Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 4, S. 664-665

Verfasst von: Felix Jeschke

 

Sabine Witt: Nationalistische Intellektuelle in der Slowakei 1918–1945. Kulturelle Praxis zwischen Sakralisierung und Säkularisierung. Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 2015. XI, 412 S. = Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 44. ISBN: 978-3-11-035930-5.

Die Entwicklung des slowakischen autonomistischen Nationalismus während der ersten tschechoslowakischen Republik passt kaum in gängige Schemata des Nationalismus. Denn einerseits waren die Slowaken in der ČSR offiziell Teil der Mehrheitsgesellschaft und verfügten über Privilegien, die nationalen Minderheiten wie Deutschen und Ungarn nicht zuteilwurden. Andererseits wurde der Staat von einem großen Teil der slowakischen Intelligenz nie als eigener anerkannt. Im Gegenteil entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit in der Slowakei eine starke autonomistische Bewegung, die in den dreißiger Jahren unter dem Eindruck des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus immer größere Dynamik annahm und 1939 in der Gründung des Slowakischen Staats, eines Satelliten des Dritten Reichs, gipfelte.

Sabine Witt widmet sich im vorliegenden Band dieser Bewegung aus Sicht ihrer jungen intellektuellen Verfechter. Diese um 1900 geborenen Männer (Frauen sind keine darunter) übten ihre publizistische Tätigkeit bereits fast gänzlich in der Tschechoslowakei aus. Sie positionierten sich meist klar in Abgrenzung zum neuen Staat und dessen vermeintlich tschechischer Vorherrschaft. Zwar bildeten sie „keine reale Gruppe“ (S. 115), doch trugen sie zusammen laut Witts Hypothese „maßgeblich zur Durchsetzung der Kategorie des Nationalen in der slowakischen Gesellschaft bei“ (S. 1). Dies geschah in ständiger, auch spannungsvoller Wechselwirkung mit der katholischen Kirche. Die Nationalisten „entwarfen eine neue Welt durch die Brille der christlichen Werteordnung und säkularisierten sie gleichzeitig, indem sie das christliche Glaubenssystem durch ein nationales ersetzten“ (S. 389). Die zur Auswahl dieser Gruppe herangezogenen Kriterien sind allerdings recht unklar. Witt hebt nur ihre ländliche und kleinbürgerliche Herkunft hervor, die aber bei slowakischen (und tschechischen) Intellektuellen die Norm war. Das Buch untersucht sowohl ihren gesellschaftlichen Kontext als auch die schriftstellerische Produktion als solche. Nach drei einführenden Kapiteln, die überblicksartig Theorien des Nationalismus, seine Entwicklung in Oberungarn vor 1918 und in der Slowakei in der Zwischenkriegszeit darstellen, wendet sich Witt ihrem eigentlichen Thema zu. In vier Kapiteln untersucht sie die nationalistische Elite anhand ihrer Publizistik, ihren institutionellen Bindungen und ihrer literarischen Praxis.

Witts Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie Belletristik als historische Quelle ernst nimmt – ein oft geforderter, aber in der Geschichtswissenschaft nur selten realisierter Zugang. Das letzte Kapitel der Arbeit, das einige ausgewählte Romane und Gedichtbände vergleichend untersucht, ist ihr Herzstück. Witt bringt den politischen Einfluss von Werken in Erinnerung, die auch in der slowakischen Literaturwissenschaft bestenfalls am Rande Erwähnung finden. Wie sie schreibt, traf etwa Štefán Gráfs 1937 verfasster antisemitischer Desillusionierungsroman Zápas (Der Kampf) „den Nerv der Zeit“ (S. 355) und wurde als bester slowakischer Roman des Jahres ausgezeichnet. Nach 1943 wurde er nicht neu aufgelegt und kaum noch erwähnt. Anhand dieser Literatur untersucht sie überzeugend die biologistischen und völkischen Konzepte des slowakischen Nationalismus, die der reinen slowakischen Landschaft den kranken multiethnischen städtischen Organismus gegenüberstellte.

Die Untersuchung dieser Literatur zeigt aber auch eine zentrale Schwachstelle von Witts Buch auf. Unter slowakischem Nationalismus versteht sie (fast) ausschließlich den anti-tschechischen Autonomismus unter der politischen Führung von Hlinkas Slowakischer Volkspartei. Der Tschechoslowakismus, den man durchaus als eine Variante des slowakischen Nationalismus sehen kann, war das natürliche Gegenstück und Feindbild der Autonomisten, wird aber von Witt nie richtig eingeführt. Dieser sah Tschechen und Slowaken als zwei Äste derselben Nation; in Volkszählungen wurde zwischen beiden Gruppen nicht unterschieden, und die ČSR hatte offiziell deswegen auch nicht, wie Witt schreibt, „zwei Titularnationen“ (S. 31). Dass dies oft mehr Ideologie als gesellschaftliche Praxis war, ändert nichts an dem allgemein positiven, wenn auch höchst paternalistischen Verhältnis der Staatsführung zur Slowakei.

