Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 280-281

Verfasst von: Kerstin Jobst

 

Jenny Alwart: Mit Taras Ševčenko Staat machen. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in der Ukraine vor und nach 1991. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. 220 S., 47 Abb. = Visuelle Geschichtskultur, 8. ISBN: 978-3-412-20769-4.

Der ukrainische Schriftsteller und Maler Taras Ševčenko (1814–1861) ist in seiner Bedeutung für die Entwicklung der ukrainischen Literatur und Schriftsprache wenigstens mit der seines Zeitgenossen Alexander Puškin im russischen Kontext zu vergleichen. Doch anders als jener, welcher auch außerhalb der russischsprachigen Welt ein Begriff ist und dessen Werk immer wieder übersetzt wird, ist Ševčenko außerhalb Osteuropas nur wenigen Eingeweihten überhaupt bekannt. So kommt es, dass die Bewohner des deutschsprachigen Raums auf die Frage nach den ihnen geläufigen Ukrainern vermutlich die boxenden Gebrüder Klyčko nennen würden oder aber den Namensvetter des Künstlers, nämlich den 1976 geborenen Fußballer Andrij Ševčenko. Und obgleich die ukrainische Literatur sich seit einiger Zeit erfreulicherweise auch bei uns eines immerhin gewissen Interesses erfreut und die Werke Jurij Andruchovyčs, Andrij Kurkovs oder Serhij Žadans regelmäßig ins Deutsche übersetzt werden, gibt es seit Jahrzehnten keine Neuübersetzungen der Werke des ukrainischen Dichtertitanen. Ganz anders stellt sich seine Bedeutung in der Ukraine dar: keine Stadt ohne ein Ševčenko-Denkmal, eine Gedenktafel oder einen nach ihm benannten Platz. Das Konterfei des Dichters ist wohl jedem Ukrainer, jeder Ukrainerin bekannt, und zumindest das Gedicht Zapovit (Das Vermächtnis) – „Wenn ich tot bin, begrabe mich in meiner geliebten Ukraine“ – werden die meisten von ihnen zumindest auszugsweise zitieren können. Für die Leipziger Slavistin Jenny Alwart ist Ševčenko dann auch nichts weniger als ein bedeutender ukrainischer Erinnerungsort. Ševčenko sei dieam stärksten verbindende Figur der Ukraine […], die Ukraine definiert und reflektiertsich über sie (S. 25), so ihre zentrale These. In der Tat scheint der Dichter in dem erinnerungskulturell so stark fragmentierten Land ein konsensueller Kristallisationspunkt zu sein; anders als der 1959 von sowjetischen Agenten in München ermordete Nationalist Stepan Bandera, der Große Vaterländische Krieg oder der Kosaken-Hetman Ivan Mazepa scheint er geeignet, im eher nationalistischen Westen und im grundsätzlich eher prorussischen (und russophonen) Osten gleichermaßen positiv erinnert zu werden. Fast verwundert es also, dass sich trotz des nun schon fast zwei Jahrzehnte währenden memory boom in den Kulturwissenschaften vor Alwart noch niemand systematisch mit diesem gleichermaßen interessanten wie aktuellen Thema beschäftigt hat.

Alwart entwickelt ihre These auf der Grundlage der einschlägigen, wohlbekannten Referenzen (Halbwachs, Aleida und Jan Assmann, aber auch Astrid Erll), unterscheidet nachvollziehbar zwischen offizieller Geschichtspolitik und einerkünstlerisch-medialen Gemachtheit des ErinnerungsortesŠevčenko (S. 25). Letztere untersucht sie u.a. an dem auch im Westen bekannten Essay von Andruchovyč Shevčenko ist ok oder Kurkovs Roman Petrowitsch (im russischen Original Dobryj angel smerti, 2000). Darin kommt dem mit demnationalen GeistŠevčenkos getränkten Wüstensand eine zentrale Rolle für den Fortgang der Geschichte (und des ukrainischen Staates) zu. Die Verfasserin bezieht zudem Exponate der bildenden Kunst mit ein, wie die Photographien Natal’ja Bloks, welche augenfällig die Bedeutung Ševčenkos im ukrainischen nationalen Bewusstsein unterstreichen. Sie zeigen zugleich den mittlerweile glücklichermaßen möglichen spielerischen, ja ironischen Umgang mit diesem Heroen. Bloks Bilder sind Teil des gemeinsam mit Maks Afanas’jev geschaffenen Werkes Henoličyl’nik (Genzähler), bei dem sichganz normale‘ ukrainische Menschen mit dem so typischen Ševčenko-Schnauzbart und einer Perücke mit Haarkranz und Glatze haben ablichten lassen; sie scheinen ausdrücken zu wollen, dass ein bisschen Ševčenko in jedem Ukrainer steckt. Überhaupt werden visuelle Deutungen durch einen kurzen, aber ansprechenden Bildteil illustriert; allerdings sind bei der Nummerierung einige Ungenauigkeiten zu vermerken. Gerade in den Kapiteln, in denen Alwart die Verarbeitungen des Sujets in Pop- und Avantgardekultur nachzeichnet, ist die Arbeit sehr überzeugend. Diesen Kapiteln vorgeschaltet ist die Betrachtung des offiziellen Ševčenko-Diskurses in der Sowjetunion zwischen 1960als Beginn der zahlreichen Feierlichkeiten anlässlich des 100. Todestages bzw. des 150. Geburtstagesund dem Ende der UdSSR. Es ist wenig erstaunlich, dass der Dichter in diesen Diskursen primär alsrevolutionärer Demokratbezeichnet wurde, welcher zudem den propagandistischen Vorteil hatte, von Nikolaus I. nach Zentralasien verbannt worden zu sein. Weil er als Leibeigener geboren und von einflussreichen russischen Künstlern wie dem Maler Karl Brjullov freigekauft worden war, wurde er für die sowjetische Kulturpolitik auch sozial interessant. Ševčenko, der einen übrigens nicht unerheblichen Teil seines Werkes in russischer Sprache verfasst hat, mutierte zudem nicht ohne gewisse Plausibilität zum Exponenten russisch-ukrainischer Freundschaft. Als Vorkämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit von Russland konnte er hingegen in sowjetischer Zeit entschieden nicht gefeiert und erinnert werden. Auch ukrainische Intellektuelle der sechziger bis achtziger Jahre stellten diese Einschreibung nicht grundsätzlich in Frage, wie Alwart zumindest am Beispiel des systemkritischen Schriftstellers und prominenten Vertreters der sog. Šistdesjatnyky (Sechziger“), Ivan Dzjuba, zeigt. Erst Ende der achtziger Jahre und nach dem Entstehen einer machtvollen Unabhängigkeitsbewegung in der Ukrainischen Sowjetrepublik betonte der spätere Kulturminister denpatriotischenGehalt im Werk Ševčenkos. Die Pluralitäten und Gleichförmigkeiten der Ševčenko-Deutungen seit der Unabhängigkeit werden in einem weiteren Schritt auch für die Phase nach 1991 nachgezeichnet: Die Genese hin zum offiziellen Paten eines ukrainischen Nationalismus, die Instrumentalisierungen durch die Politikbesonders bei den Präsidenten Kravčuk, Juščenko und Janukovyčwerden ebenfalls behandelt.

