Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 500-504

Verfasst von: Angelina Jedig

 

Tobias Grill: Der Westen im Osten. Deutsches Judentum und jüdische Bildungsreform in Osteuropa (1783–1939). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. 389 S. = Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, 19. ISBN: 978-3-525-57029-5.

Das Judentum ist die einzige der drei monotheistischen Weltreligionen, welche die Mission nicht kennt. Nach der Lektüre von Tobias Grills breit angelegter Studie Der Westen im Osten. Deutsches Judentum und jüdische Bildungsreform in Osteuropa (1783–1939)nnte man gleichwohl sagen: Innere Mission ist auch dem Judentum nicht gänzlich fremd, und, nein, damit ist nicht die Bewegung Chabad Lubavitch gemeint, die seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in „Mitzvah Tanks“ in Brooklyn, NY, öffentlichkeitswirksam die Zahl der haredischen Juden zu erhöhen sucht.

Das vorzustellende Buch stellt einen wichtigen Beitrag zum Problem des deutschjüdisch-osteuropäischen Kulturtransfers dar. Es werden zentrale Aspekte der außerordentlich komplexen Geschichte der jüdischen Bildungsinstitutionen im geographischen Raum, den wir heute als Osteuropa bezeichnen, behandelt. Ich will im Folgenden weniger auf die beeindruckende Material- und Detailfülle an Quellen und ‚Bildungsträgerpersonen‘ eingehen als vielmehr auf die grundsätzlichen Kernstrukturen, die den Transferprozess als einzigartig kennzeichnen.

Aus zwei zunächst allgemeinen Gründen ist die Publikation von höchstem Interesse: (1.) Die sowjetmarxistische Geschichtsschreibung blendete die Juden, zumal nach der Shoah, nahezu systematisch als (diskriminierte) Gruppe aus; entsprechend besteht für das Zarenreich und die Sowjetunion ein erheblicher Forschungsbedarf, den man im russischsprachigen Raum nicht zuletzt mit Übersetzungen westlicher Publikationen zu überbrücken versucht. (2.) Die von den deutschen Juden als „rückständig“ bezeichneten „polnischen Juden“, damals die zahlenmäßig stärkste jüdische Gemeinschaft, sind zwar vom Nationalsozialismus nahezu gänzlich vernichtet worden, bildeten aber gleichwohl nach 1945  die Grundlage für das Über- und Weiterleben des traditionellen religiösen jüdischen Ritus. Viele von ihnen wanderten nach den Pogromen in Polen als DP’s nach Deutschland und/oder nach Palästina aus.

Wie Grill zeigt, erkennen die deutschen Juden um 1900 nach ihrem Schock infolge der Einsicht in die Grenzen der Emanzipation in Europa und zugleich nach dem vielfältigen Verlust ihres religiösen Wissens, welche zentrale Rolle für die Judenheit die osteuropäischen Glaubensgenossen (Jiddishkajt) einnehmen. Die jüdische Aufklärung, d. h. die aus Westeuropa bzw. Preußen kommende Haskala, ist wie alle modernen Entwicklungen, um mit Max Weber zu sprechen, mit „formaler Rationalität“ und „materialer Irrationalität“ behaftet. Sie vertritt neue Bildungsinhalte wie Naturwissenschaften, Philosophie oder Astronomie sowie Teilhabe am gesellschaftspolitischen Leben, bürgerliche Partizipation und Integration. Gleichzeitig vermittelt sie aber auch das Aufbrechen der jüdischen Einheit von Ethnie und Religion, dazu einen deutlichen Assimilationswunsch. Führende Vertreter der Haskala, die sogenannte Maskilim, verbanden um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein ausgeprägtes Unbehagen an der ‚Rückständigkeit‘ der traditionellen jüdischen Minderheit mit dem unbändigen Hunger nach europäischer Kultur und Wissenschaft. Den deutschen Juden wird es nicht mehr gelingen, den Doppelcharakter des Judentums als Ethnos und Religion zu leben; es folgen vielmehr Konversion, Emanzipation, Säkularisation oder Konfession. Die Haskala hatte zwar nicht als Ziel, aber als faktisches Resultat die Säkularisierung zur Folge. Haskala wollte den Juden einen Platz in der Führung der Gesellschaft verschaffen. Vor solchen Hintergründen ist das Buch von Grill zu sehen, auch wenn es nicht systematisch auf diese Zusammenhänge eingeht.

