Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 165-167

Verfasst von: Felix Jeschke

 

Iris Engemann: Die Slowakisierung Bratislavas. Universität, Theater und Kultusgemeinden 1918–1948. Wiesbaden: Harrassowitz, 2012. 288 S., 5 Abb., 32 Tab. = Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas, 22. ISBN: 978-3-447-06640-2.

Die heutige slowakische Hauptstadt Bratislava machte in den letzten 150 Jahren eine abenteuerliche Entwicklung durch. Sogar in Ostmitteleuropa, einer Region, die sich im 20. Jahrhundert nicht gerade durch politische und demographische Kontinuitäten auszeichnet, nimmt das lange dreisprachige Preßburg/Pozsony/Preš­porok diesbezüglich eine Sonderstellung ein. War die ungarische Provinzstadt Mitte des 19. Jahrhunderts noch mehrheitlich deutschsprachig, so setzte nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 eine starke Magyarisierung ein, sodass Pozsony zu Beginn des Ersten Weltkriegs beinahe zur Hälfte von Ungarn bewohnt wurde. Die für die Stadtbevölkerung überraschende Eingliederung der Stadt in die Tschechoslowakei durch die Pariser Friedensverträge wirkte als Auslöser für den Zuzug Tausender Tschechen und Slowaken. Während der Ersten Tschechoslowakischen Republik war das umbenannte Bratislava damit so multikulturell wie nie zuvor. Dies änderte sich allerdings schnell wieder, denn nach 1939 wurden in der nominell eigenständigen Slowakei, die jedoch als Satellitenstaat stark vom Dritten Reich abhängig war, Tschechen ins Protektorat Böhmen und Mähren ausgewiesen, und Juden erst in ihren Rechten eingeschränkt und ab 1942 zu Tausenden in deutschen Konzentrationslagern ermordet. Durch die Vertreibung der Deutschen und der meisten Ungarn 1945/46 war Bratislava nach dem Krieg plötzlich eine slowakische Stadt.

Die Slowakisierung Bratislavas war natürlich nicht nur Folge von Vertreibung und Mord, sondern auch politisches Programm. Iris Engemann stellt in der vorliegenden Studie diesen Prozess der politischen Nationalisierung vom Anfang der Ersten Republik 1918 bis zur kommunistischen Machtübernahme 1948 dar. Zeitlich schließt sie damit an Eleonóra Babejovás einflussreiches Buch „Fin-de-Siècle Pressburg“ an, das die nationale Entwicklung der Stadt bis 1914 behandelt. Anhand dreier zentraler Institutionender Universität, des Theaters und der religiösen Kultusgemeindenuntersucht Engemann dieWahrnehmung der Stadt in nationalen Kategorien und [das] Bestreben zur Veränderung des ihr zugeschriebenen nationalen Charakters(S. 16). Ihr Ansatz geht über den Rahmen einer traditionellen Institutionengeschichte hinaus und versucht, die Institutionen in einer sozialhistorischen Perspektive in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen einzubeziehen (S. 32). Insbesondere Engemanns Darstellung der Universität und des Theaters überzeugt durch die Analyse umfassender Quellenmaterialien in den drei Sprachen der Stadt und zeigt dieseBastionen im Kampf um die Nationalisierung(S. 261) sowohl als Spielbälle der Politik als auch ihrerseits als Schulen der Politisierung. Während anfangs die Demagyarisierung im Vordergrund standdie Elisabeths-Universität war erst kurz vor dem Krieg als ungarische Hochschule neu gegründet worden und das Stadttheater hatte seit 1911 hauptsächlich ungarisch gespieltso spiegelten diese Einrichtungen im Laufe der 1920er Jahre den stärker werdenden Konflikt zwischen Slowaken und Tschechen. Vor allem aus personellen Gründen waren die Lehrkräfte der Comenius-Universität mehrheitlich aus dem westlichen Landesteil rekrutiert, und auch das das sogenannte Slowakische Nationaltheater spielte bis in die späten 1930er Jahre fast ausschließlich auf Tschechisch. Die tschechoslowakistische Staatsideologie, die Tschechen und Slowaken als zwei Äste derselben Nation betrachtete, schlug sich beispielsweise darin nieder, dass beide Sprachen von einem Lehrstuhl für die (praktisch nicht existente) tschechoslowakische Sprache vertreten wurden (S. 103). Nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch das Münchner Abkommen und der Gründung des faschistischen Slowakischen Staates kam es im kulturellen Bereich zu weitreichenden Säuberungen von Juden und Tschechen und eine stärkere Anlehnung an Nazi-Deutschland, sowohl im Wissenschaftsbetrieb wie auch am Theater (z.B. durch eine längere deutschsprachige Spielsaison und Gastspiele von reichsdeutschen Ensembles). Engemann betont allerdings, dass bis zu einem gewissen Grad demokratische Strukturen beibehalten wurden und dahervon keiner völligen Durchherrschung des Universitätsbetriebs zu sprechensei (S. 118). Nach dem Krieg zeigt sich die stärkere Orientierung an der Sowjetunion schon vor der kommunistischen Machtübernahme 1948 beispielsweise an einem erhöhten Anteil sowjetischer Stücke im Spielplan des Theaters.

