Christian Pletzing, Marianne Pletzing (Hrsg.) Displaced Persons. Flüchtlinge aus den baltischen Staaten in Deutschland. Mit einem Geleitwort von Vaira Vīķe-Freiberga. Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung München 2007. 246 S., Tab., Abb. = Colloquia Baltica, 12. ISBN: 978-3-89975-066-9.

Unter allen Nationalgruppen, die von den Alliierten 1944/45 als „displaced by reasons of the war“ vorgefunden wurden, stellen die DPs aus den baltischen Staaten die vielleicht farbigste, ganz sicher aber die am wenigsten erforschte Gruppe dar. Allein schon die Tatsache, dass Esten, Letten und Litauer unter eine einzige Gruppe subsumiert werden, lässt aufhorchen. Sie ist vielleicht auch ein Reflex des Sachverhalts, dass die westlichen Alliierten die sowjetische Annexion der drei baltischen Staaten völkerrechtlich unterschiedlich einstuften. Andererseits ist aus den „Baltic DP Camps“ bekannt und besser belegt als für Lager anderer DP-Nationalgruppen, dass ein überwiegend kulturell geprägter Wille der nationalen Identitätswahrung zu einem oft als musterhaft bewerteten Lagerleben geführt hat – Spiegelbild des hohen numerischen Anteils von Intellektuellen und Künstlern. Und endlich war die Gruppe der außerhalb der Lager befindlichen „free living DPs“ bei den baltischen DPs höher als bei jeder anderen Gruppe. Vielfach waren sie die Trägerschicht der heute in der Bundesrepublik existierenden drei „Volksgemeinschaften“ der Esten, Letten und Litauer.

Diese komplexe und zugleich disparate Verfassung der Lebenswirklichkeit baltischer DPs sucht der vorgelegte Sammelband zu vermitteln. Er vereint Überblicksdarstellungen, die Fokussierung von Integrationshemmnissen und Porträts einzelner Berufsgruppen und individueller Personen und reicht bis hin zur Mitteilung über archivalische Sammlungen und Bestände und Zeitzeugenberichte. Besonders willkommen sind die zeitgenössischen, meist ungelenken Bilder, da sie den Namen ein Gesicht und den Lebensverhältnissen Anschaulichkeit verleihen. Die Heterogenität dieser Perspektiven ist beides zugleich: eine Markierung von Forschungs­desideraten und ein Abbild realgeschichtlicher Verfassungen der baltischen DPs. Wenn man von der Inhaltsseite auf die Autorenseite blickt, zeigt sich eine interessante Mischung der Autorinnen und Autoren nach Lebensalter und biographischem Bezug. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik geboren und ist im Zuge der Entwicklung von Forschungsinteressen zu diesem thematischen Komplex geführt worden. Ihre Beiträge vermitteln vor allem die Forschungsimpulse dieses Bandes, sichern seine Professionalität ab und verhindern, dass er in der Erinnerungskultur stecken bleibt.

Den gut informierten Überblick der Statusentwicklung der DPs zu „Heimatlosen Ausländern“ – ich würde diesen Rechtsbegriff immer groß schreiben – von Tillmann Tegeler (S. 13–27) setzt Dorothee M. Goeze (S. 29–61) mit einer analog geordneten Schilderung der Photo-Sammlung Hintzer im Herder-Institut in Marburg/Lahn fort. Das alltägliche Lagerleben wird hier durch bildliche Überlieferung transparent. Wichtig ist auch, dass die originalen Bildlegenden beibehalten wurden, sofern sie erhalten geblieben sind. Bei Abb. 6 (S. 37) ist es irrig, Frederik Morgan als „UNRRA-General“ zu bezeichnen; der Chefplaner der alliierten Landung in der Normandie war britischer Armeegeneral; die UNRRA besaß zivile Ränge. Stefan Schrö­ders Beitrag „Nachbarschaft und Konflikt“ (S. 63–83) widmet sich einem Thema, das ein sicher abwägendes Urteil verlangt und daher besonders anspruchsvoll ist. Auch wenn er eine relative Konfliktarmut zwischen den Deutschen und den baltischen DPs feststellt, gibt es dafür doch keine einfachen Gründe. Für die deutsche Seite macht er geltend, dass sie sich „vom mentalen Gepäck der NS-Zeit noch längst nicht verabschiedet“ (S. 83) hatte. Christian Pletzing trägt ein Stück Regionalgeschichte bei (S. 85–106), indem er Lübeck als „Stadt der Displaced Persons“ vorstellt. Ihm gelingt es, die numerische Entwicklung zu klären, er kann dafür auch die lettischen Lagerzeitungen und sogar Selbstzeugnisse auswerten. Seine Perspektive reicht indessen über Lübeck als Station hinaus; er begleitet die DPs in ihre künftigen Aufnahmeländer und deutet die dort fortbestehenden Probleme bei der sozialen und psychischen Integration an. Svet­lana Červonnaja zeichnet ein Bild von der Genese des Eigenbewusstseins litauischer DPs und ihrer Selbstorganisation, vor allem mit Blick auf die litauische Kultur im Exil (S. 107–138), deren Zentren sich allerdings in die USA verlagert haben. Ingo Hoddick beleuchtet zwei Musiker-Biographien (S. 139–148), Andreas Fülberth einen lettischen Schriftsteller in Westfalen (S. 149–164). Es folgen zwei forschungsorientierende Beiträge, nämlich der über die Bestände des estnischen Zonenarchivs von Peter Wörster (S. 165–174), z.T. mit sehr detaillierten Bestandsangaben, und die Aufschlüsselung des im Internet verfügbaren Archivs gut beschrifteter Fotos zum Alltag lettischer DPs von Daina Zalane (S. 175–198). Zeit­zeugenberichte von Vilma Brinkmann (S. 201–206), Irēna Mirdza Stoewer (S. 207–213) und Elena Ba­li­ulis (S. 215–221) beschließen das Werk.

Der sorgfältig edierte Band versteht sich vor allem als Anreiz zu weitergehenden Forschungen. Dass mit dem politischen, sozialen, kulturellen und persönlichen Schicksal baltischer DPs ein würdiger Gegenstand vorliegt, hat er überzeugend deutlich gemacht.

Wolfgang Jacobmeyer, Münster

Zitierweise: Wolfgang Jacobmeyer über: Christian Pletzing, Marianne Pletzing (Hrsg.): Displaced Persons. Flüchtlinge aus den baltischen Staaten in Deutschland. Mit einem Geleitwort von Vaira Vīķe-Freiberga. Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung München 2007. 246 S., Tab., Abb. = Colloquia Baltica, 12. ISBN: 978-3-89975-066-9., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 135-136: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Jacobmeyer_Pletzing_Displaced_Persons.html (Datum des Seitenbesuchs)