Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), 4, S. 665-666

Verfasst von: Klemens Kaps

 

Isabel Röskau-Rydel: Zwischen Akkulturation und Assimilation. Karrieren und Lebenswelten deutsch-österreichischer Beamtenfamilien in Galizien (1772–1918). München: De Gruyter Oldenbourg, 2015. 552 S., 28 Abb., 2 Ktn., Tab. = Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 55. ISBN: 978-3-11-034378-6.

Die zwischen 1772 und 1918 habsburgisch beherrschte Region Galizien avancierte in den vergangenen Jahren zu einem fruchtbaren Forschungsfeld, um Identitätsformierung und Interkulturalität in einer multikulturellen Region zu untersuchen. Die Krakauer Historikerin Isabel Röskau-Rydel beleuchtet in ihrem Buch über Karrieren und Lebenswelten deutsch-österreichischer Beamtenfamilien in Galizien zwischen 1772 und 1918 einen traditionell eher wenig beachteten Aspekt des multikulturellen Panoramas des habsburgischen Kronlands.

Den Ausgangspunkt der Untersuchung stellt dabei die Infragestellung von zwei Topoi der polnischen Forschung zu Galizien dar – nämlich erstens, dass die neue habsburgische Provinz nach 1772 „germanisiert“ worden sei (S. 14–15), und zweitens, dass die „polnische Mutter“ (Matka Polka) in deutsch-polnischen Familien eine Schlüsselrolle bei der Assimilation der nachkommenden Familienmitglieder an die polnische Kultur spielte (S. 19). Um der Frage der kulturellen Identität der ab 1772 nach Galizien versetzten deutschsprachigen Beamten nachzugehen, bedient sich die Autorin methodisch einer sozial, politisch und kulturell fundierten Biografiegeschichte und entwickelt ihr Argument anhand von zehn Beamtenfamilien, deren kulturelle Verortung über mehrere Generationen hinweg verfolgt wird.

Theoretisch rekurriert Röskau-Rydel wie sie in der Einleitung darlegt, auf eine anregende Auseinandersetzung mit soziologischen und kulturanthropologischen Theorien zu Akkulturation und Assimilation, wobei erstere die Übernahme und Integration fremder kultureller Elemente (wie das Erlernen einer Sprache oder konfessionelle Konversion) bezeichnet, letztere als vollkommene Anpassung an eine fremde Kultur gilt. In den Mittelpunkt stellt die Autorin dabei ein Generationenmodell, wonach ein gradueller Übergang von Akkulturation zu Assimilation über die Generationen hinweg zu beobachten sei (S. 29–37).

Die weiteren Kapitel folgen diesen Leitlinien und versuchen herauszufinden, wie Akkulturations- und Assimilationsprozesse innerhalb der zehn vorgestellten Beamtenfamilien verliefen. Dabei wird über das eigentliche Sample an Biografien hinausgegangen und in Kapitel 2 („Galizien unter österreichischer Herrschaft“) nicht nur in die allgemeinen politischen und administrativen Gegebenheiten Galiziens eingeführt, sondern es werden auch die komplexen Interaktionen zwischen der adeligen polnischen Elite und der habsburgischen Bürokratie thematisiert. Die Autorin argumentiert überzeugend gegen einen simplen Gegensatz zwischen Beamtenschaft und Adel und verweist auf Foren des kulturellen Austauschs, beispielsweise Salons (S. 98), oder auf gemeinsame Projekte des intellektuellen Lebens wie die Gründung von Zeitungen (S. 101–102). Auch die Teilnahme einer Reihe von Beamtensöhnen am Novemberaufstand 1830/31 spricht für den fluiden Charakter kultureller Identitäten.

In Kapitel 3 wird die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Beamten thematisiert. Apologetische Selbstvergewisserung wechselte mit kritischen Blicken auf die eigene Tätigkeit, während umgekehrt von polnischer Seite die Beamten oft stereotyp wahrgenommen werden. Die Autorin setzt einen dem historiografischen Trend der vergangenen Jahre zuwiderlaufenden Akzent, wenn sie darauf verzichtet, die negative Wahrnehmung der galizischen Gesellschaft durch die neu ins Land kommenden habsburgischen Beamten speziell in der Anfangszeit entsprechend in der Analyse zu thematisieren, wie dies in den Arbeiten Larry Wolffs, Hans-Christian Maners oder Iryna Vushkos geschieht. Auch wenn der Neuigkeitswert solcher Darstellungen begrenzt wäre, so hätte eine Berücksichtigung dieser Form des imperialen Diskurses die ablehnende Haltung der polnischen Eliten gegenüber den deutschsprachigen Beamten erhellen können.

