Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 126-127

Verfasst von: Kristina Kaiserová

 

Frontwechsel. Österreich-Ungarns „Großer Krieg“ im Vergleich. Hrsg. von Wolfram Dornik / Julia Walleczek-Fritz / Stefan Wedrac unter Mitarbeit von Markus Wurzer. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2014. 466 S., 6 Graph. ISBN: 978-3-205-79477-6.

Der Sammelband ist ein Beitrag zur breit angelegten Forschung der letzten zwei Jahre zur Geschichte des Ersten Weltkrieges und gleichzeitig ein Resümee des Projektes Erster Weltkrieg im Vergleich einer 2008 gegründeten Initiative österreichischer Historikerinnen und Historiker. In der Annotation des Buches heißt es, dass die „Autoren nicht nur die sogenannte ‚Heimatfront‘ des Ersten Weltkrieges untersuchen, sondern sie werfen gleichermaßen einen Blick auf andere Kriegsschauplätze“. Die zwanzig Beiträge versuchen allesamt die Ereignisse zwischen 1914 und 1918 in das „Lange 19. und 20. Jahrhundert“ einzubetten.

Die ersten Beiträge stellen eine methodisch-bibliographische Einleitung dar. Gerhard P. Groß untersucht in dem Text Annäherung an die „Urkatastrophe“: Vom Bild des Kriegsausbruches 1914 durch den Blick der „Fischer-Kontroverse“ die Weltkriegs-Interpretationen bis zur aktuellen Untersuchung von Christopher Clark. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf dem Handeln der Entente und Serbiens. Selbstverständlich hat auch Clark nicht das Schlusswort in der Debatte um die ‚Kriegsschuld‘. An dieser historiographischen Studie knüpft Hannes Leidinger mit einer Analyse der bei jüngeren Historikern im Trend liegenden vergleichenden Weltkriegsforschung an. Er setzt sich vorwiegend mit der Frage einer weiteren Notwendigkeit komparativer Methoden auseinander. Der dritte Text, ein mentalhistorischer Beitrag (Kriegsmentalitäten. Miszellen aus Österreich-Ungarns letztem Krieg), stammt von dem bedeutenden österreichischen Historiker Manfried Rauchensteiner, Autor des Standartwerkes Der Erste Weltkrieg (2013). Er präsentiert ein buntes Bild von Expressionen in diesem Bereich und liefert einen Vorgeschmack auf die nächsten Beiträge dieses Bandes.

Der erste Abschnitt des Sammelbandes widmet sich in dem Erleben vs. Erinnern der Kultur- und Alltagsgeschichte. Liisi Eglit vergleicht die Erfahrung österreichischer und estnischer Soldaten nach ihrer Heimkehr in die veränderten Verhältnisse, die besonders in Estland den Beginn einer dramatischen Zeit darstellen. Dass dabei ein Vergleich von west- und mitteleuropäischem Raum stattfindet, ist erfreulich. Das karitative Wirken österreichischer Ordensgemeinschaften in den Balkankriegen und im Ersten Weltkrieg interessiert Antje Bräcker. Sie untersucht die kirchlich-karitative Sicht, die staatlichen Interessen und das nationale Denken, die besonders in der Habsburgermonarchie im Brennpunkt standen. Lobenswert ist die Rückschau auf die kirchliche Tradition des 19. Jahrhundert, in der besonders auf dem Balkan die Mission der Franziskaner aktiv war.

Zu diesem thematischen Umkreis gehört auch der Beitrag von Julia Walleczek-Fritz Kontrolle durch Fürsorge. Neutrale humanitäre Organisationen und ihr Engagement für Kriegsgefangene in Österreich-Ungarn und Russland in Ersten Weltkrieg in vergleichender Perspektive. Auf der Grundlage umfangreicher Forschungen zeigt sie, dass der Erste Weltkrieg etliches zum modernen Menschenrechtsverständnis beigebracht hat. Sammeln, Dokumentieren, Erinnern? nennt Aibe-Marlene Gerdes ihre vergleichende Arbeit über Kriegssammlungen in Deutschland und Österreich. Sie beschreibt den Sammeleifer von Institutionen und Privatpersonen über „Glorreiche Heldentaten-Dokumentationen“ vor und hinter der Kriegsfront. Dies wurde in Österreich weniger ernst genommen, dafür umso mehr in Deutschland und auch in den deutsch-böhmischen Gebieten. Interessant wäre es, der Frage nachzugehen, wie sich hier die Loyalität gegenüber Franz Josef I. und Karl I. auf Deutschland und seinen Herrscher Wilhelm II. verlagerte. Für die Nachkriegszeit blieb meistens nur noch die Kraft, Kriegerdenkmäler zu bauen.

Der folgende Beitrag von Ralph Andraschek-Holzer untersucht unter anderem das Verhältnis deutsch-österreichischer Prosaautoren zu ihren slawischen Mitbürgern während des Krieges. Er konstatiert auch, dass eine Synthese österreichischer Kriegsprosa fehlt.

Der Kulturgeschichte widmet sich auch der letzte Text dieses Abschnitts von Maciej Górny: Der „Krieg der Geister“ im Osten? Górny bejaht nicht nur diese Frage, sondern er stellt auch fest, dass der „Krieg der Geister“ seine ostmittel- und südosteuropäischen Fronten hatte. Hinsichtlich ihrer Argumente und ihres intellektuellen Ranges waren sie nicht weniger bedeutend als ihre westlichen Schicksalsgenossen. Der Beitrag stellt eine gelungene Übersicht zu dieser Thematik dar.