Die Grenzziehung zwischen autonomistischen und tschechoslowakistischen Nationalisten war nicht so klar, wie Witt suggeriert. Viele völkische Merkmale, wie die Analogie der Nation und des menschlichen Körpers, war im Tschechoslowakismus ebenso vorhanden. Viele der von ihr untersuchten Nationalisten waren gegenüber dem Staat eher ambivalent als eindeutig ablehnend eingestellt. Beispielsweise hat sich Ján Hrušovský bei den tschechoslowakischen Agrariern engagiert, Anton Prídavok und Tido Gašpar schrieben positiv über die Wende von 1918. Gráfs Zápas ist antisemitisch und anti-ungarisch, aber nicht anti-tschechisch. Die von Witt untersuchte Slovenská liga (Slowakische Liga) verfolgte die sprachliche Slowakisierung der anderssprachigen Gebiete der Slowakei und bewegte sich damit klar auf dem Boden tschechoslowakistischer Interessen. Darüber bemerkt sie: „Paradoxerweise unterstützten die Akteure der Slovenská liga mit ihrem slowakischen Nationalismus das Tschechoslowakisierungsprojekt“ (S. 212). Wäre der autonomistische Nationalismus besser durch den Tschechoslowakismus kontextualisiert, wäre klar, dass dies kein Paradox darstellt. Auch mit dem tschechischen Blick auf die Slowakei in der Zwischenkriegszeit beschäftigt sich Witt kaum, obwohl er oft die stärksten Reaktionen von slowakischen Nationalisten hervorrief. Dies ist umso erstaunlicher, da sie am Anfang des Buches dem tschechischen Blick vor 1918 einen eigenen Abschnitt widmet und schreibt: „Die Tschechen waren eine wichtige Instanz, um den Slowaken Elemente der ‚Slowakizität‘ als kultureller Identität zuzuschreiben bzw. als das distinkte Andere zu dienen“ (S. 68). Noch viel stärker als vor 1918 war dies in der Zwischenkriegszeit der Fall.

Die fehlende Kontextualisierung der literarischen und publizistischen Primärquellen in den verschiedenen, sich widersprechenden und gleichzeitig überschneidenden Nationalismen der ČSR mag ihren Ursprung in der mageren Auswahl an Sekundärquellen haben. Das ist eine weitere Schwachstelle von Witts Buch. Gerade in den einleitenden Kapiteln basieren ganze Abschnitte auf nur einem oder zwei Texten und oft bleiben wichtige Informationen ohne Quellenangabe. In der Bibliografie fehlen Standardwerke wie etwa Jan Rychlíks Češi a Slováci ve 20. století (Tschechen und Slowaken im 20. Jahrhundert, 1997), aber auch relevante neuere Arbeiten, z. B. Iris Engemanns Die Slowakisierung Bratislavas (2012). Auch bezüglich der von Witt untersuchten Persönlichkeiten wären weiterführende biografische Informationen und Quellen wünschenswert gewesen. Es mutet seltsam an, dass sie immer wieder die Bedeutung des biografischen Hintergrunds der nationalistischen Akteure herausstellt (z. B. S. 288–289), aber dann kaum auf einzelne Biografien eingeht.

Trotz dieser Vorbehalte ermöglicht Witts Buch einen oft innovativen Blick auf den kulturellen Nationalismus in der ersten tschechoslowakischen Republik, der sich an der Grenze zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft bewegt. Es eröffnet auch Fragestellungen, die eine weiterführende Bearbeitung verdienen, etwa das Verhältnis der slowakischen Nationalisten zu Ungarn oder die Aktivitäten der tschechischen Faschisten (Národní obec fašistická) in der Slowakei.

Felix Jeschke, Prag

Zitierweise: Felix Jeschke über: Sabine Witt: Nationalistische Intellektuelle in der Slowakei 1918–1945. Kulturelle Praxis zwischen Sakralisierung und Säkularisierung. Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 2015. XI, 412 S. = Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 44. ISBN: 978-3-11-035930-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Jeschke_Witt_Nationalistische_Intellektuelle.html (Datum des Seitenbesuchs)

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