Grill untersucht im Zeitraum von 1783 bis 1939 das Wirken deutscher Rabbiner und Lehrer in den jüdischen Gemeinden Osteuropas (Galizien, Podolien, Wolhynien, Weißrussland, Litauen, Livland, Kurland, Kongresspolen, Neurussland, Moskau, St. Petersburg, vgl. S. 12) anhand der von ihm so genannten „Methode des Kulturtransfers“. Das „osteuropäische Judentum“ soll dabei in seiner „geographisch-politische[n]“ und „kulturelle[n] Dimension“ (S. 12) verstanden werden. Im Verlauf der Untersuchung werden sowohl das osteuropäische Judentum (als Empfänger) als auch die Gruppe der kulturellen Mittler differenziert. Seit 1762 regiert die ‚aufgeklärte‘ Autokratin Katharina II. das Zarenreich, 1781–1789 erlässt Kaiser Joseph II. im Erzherzogtum Österreich Toleranzpatente. Zur gleichen Zeit erreicht die Haskala ihren Höhenkamm zwischen 1778 und 1797, und 1782 erscheint Naphtali Herz Wesselys Erziehungstraktat divrej schalom ve-emet (Worte des Friedens und der Wahrheit), der unter Juden einen erbitterten Kulturkampf auslöst; ein Jahr später (1783) folgt die vollständige deutsche Pentateuchbersetzung. So wie die Vertreter der Haskala bereits in Deutschland viel Mühe darauf verwandt hatten, das rabbinische Monopol auf Wissen und Bildung zu durchbrechen und über die Vermittlung von profanem Wissen den Juden einen gleichrangigen Platz in der Gesellschaft als Staatsbürger mit politischen und wirtschaftlichen Rechten zu erkämpfen, so beschritten deutsche Maskilim auch in Osteuropa diesen Weg. Und das nicht erst, als die Haskala in Deutschland schon abebbte, sondern gerade auf ihrem Höhepunkt. Streng genommen verläuft zum Zeitpunkt vor den drei Teilungen Polens noch keine eindeutig scharfe kulturelle Grenze zwischen den Juden Mittel- und Westeuropas und denen Osteuropas.

Grill setzt im Jahr 1783 mit den vergeblichen Bemühungen Jakob Hirschs (aus Preußen) im nunmehr österreichischen Galizien ein, der das traditionelle jüdische (Grund-)Schulwesen, die chadarim, unter staatliche Aufsicht zu stellen bemüht ist, um die jüdische Bevölkerung zu germanisieren (S. 38 ff.). Zu diesem Zeitpunkt ist das Projekt der jüdischen Bildungsreform auch in Deutschland nicht abgeschlossen. Chronologisch sowie an Persönlichkeiten und Orten orientiert, schildert Grill die Bemühungen deutscher „Doktor-Rabbiner“, die vorhandenen Strukturen des traditionellen jüdischen Schulwesens zu modernisieren, zu modifizieren oder sie zugunsten von staatlichen Einrichtungen abzuschaffen. Die ersten jüdischen Schulen entstehen 1813 im galizischen Tarnopol (später habsburgisch), 1826 in Odessa und 1839 in Kišenev (Bessarabien). Hier sind noch keine fremden kulturellen Mittler im Spiel. In Tarnopol ist Joseph Perl (1773–1839), Vertreter der frühen Haskala in Ostmitteleuropa, federführend bei der Gründung von Schulen, der Wahl des Curriculums und in der Lehre (S. 50–61). Der Erfolg der „Musteranstalten“ von Tarnopol und Odessa liegt in der Tatsache begründet, dass sie „ohne einen ‚fremden‘ Mittler gegründet worden waren“ (S. 61).