Alwarts Arbeit ist in dem, was sie schreibt, sehr überzeugend. Man liest dieses Buch gernund bleibt dennoch, zumindest, wenn man sich wie die Rezensentin schon etwas eingehender mit der Ukraine und auch ihren Erinnerungskulturen befasst hat, etwas unbefriedigt zurück. Dies liegt ausdrücklich nicht daran, was Alwart darlegt, sondern an dem, was sie nicht behandelt. Und das ist nicht wenig: Auch um die ewige Debatte über die notwendige Wechselseitigkeit zwischen Diskursen, kulturellen Einschreibungen, Praktiken undrealen Geschehnissennicht weiter zu befeuern, wäre eine deutlich eingehendere Beschäftigung mit dem realen Ševčenko wünschenswert und notwendig gewesen. Zwar wird in der Einleitung ein wenig über diereale Figurdes Dichters reflektiert, letztlich kommt dieser ganz simple biographische Aspekt aber zu kurz. Dies gilt gleichermaßen für dessen schriftstellerisches Werk, über das man kaum etwas erfährt; lediglich über seine ohne Frage zentrale Gedichtsammlung Kobzar (1840) werden einige Informationen eingestreut. Über die Bedeutung seines Schaffens in der heutigen Ukraine erhalten die Lesenden ebenso wenig Informationen. Die Frage etwa, ob Ševčenko gegenwärtig allein als eine von seinem künstlerischen Werk abgekoppelte, weil vom ukrainischen Publikum nicht mehr gelesene Erinnerungsfigur wahrgenommen und rezipiert wird, bleibt im Dunkeln. Dies gilt letztlich auch für den ja nicht ganz unbedeutenden Aspekt, in welchem Maß er in der Russländischen Föderation und (sicher weniger) in Polen memoriert wird. Es steht doch zu vermuten, dass er, nachdem er jahrzehntelang einen festen Platz im russisch-sowjetischen Kontext innegehabt hat, doch gewissen Spuren hinterlassen haben muss, auch jenseits der erwähnten Denkmäler und Straßennamen. Allein im Zusammenhang mit Andrij Kurkov, den russischschreibenden ukrainischen Schriftsteller, streift Alwart diesen Aspekt kurz. Wichtig wären zudem zumindest Reflexionen darüber gewesen, welche Aspekte im schriftstellerischen Schaffen Ševčenkos nicht memoriert werden, nämlich u.a. der manifeste antisemitische und antipolnische Gehalt etwa in den Hajdamaky (1841). Das Buch Mit Taras Ševčenko Staat machen ist mit ca. 160 Seiten Text (inkl. eines ausführlichen Anmerkungsapparats mit umfänglichen Übersetzungen) schmal, was grundsätzlich erfreulich ist. Für die Behandlung dieser wichtigen Fragen hätte Alwart also in jedem Fall, ohne den ungebührlichlangen‘ Qualifikationsarbeiten das Wort reden zu wollen, nochRaum‘ gehabt. Gleichwohl hat sie eine interessante und grundlegende Arbeit zur osteuropäischen Erinnerungskultur vorgelegt.

Kerstin S. Jobst, Wien

Zitierweise: Kerstin Jobst über: Jenny Alwart: Mit Taras Ševčenko Staat machen. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in der Ukraine vor und nach 1991. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. 220 S., 47 Abb. = Visuelle Geschichtskultur, 8. ISBN: 978-3-412-20769-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Jobst_Alwart_Mit_Taras_Sevcenko_Staat_machen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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