Die Analyse der städtischen Kultusgemeinden fällt in Engemanns Studie etwas aus dem Rahmen. Dies liegt zum einen an der übernationalen Struktur dieser Institutionen, denn die sprachlichen Grenzlinien liefen quer durch die Konfessionenin allen vier nationalen Gruppen gab es Katholiken, Lutheraner und Juden. Deswegen wirkten sich national- wie staatspolitische Eingriffe hier ambivalenter aus als an Universität und Theater. So kam es beispielsweise bei den Katholiken durchaus zu einer gewissen Slowakisierung, vor allem im Bereich der Priesterweihe und Sprachenordnung. Trotzdem blieb die Gemeinde ihrem übernationalen Anspruch treu und es kamzu keiner tiefgreifenden Politisierung des Gemeindelebens(S. 213). Zum anderen betrachtet Engemann hier drei einzelne Institutionen als Ganzes, was im Vergleich zu den anderen zwei Kapiteln zwangsläufig zu Lasten von Differenzierung und Detailfülle geht. Dies ist insbesondere bei der Behandlung der Bratislavaer jüdischen Gemeinde der Fall, für die auch noch die meisten Archivquellen während des Krieges vernichtet wurden. Gerade deswegen ist es verwunderlich, dass sich Engemann hier fast ausschließlich auf die neologische Gemeinde konzentriert, obwohl die orthodoxe zahlenmäßig stärker war. Ihre Begründung, die neologische Gemeinde lasseim Gegensatz zur streng religiösen Orientierung der Orthodoxie eine stärkere Auseinandersetzung mitweltlichennationalen Fragen(S. 224) erwarten, überzeugt im Kontext des nahenden Zweiten Weltkriegs nicht. Gerade im Vergleich mit der prägnanten Argumentation der ersten Kapitel fehlt dem Abschnitt über die Kultusgemeinden daher etwas die argumentative Kohärenz, was zu weiterführender Forschung einlädt.

Dass Engemann ihre Untersuchung nicht mit dem Zweiten Weltkrieg enden lässt, mag ungewöhnlich erscheinen, dennoch kann dadurch der extreme Wandel der Stadt in nur 30 Jahren noch deutlicher gemacht werden. Von 1918 bis 1948 entwickelten sich Universität und Theater von (deutsch-)ungarischen über tschechoslowakistische und slowakische zu tschechoslowakischen Institutionen und spiegelten damit die gesamtgesellschaftliche Entwicklung wider. Allerdings wäre manchmal ein stärkerer Rückgriff auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nützlich gewesen. Engemann geht beispielsweise nicht näher darauf ein, dass, wie Babejová in ihrem Buch zeigt, das Theater bereits seit dem Ausgleich von 1867 ein nationaler Zankapfel zwischen Deutschen und Ungarn gewesen war. Für die Zwischenkriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit jedoch zeichnet der vorliegende Band fundiert und gut lesbar die nationale Entwicklung Bratislavas nach. Außerdem profitiert das Buch von prägnanten und nützlichen Zusammenfassungen nach jedem Teilkapitel, sowie einer umfangreichen Tabellensammlung und einigen Landkarten.

Felix Jeschke, London

Zitierweise: Felix Jeschke über: Iris Engemann: Die Slowakisierung Bratislavas. Universität, Theater und Kultusgemeinden 1918–1948. Wiesbaden: Harrassowitz, 2012. 288 S., 5 Abb., 32 Tab. = Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas, 22. ISBN: 978-3-447-06640-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Jeschke_Engemann_Slowakisierung_Bratislavas.html (Datum des Seitenbesuchs)

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