Erst mit Dr. Max Lilienthal (1814–1882) aus München betritt 1839 ein externer Kulturmittler die Bühne, zwar auf Wunsch eines Teils der jüdischen Gemeinde in Riga, aber eben mit offensichtlich deutschem Profil (Die „Lilienthalsche Epoche“, S. 62–152). Noch vor Eröffnung der jüdischen Lehranstalt in Riga reist der 25-Jährige nach St. Petersburg zu Unterredungen mit dem russischen Bildungsminister Sergej Uvarov, der bekanntlich eine Affinität zu alten Sprachen hatte und die deutschen Universitäten schätzte. Lilienthal möchte „die Rigaer Gemeindeschule zu einer Musteranstalt für die anstehende Bildungsreform aus[…]bauen“ (S. 73). Die zaristischen Statuten von 1804 und 1835 erlaubten Juden den Besuch der allgemeinen Schulen; 1835 wurde die Einrichtung jüdischer Privat- und Gemeindeschulen unter staatlicher Aufsicht angeregt. Die von Lilienthal konzipierten Lehrgegenstände waren „darauf angelegt, das bisherige Leben des russländischen Judentums fundamental zu verändern. Insofern lassen sich gerade auch an diesem Plan die kulturellen Missionierungsabsichten des deutschen Rabbiners deutlich ablesen. […] Alles in allem mag Lilienthals Plan vielleicht die Realitäten des deutschen Judentums abgebildet haben, denen des russländischen Judentums wurde er jedenfalls kaum gerecht.“ (S. 71–72) 1840 wird in Riga eine jüdische Anstalt eröffnet, damit – so Lilienthal – die Schüler „würdige Glieder der bürgerlichen Gesellschaft“ bzw. „Menschen im wahren Sinne des Wortes“ würden (S. 73).

Lilienthal unternimmt zwei Sondierungsreisen durch den Ansiedlungsrajon, nach Minsk und Wilna, Lilienthal zufolge „die Hauptstädte der Juden“ (S. 93), wo er auf großen Widerstand der Minsker Chassidim trifft. Die traditionellen Juden hatten berechtigte Zweifel an der Funktion der Schulen, ihrem Nutzen angesichts der mangelhaften wirtschaftlichen Absicherung, der rechtlichen Einschränkungen und der fehlenden Freizügigkeit sowie der Konversionsangst (vgl. S. 88, 94, 97, 116 ff., 143). Lilienthal regt die Gründung einer Rabbinerkommission an (S. 105), deren ausgearbeitete Vorschläge zur Einrichtung von jüdischen Schulen vom Jüdischen Komitee in wesentlichen Punkten jedoch ignoriert werden. – An dieser Stelle sei ergänzt, dass fast alle jüdischen Knaben beschult waren (auf welchem kümmerlichen Niveau auch immer dies durch die melamdim erfolgte), was für das Zarenreich bemerkenswert war, denn die ersten ernsthaften Alphabetisierungsanstrengungen sind hier erst ab 1905 unternommen worden.

Auf der Metaebene lässt sich verfolgen, welche eindrückliche Rolle jüdische Zeitungen (v.a. die von Ludwig Philippson begründete und herausgegebene Allgemeine Zeitung des Judentums) im Bildungsdiskurs sowohl in den deutschen Ländern als auch im Habsburgerreich und im Russländischen Reich einnehmen, wie das jüdische Zeitungswesen sich entsprechend den jüdischen Strömungen differenziert, wie einzelne deutsche Protagonisten mit der Reform des Schulwesens das Ziel der Berufsumschichtung der Juden v. a. in Landwirtschaft und Handel verfolgen, wie die Idee von der Assimilation und Akkulturation gemäß dem Ideal vom nützlichen Bürger verfolgt und nach dem Ersten Weltkrieg hinterfragt wird. Die osteuropäischen Juden lebten unter konservatorischen Bedingungen, um sich vor dem Assimilationsdruck zu schützen, und nun geraten sie auch noch ins Interessenfeld deutscher Reformjuden mit der Aufforderung, sich der säkularen Bildung zu öffnen, was die Glaubensbrüder als nicht mindere Gefährdung erleben. Das „Rezeptionsbedürfnis“ (S. 15) war von entschieden nachrangiger Bedeutung, das vor Selbstbewusstsein berstende Sendungsbewusstsein der deutschen „Kulturträger“ umso größer. Schon in Deutschland bedeutete die Haskala einen „Kulturkampf“ mit der traditionellen rabbinischen Elite. Shmuel Feiner schreibt: „Schon der erste Zusammenstoß zwischen der intellektuellen Elite der Haskala und der traditionellen rabbinischen zeigt, daß es zwischen den beiden zu einem Kulturkampf kommen mußte.“ (Shmuel Feiner: Haskala – Jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution. Zürich, New York 2007, S. 457).

