Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 167-168

Verfasst von: Kristina Kaiserová

 

Handbuch der Religions- und Kirchengeschichte der böhmischen Länder und Tschechiens im 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Martin Zückert. München: Oldenbourg, 2009. XXXIV, 950 S. ISBN: 978-3-486-58957-3.

Die Kirchengeschichte setzt sich als modernes Forschungsthema mit den entsprechenden Themen, Fragestellungen und Methoden nach der Wende in der tschechischen Geschichtswissenschaft nur langsam durch. Viele Themen werden im Land selbst erstmals diskutiert, die gesamte Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern musste neu konzipiert und geschrieben werden. Zeitgeschichte diente in vielen Fällen eher zur Äußerung dringender subjektiver Gefühle als zur möglichst objektiven Aufarbeitung einer geschichtlichen Materie. Schon in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre entstand im Umkreis von Historikern, die sich im engeren oder weiteren Sinn mit Kirchengeschichte beschäftigten, die Idee eines Handbuches zur Kirchengeschichte der böhmischen Länder vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Dieses sollte unter der Schirmherrschaft des Historischen Instituts der Tschechischen Akademie der Wissenschaften vorbereitet werden, was leider scheiterte. Das hier vorgestellte Handbuch kann aber als ein wichtiger Schritt zur Erreichung dieses Zieles verstanden werden.

Das Handbuch der Religions- und Kirchengeschichte entstand in Kooperation tschechischer und deutscher Experten und beschreibt nicht nur das konfessionelle Leben. Es ist in einen breiten gesellschaftlichen Kontext eingebettet worden. Das Handbuch bleibt nicht auf das 20. Jahrhundert beschränkt. Der erste Teil richtet in vielen Texten den Blick logischerweise zurück auf die Lage im 19. Jahrhundert.

Die Gliederung des Handbuches besteht aus drei Ebenen. Nach dem Vorwort folgt die umfassende, aber übersichtliche Einführung von Martin Schulze Wessel in Religion und Politik in den böhmischen Ländern und Tschechien im 20. Jahrhundert. Es folgt eine Auswahlbibliographie, die vielleicht in diesem Fall überflüssig ist, denn auf der zweiten Ebene begleiten passende Auswahlbibliographien die einzelnen Zeitabschnitte. Es folgen Beiträge über Kirchen oder konfessionelle Problematiken in verschiedenen Zeitperioden. Über die Wahl der geschichtlichen Meilensteine wäre in einem Fall zu diskutieren, ob es nicht logischer wäre, die Jahre 19381948 auf zwei Zeitabschnitte (19381945 und 19451989) aufzuteilen. Andererseits ist diese Gliederung für die Endperiode der Existenz der „deutschen Kirchen“ in Böhmen doch wiederum sinnvoll.

Wie bereits erwähnt, ist für das Verständnis der Texte zur ersten Periode 19181938 die Entwicklung der Kirchen im 19. Jahrhundert wichtig. Das wird schon in der Einleitung (Pavel Marek Verhältnis zwischen Staat und Kirchen) deutlich. Denn trotz aller Deklarationen entstand doch der neue Staat als Nachfolger der Habsburgermonarchie. Es war unmöglich, alles neu aufzubauen, und besonders die ersten Jahre sahen eine komplizierte Entwicklung, vor allem wegen der weitreichenden Veränderungsvorstellungen des Staates – in erster Linie im Verhältnis zur katholischen Kirche und der alltäglichen Realität. In diesem Kontext ist auch der zwar kurz gefasste, aber sehr illustrative Beitrag von Martin Schulze Wessel über das Entstehen und die Entwicklung der Tschechoslowakischen Kirche sehr wichtig. Der Beitrag „Die Deutsche evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien.“ (Maria Heinke-Probst) hätte etwas mehr Sorgfalt verdient. Es fehlen darin auch neuere tschechische Arbeiten zum Thema.

Die Aufsätze zur zweiten Periode 19381948 liefern solide Grundlagen zu diesem jahrelang vernachlässigten Forschungsthema. Hier erweist sich die tschechisch-deutsche Kooperation besonders fruchtbar. Nur bei dem Abschnitt „Kirchliches und religiöses Leben in den an Deutschland angegliederten Territorien“ (Laura Holzwimmer) drängt sich die Überlegung auf, ob es für die sehr unterschiedlichen Regionen einen zusammenfassenden Nenner geben kann.

Der Zeitabschnitt 19481989 ist selbstverständlich außerordentlich komplex, aber ihm wurde in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit gewidmet. Trotz aller Schwierigkeit ist diese Materie in dem Sammelband sehr ausgewogen und übersichtlich ausgebreitet.

Das Kapitel „Kirchen und Religion bei den Vertriebenen Sudetendeutschen“ ist als Ergänzung, als Grundlageninformation zu verstehen; so auch die überwiegend soziologische Sonde „Religion in der Tschechischen Republik nach 1989“.

Das Handbuch ist ein ‚Ergebnis des Möglichen‘. Es stützt sich auf die älteren Forschungen der tschechischen Geschichtswissenschaft (in erster Linie aus dem Umkreis von Theologen und Kirchenhistorikern) sowie auch beispielsweise auf die wichtigen Forschungen des Instituts für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien (Königstein/Taunus). Überwiegend werden aber neue Forschungen präsentiert. Das Handbuch verweist aber selbstverständlich auch auf offenkundige Forschungslücken. Im Anhang befinden sich inhaltsreiche Statistiken, Daten und ein Register. Ob nicht zur größeren Anschaulichkeit der Informationen zu einigen Themen Karten hätten ergänzt werden könnten, ist sicher eine berechtigte Frage. Die Verfasser des Handbuches haben sich entschieden, der Übersichtlichkeit halber auf solche Ergänzungen zu verzichten. Eine Auswahl aus den hunderten relevanten Karten und anderen Unterlagen wäre eine außerordentlich schwierige Aufgabe, die zudem auch unvermeidlich Diskussionen hervorrufen würde.

Es ist ein großes Verdienst, in relativ kurzer Zeit ein so umfangreiches Werk für Fachleute wie auch für interessierte Laien vorgelegt zu haben.

Kristina Kaiserová, Ústí nad Labem

Zitierweise: Kristina Kaiserová über: Handbuch der Religions- und Kirchengeschichte der böhmischen Länder und Tschechiens im 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Martin Zückert. München: Oldenbourg, 2009. XXXIV, 950 S. ISBN: 978-3-486-58957-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kaiserova_Handbuch.html (Datum des Seitenbesuchs)

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