Die Überschrift des zweiten Abschnitts lautet Selbstbestimmung vs. Fremdherrschaft. Er beschäftigt sich mit dem Thema Österreich-Ungarn als Okkupant mit all seinen Zusammenhängen. Daniel Marc Segesser zielt mit seinen Ausführungen Kriegsverbrechen? Die österreichisch-ungarischen Operationen des August 1914 in Serbien in Wahrnehmung und Vergleich auf die Analogie zwischen der Monarchie in Serbien und dem Verhalten der Deutschen in Belgien. Er stellt fest, dass nach dem Krieg die Grausamkeiten der kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan kaum ein Thema waren. In diesem Zusammenhang wird auch die Auslegung der Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung thematisiert.

Die Besatzungsherrschaften an der West- und an der Balkanfront werden auch von Heiko Brendel und Emmanuel Debruyne gegenübergestellt. Das öffentliche Interesse an den Ereignissen im Westen überstieg weit das an der Balkanfront.

Elisabeth Haid vergleicht Nationalpolitik und Kriegspropaganda Österreich-Ungarns und Russlands am Beispiel der galizischen Ruthenen. Die Autorin betont mit Recht, dass schon die Spannungen der Vorkriegszeit zwischen beiden Imperien vor allem die Volksgruppe der Ruthenen betrafen. Unter dieser Bezeichnung versteht man die Sprecher der westukrainischen Variante des Ukrainischen. Um diese von der Mehrheit der Ukrainer, die unter russischer Oberhoheit lebten, zu unterscheiden, wurde von der k. u. k. Bürokratie der Begriff „Ruthenen“ eingeführt. Im Laufe und besonders zum Ende des Krieges komplizierte sich die Lage dieser Menschen im Zusammenhang mit den sich formierenden neuen (Ukraine) oder alt-neuen (Polen) staatlichen Identitäten.

Drei Beiträge im zweiten Abschnitt stellen einen diachronen Vergleich dar. Stephan Lehnstaedt bietet in seinem Artikel Methodische Überlegungen zur Okkupation Polens im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Es ist erfreulich, dass der Verfasser dies als ein schwieriges Problem betrachtet, aber das schließt selbstverständlich eine Synthese nicht aus. Das gilt auch leicht modifiziert für den Beitrag Italian interwar administration of Slovenian ethnic territory: Italian ethnic policy von Petra Svoljšak und Bojan Godeša. Claire Morelon wirft einen Blick auf Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Räumen Böhmens im Ersten und Frankreichs im Zweiten Weltkrieg in ihrem Beitrag: A threat to national unity? The urban-rural antagonism in Prague during The First World War in a comparative perspective. Wie schon betont, sind Vergleiche zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, noch dazu in verschiedenen Ländern, eine äußerst schwieriges Unterfangen. Gut dargestellt ist aber der Antagonismus der städtischen und ländlichen Gesellschaft in Böhmen. Das gilt auch in Hinblick auf die nationalen Unterschiede zwischen den ärmeren deutsch-böhmischen und den viel reicheren tschechischen Agrargebieten, was zu Beschwerden über mangelhaften Lebensmittellieferungen führte.

Der dritte Abschnitt Militär vs. Politik beschäftigt sich mit traditionellen Themen wie Diplomatie, Armee und hoher Politik, dennoch fehlen keinesfalls komparative Aspekte. Straton N. Dordanas schreibt über Österreich-Ungarn und die Makedonische Frage während des Ersten Weltkriegs. Lothar Höbelts „Frock Coats and Brass Hats“ – Das Verhältnis von Politik und Militär im Ersten Weltkrieg stellt das Thema in einen breiten europäischen Kontext. Günter Sandner untersucht Otto Neuraths Kriegswirtschaftslehre und zeigt, welche Anwendung sie während des Krieges in der Praxis fand. Einen spannenden Lesestoff bietet der Text von Verena Moritz über Militärische Nachrichtendienste Österreich-Ungarns und Rußlands vor dem Ersten Weltkrieg – ihre Potenz und Wirkung. Der letzte Text von M. Christian Ortner ist der Entwicklung des österreichisch-ungarischen Kampfverfahrens im Ersten Weltkrieg in seiner ganzen Vielfalt gewidmet.

Der Sammelband Frontwechsel ist ein lobenswertes Projekt mit neuen Fragen im Rahmen der Erforschung des Ersten Weltkriegs. Gleichzeitig werden interessante wissenschaftliche Ergebnisse in komparativer Sicht auf der Grundlage guter Quellenanalysen vorgestellt.

Kristina Kaiserová, Ústí nad Labem

Zitierweise: Kristina Kaiserová über: Frontwechsel. Österreich-Ungarns „Großer Krieg“ im Vergleich. Hrsg. von Wolfram Dornik / Julia Walleczek-Fritz / Stefan Wedrac unter Mitarbeit von Markus Wurzer. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2014. 466 S., 6 Graph. = ISBN: 978-3-205-79477-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kaiserova_Dornik_Frontwechsel.html (Datum des Seitenbesuchs)

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