlicher Reformen. Er zeigt, dass in dieser Zeit in ganz Europa, auch in Polen während des Vierjährigen Reichstags (Sejm Czteroletni) in den Jahren 1788–1792, die Privilegien der besitzlosen Adligen beschnitten wurden. Ganzenmüller sichtet sodann die Wandlung der zarischen Politik gegenüber dem polnischen Adel in der Zeit der napoleonischen Kriege. Für Alexander I. hatte sich die Adelsfrage im Westen des Imperiums zum Problem der polnischen Nation verwandelt. Dieser Wechsel der Perspektive ist notwendig und begründet, weil nur der Adel in Polen am Anfang des 19. Jahrhunderts nationalbewusst war und nur er die Wiedererlangung der Unabhängigkeit des polnischen Staates anstrebte. Ganzenmüller schreibt richtig, dass Polen in den Jahren 1805–1815 die Hoffnung auf die Wiedererrichtung des eigenen Staates entweder mit Napoleon I. (durch die Vereinigung des Großherzogtums Warschau mit den russischen Teilungsgebieten) oder mit Alexander I. (beispielsweise die Pläne von Fürst Adam Jerzy Czartoryski) verband. Als nächsten Wendepunkt in der Politik Russlands gegenüber dem polnischen Adel identifiziert Ganzenmüller den Ausbruch des Novemberaufstandes. Zar Nikolaus I. hatte die Integrationspolitik im Westen verstärkt und den Prozess der Adelsrevision zum Abschluss gebracht.

Das zweite Kapitel Von der ständischen Korporation zur „staatlichen Veranstaltung“? Die Transformation der polnischen Landtage in russische Adelsversammlungen ist den Adelsversammlungen (sejmiki) gewidmet. Am Anfang steht eine chronologische Darstellung der Politik der zarischen Behörden und Gesetzgebung im Bereich der Repräsentationsorgane des Adels in den westlichen Provinzen im Zeitraum von Katharina II. bis Nikolaus I. Der Autor hebt die Änderung des Wahlrechtes und die Einführung eines Wahlzensus hervor. Sodann untersucht Ganzenmüller die Beteiligung des Adels an den Wahlen und die Wahlverfahren (Zeit, Ort und Zeremonien, die Rolle des Gouverneurs). Seiner Meinung nach entwickelten sich die Adelsversammlungen von ständischen Vertretungen (der adelige Selbstverwaltung) zu staatlichen Veranstaltungen (unter Aufsicht der Behörden). Die staatlichen Behörden nahmen auf die Wahlen in den Kreisen und auf die von den Adelsversammlungen angesprochenen Fragen Einfluss und lehnten von den Adelsversammlungen vorgeschlagene Kandidaten für Beamtenstellen ab. Im zweiten Kapitel unternimmt der Autor auch eine prosopographische Untersuchung über die Wahlbeamten (z.B. die Adelsmarschälle). Er stellt in seinen Tabellen unter anderem das Alter, den Besitzstand, den Bildungsstand und den Militärdienst der Wahlbeamten dar.

Das dritte Kapitel Staatsbau und Herrschaftspraxis in der Polnischen Provinz: die Etablierung der zaristischen Staatsgewalt in den Westgouvernements besteht aus drei Teilen. Im ersten wird ein allgemeiner Überblick die russische Staatsgestalt in den westlichen Provinzen (Strukturen, Menschen, Pflichten) gegeben. Der zweite Teil ist den höchsten staatlichen Beamten – den Generalgouverneuren und den Gouverneuren – gewidmet. Der Autor skizziert ihre Kollektivbiographie wie auch Lebensläufe und Karrieren der einzelnen Personen in Militär und Zivilverwaltung. Auch die Tätigkeit der Gouverneure wird nicht ausgeklammert. Die Verwaltungsgebäude (die Sitze der Gouverneure) sind die Symbole ihrer Herrschaft in der polnischen Provinz. Als aufschlussreich sieht der Autor die komplizierten Beziehungen zwischen der russischen Verwaltung und dem polnischen Adel an. Die Adelsgesellschaft und die Beamten arbeiteten beim Ausbau des Postwesens und von Straßen und Brücken zusammen. Einen zweiten Bereich von Konvergenz zwischen russischem Staat und polnischem Adel bildete der soziale Bereich: die Einrichtung und Unterhaltung von Schulen, Krankenhäusern, Armenhäusern, öffentlichen Parks. Auf der anderen Seite beteiligte sich der polnische Adel nur widerwillig an der Errichtung von Denkmälern, wenn die Initiative bei den Gouverneuren lag. Beispiele solcher Konflikte zwischen Gouverneuren und Adelsmarschällen werden eingehend analysiert.

In seiner Zusammenfassung vergleicht der Autor die Formen der Integration der anderen westlichen Provinzen (Ostseeprovinzen, Finnland, Bessarabien) ins russische Imperium und die Politik Preußens und Österreichs gegenüber dem polnischen Adel.

Die Monografie von Jörg Ganzenmüller beruht auf einer breiten Basis von Quellen und der Forschungsliteratur. Der Autor hat Quellen  aus russischen, litauischen, weißrussischen und ukrainischen Archiven sowie Dokumentensammlungen, Tagebücher und Memoiren genutzt. Er kennt sich gut in der westeuropäischen, amerikanischen und russischen Forschung aus. Die Publikation ist voluminös (425 Seiten), aber Komposition und Darstellung sind sehr klar. Der Autor wendet dabei ein sehr anschauliches Verfahren an. Zunächst werden die einzelnen Probleme zusammenfassend dargestellt und anschließend durch Beispiele erläutert. Jedes Kapitel hat eine kurze Zusammenfassung, was zu den unbestreitbaren Stärken dieser Arbeit gehört. Zu den Schwächen zählt zum Einen, dass der Autor die polnische bzw. polnischsprachige Forschungsliteratur nicht genügend rezipiert. Überwiegend verwendet er ins Deutsche übersetzte Artikel und Bücher. An dieser Stelle können leider nicht alle im Literaturverzeichnis fehlenden Publikationen aufgezählt werden. Zweitens hat der Autor keine Recherchen in polnischen Archiven angestellt. Beispielsweise befinden sich im Nationalarchiv in Krakau als wichtige Quellen zur Thematik des rezensierten Buches die Nachlässe von Familien aus den polnischen Ostgebieten, die das Zarenreich im 18. Jahrhundert annektierte (namentlich der Familien Sanguszko, Chodkiewicz, Sopoćko).

Tomasz Kargol, Krakau

Zitierweise: Tomasz Kargol über: Jörg Ganzenmüller: Russische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772–1850). Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2013. 425 S. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 47. ISBN: 978-3-412-20944-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kargol_Ganzenmueller_Russische_Staatsgewalt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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