Die Untersuchung formuliert und provoziert ungewöhnlich viele Fragen. Lösen erst der akademische Überschuss unter den Juden in Deutschland und die Auflösung der Gemeindeeinheit den kulturmissionarischen Eifer aus (vgl. u.a. S. 66, 153)? Inwiefern handelt es sich um eine Bildungsreform? Ein institutionalisiertes Bildungssystem hat es in den besprochenen Ländern, zumal für die Juden, vielfach nicht gegeben. Das „Bildungsproblem“ der osteuropäischen Juden ist vor allem ein extern herangetragenes und nicht autochthon. Heuristisch aufschlussreich wäre die Einbindung des russischen Imports von europäischer Kultur und des daraus entstandenen Widerstreits zwischen Slavophilen und Westlern gewesen. Die Haltung der jüdischen Gemeinden in Osteuropa gegenüber den gelehrten Herren aus Deutschland ist dem strukturell verwandt und rief ähnliche Reaktionen zwischen Widerstand, der Betonung der religiösen, kulturellen Autonomie und bereitwilliger Übernahme der fremden Kultur hervor. Essentiell ist m. E. das Problem der (schwachen) Institutionen als kommunizierende Röhren (vgl. Daran Acemoglu / James Robinson: Why Nations Fail. New York 2012): Säkulare Bildungseinrichtungen hätten in Osteuropa zur gleichen Kalamität geführt wie in Deutschland, nämlich einer akademischen Überproduktion, die kein Betätigungsfeld findet. Stellenweise versucht Lilienthal, der säkulare Apologet aus Deutschland, für rechtliche Emanzipation zu werben, die 50 Verst-Grenze zu lockern, aber die anderen Institutionen können nicht Schritt halten im zaristischen Reich. Die Öffnung durch Bildung und der Universalismus der profanen Bildung hatte in Deutschland die oben genannten tragischen Folgen; die Öffnung auch der geschlossenen jüdischen Kultur Osteuropas gelang nicht in dem Maße, wie dies in Deutschland der Fall war.

Das Erzählen, mittels Rückgriffs auf beachtlich viele Primärquellen, macht den Leser manchmal ungeduldig, zumal manche Fragen und Infragestellungen nahe liegen. Die Herausforderung, die nicht nur in Raum und Zeit, sondern auch sonst höchst heterogenen Personengruppen durch die Denkfigur der translatio scientiae im Kampf um eine reformierte Erziehung zusammenzuhalten, meistert der Autor überzeugend. Ihm gelingt es, die Übersicht in der historisch-kulturellen Entwicklung sowohl der Empfänger- als Mittlerkultur zu behalten. Als nachteilig könnte empfunden werden, dass allgemeine Beobachtungen zur Wahrnehmung der deutschen Juden sich primär aus Quellen aus dem 19. Jahrhundert (Jost, Graetz u.v.a.) speisen – man kann das aber auch als Authentizitätsgewinn ansehen. Erst im Kapitel IV. werden die Primärquellen zugunsten der kritischen Perspektive des Erklärens aufgegeben. Das hätte früher erfolgen können. Das Festhalten am „Kulturtransfer“ kann fokussieren oder aber den Blick einschränkten. Das Prinzip Tora v derech erez ist mit missionarischem und paternalistischem Eifer auf die besprochenen osteuropäischen Länder mehr appliziert als übertragen worden. Für die Ostjuden ist, wie Grill den Feldrabbiner Dr. Siegbert Neufeld zitiert, „unverständlich, daß man Jude und Deutscher zugleich sein kann“ (S. 341). Ein Orts- und Personenregister runden die Publikation, die mit den Kapiteln Heimkehr ins Judentum und Schlussbetrachtung nachdenklich schließt, ab. Die von Grill beschriebenen Kulturtransferprozesse sind ein höchst markantes Paradigma im historischen Gang des eadem sed aliter (vgl. Schopenhauers Über Geschichte). Die einstige Wanderrichtung „der Westen im Osten“ existiert so heute nicht mehr.

Angelina Jedig, Bamberg

Zitierweise: Angelina Jedig über: Tobias Grill: Der Westen im Osten. Deutsches Judentum und jüdische Bildungsreform in Osteuropa (1783–1939). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. 389 S. = Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, 19. ISBN: 978-3-525-57029-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Jedig_Grill_Der_Westen_im_Osten.html (Datum des Seitenbesuchs)

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