In Kapitel 4, dem eigentlichen Hauptkapitel, werden die Biografien der zehn Beamtenfamilien von Baum von Appelshofen bis Wachholz vorgestellt und deren Akkulturations- und Assimilationsprozesse beleuchtet. Dabei überlappen sich die einzelnen Familiengeschichten teilweise in produktiver Weise. Deutlich wird dabei die Vielfältigkeit der möglichen Identitäten, die sich nicht auf eine lineare Anpassung an die polnische Kultur beschränkten, sondern auch eine Anpassung an die deutsche Kultur selbst noch nach 1867 bedeuten konnten.

Kapitel 5 fasst die Ergebnisse zusammen und streicht erneut heraus, dass die Akkulturationsprozesse der Beamtenfamilien nach 1772 entgegen den politischen Machtverhältnissen, d. h. von der deutschen zur polnischen Kultur, verliefen. Zudem weist die Autorin die Behauptung der polnischen Historiografie zurück, wonach eine Versetzung von Beamten nach Galizien eine „Degradierung“ bedeutet hätte und deshalb relativ schlecht ausgebildetes Personal den galizischen Verwaltungsapparat dominiert hätte (S. 435). Nicht zuletzt rückt die Autorin überzeugend den eingangs erwähnten Topos von der „polnischen Mutter“ zurecht und betont die Relevanz von Schule und beruflichem Umfeld für den Identitätswandel (S. 439, 456). Dabei wird hervorgehoben, dass sich die Beamten vorwiegend an die polnische Elitenkultur anpassten, während die umgekehrte Beeinflussung zwar erwähnt, aber in die Interpretation nicht eigens einbezogen wird (S. 445). Eingebettet werden diese Ergebnisse in das eingangs erwähnte Generationenmodell, wonach die erste Generation sich akkulturierte, in der zweiten Generation Akkulturation und Assimilation als Optionen zur Auswahl standen und in der dritten (oder einer nachfolgenden) Generation die eigentliche Assimilation vollzogen wurde.

Röskau-Rydels Studie setzt neue Akzente für die Geschichte Galiziens, indem sie den makrohistorischen Übergang von der zentral verwalteten Provinz zum dezentralisierten Kronland auf der Mikroebene verortet und einen wichtigen Beitrag zu den interkulturellen Beziehungen der Region liefert. Auffallend ist, dass die Studie ohne das Hybriditätskonzept auskommt, obwohl sich einige Fälle wie jene von Fryderyk Zoll (S. 241–242), der Familie Dietl (S. 269–270) und von Antoni Wachholz (S. 418–426) dafür geradezu anbieten würden, da die handelnden Personen zwischen zwei Kulturen oszillierten und von beiden Gebrauch machten, je nach den gesellschaftlichen und kulturellen Erfordernissen. Hier scheint eine einseitige Entscheidung zugunsten einer Kultur, wie sie sich im Akkulturations- und im Assimilationsbegriff widerspiegelt, zu kurz zu greifen. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach den Auswahlkriterien der zehn Familien – ließen sich auch andere Beispiele von Familien finden, in denen die (stärkere) Beibehaltung der deutschen Kultur gepflegt wurde und die nach 1867 aus Galizien abwanderten?

Insgesamt handelt es sich um ein akribisch recherchiertes, auf breiter Quellenbasis stehendes und kohärent strukturiertes Buch, das nicht nur die Geschichte Galiziens um eine wichtige Facette bereichert, sondern eine neue Perspektive für die Erforschung von nationalen Identitäten im östlichen Europa anbietet.

Klemens Kaps, Wien

Zitierweise: Klemens Kaps über: Isabel Röskau-Rydel: Zwischen Akkulturation und Assimilation. Karrieren und Lebenswelten deutsch-österreichischer Beamtenfamilien in Galizien (1772–1918). München: De Gruyter Oldenbourg, 2015. 552 S., 28 Abb., 2 Ktn., Tab. = Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 55. ISBN: 978-3-11-034378-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kaps_Roeskau-Rydel_Zwischen_Akkulturation_und_Assimilation.html (Datum des Seitenbesuchs)

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