Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 66 (2018), 1, S. 158-160

Verfasst von: Jens Hoppe

 

Svenja Bethke: Tanz auf Messers Schneide. Kriminalität und Recht in den Ghettos Warschau, Litzmannstadt und Wilna. Hamburg: Hamburger Edition, 2015. 317 S. = Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. ISBN: 978-3-86854-295-0.

Was bedeuten Kriminalität und Recht für eine Zwangsgemeinschaft von Juden, die unter einem sich stetig verschärfenden Verfolgungsdruck in den von den deutschen Besatzungsorganen eingerichteten Gettos leben mussten? Welchen Zweck hatte die Festsetzung von Rechtsnormen und deren Durchsetzung, wenn jede Frau und jeder Mann unter Todesdrohung lebte? Wem dienten also Definitionen von kriminellem Handeln in den „Großgettos“ Warschau, Lodz und Wilna? Diesen und ähnlichen Fragen geht Svenja Bethke in ihrer preisgekrönten Dissertation nach.

Untersuchungen der Judenräte, der jüdischen Ordnungsdienste in den Gettos, aber auch einzelner Beteiligter haben eine lange Geschichte. Die Auseinandersetzung mit Kriminalitätsvorstellungen ist dabei jedoch weitgehend unterblieben. Hier setzt Svenja Bethke an: Sie zeigt auf breiter Quellengrundlage im Vergleich der genannten drei Gettos, dass sich das bekannte Dilemma der Judenräte zwischen Erfüllung deutscher Forderungen und der Rettung der jüdischen Gettobewohner in besonderer Weise im Bereich der gettointernen Rechtssphäre verdichtet (S. 10). Angesichts der deutschen Vernichtungspolitik waren beide Ziele indes nicht vereinbar, sodass die deutschen Forderungen, die letzten Endes auf die Ermordung aller Gettobewohner abzielten, die Oberhand behielten.

Nach einer knappen Einführung nähert sich Svenja Bethke im ersten Kapitel zur Lebenswelt Getto ihrem Untersuchungsgegenstand. Sie kommt hierbei zu dem Schluss, dass die Definitionen von kriminellem Handeln in den Gettos das Überleben eines Teils der Gettobewohner sicherstellen sollten. Daher waren diese Bestimmungen eng daran geknüpft, welche deutschen Maßnahmen die Judenräte erwarteten. Entsprechend sollte aus der Sicht der Judenräte die Festsetzung von Rechtsnormen im Getto für die jüdischen Gettobewohner ein Mindestmaß an sozialer Stabilität gewährleisten (S. 38). Interessanterweise geht die Autorin davon aus, dass das Judesein für das Verhalten in der „Lebenswelt Getto“ nicht entscheidend war (S. 29). Sie tut dies, obgleich sie selbst im fünften Kapitel zu den Getto­gerichten auf spezifisch jüdische Rechtsvorstellungen eingeht. Somit – und hier positioniert sich der Rezensent deutlich anders – müsste nicht in Anlehnung an Dan Diner, sondern in Anlehnung an Samuel Gringauz sehr wohl beachtet werden, dass Juden mit spezifisch jüdischen Rechtserfahrungen sowie spezifisch jüdischen Werte- und Normenvorstellungen in den Gettos lebten. Man denke nur an die Bedeutung der Zedaka, die Tradition einer Verantwortungsübernahme für die jüdische Gemeinschaft durch Einzelne und interne Rechtsregelungen auf der Basis von Thora und Talmud. Um es vorwegzunehmen: Dies ist ein Schwachpunkt der ansonsten hervorragenden Arbeit.

Im zweiten Kapitel schildert Svenja Bethke die allgemeinen Rahmenbedingungen und die Überlebensstrategien der Judenräte in Warschau, Litzmannstadt und Wilna. Dabei bietet sie zugleich einen kurzen Abriss der jeweiligen Gettogeschichte. Das nächste Kapitel untersucht die Definitionen von kriminellem Handeln durch die Judenräte. Zentral ist, dass Kriminalitätsdefinitionen Zuschreibungen durch spezifische Akteure sind und hauptsächlich sicherstellen sollten, dass das Handeln Einzelner nicht die gesamte Gettobevölkerung gefährdete (S. 122).

Im vierten Kapitel wird die jüdische Polizei als Ausführungsorgan des Judenrates näher betrachtet, bevor sich der umfangreichste Abschnitt den gettointernen Gerichten zuwendet. Da die Deutschen stets den letzten Zugriff hatten und wiederholt verurteilte Juden von ihnen abgeholt und ermordet wurden, wird offensichtlich, in welch begrenztem Maße tatsächlich eigenständige Rechtsprechung möglich war. Nach den Gettogerichten folgt im sechsten Kapitel der Blick auf die von den Gerichten ausgesprochenen Strafen und den gettointernen Strafvollzug. Beispielsweise gab es im Getto Litzmannstadt Familienbestrafungen – wenn Kinder oder Ehepartner kriminell handelten, mussten die Familien büßen, etwa durch Entzug der Unterstützung oder der Arbeitsstelle, was Hunger und damit vielfach Tod bedeutete. Die Gettogefängnisse waren in den deutschen Apparat einbezogen, denn deutsche Stellen überwiesen Juden in die Gefängnisse und machten zugleich zur Auflage, dass diese Häftlinge für die Gestapo bereitzuhalten waren.

Im vorletzten Kapitel widmet sich Svenja Bethke dem Blick der „einfachen“ Gettobewohner. Dabei zeigt sich, dass insbesondere vor der Zeit der Massendeportationen die jüdische Polizei von den Gettoinsassen durchaus wie eine „normale“ Polizei angesehen und daher akzeptiert wurde. Laut der Autorin wurden die meisten kriminellen Handlungen nicht aus der Absicht heraus, Widerstand gegen die deutschen Besatzer zu leisten, vorgenommen, sondern waren oftmals dem Überlebenswillen der Juden geschuldet.

In den Schlussbetrachtungen formuliert Svenja Bethke grundlegende Befunde. Sie kann die Annahme einer kaum vorhandenen Kriminalität in den Gettos aufgrund einer besonderen jüdischen Moral auf Grundlage der von ihr genutzten Quellen nicht bestätigen. Vielmehr gehörte kriminelles Handeln durch Juden in einem gewissen Rahmen zum Lebensalltag. Darüber hinaus macht sie vier Deliktkategorien fest, und zwar 1. Delikte, die von den deutschen Besatzern definiert wurden; 2. Delikte, die von den Judenräten als Gefahr für die Gettogemeinschaft angesehen worden sind; 3. Handlungen, die sich gegen Gettoinstanzen richteten und 4. klassische Delikte wie Raub und Mord. Nicht explizit genannt wird an dieser Stelle bewaffneter Widerstand gegen die Deutschen, doch fällt dieser unter die Kategorie 2, da er zwangsläufig eine Gefahr für alle Gettoinsassen bedeutete. Wichtig ist zudem die nicht neue, aber doch zu betonende Erkenntnis, dass es stets Grauzonen gab, in denen sich Einzelne bewegten. Auch wenn die Autorin dies nicht explizit ausdrückt, wird deutlich, dass Juden in den Gettos Subjekte waren, die sich auf bestimmte Weisen verhielten, weil sie es wollten und nicht nur, weil sie durch die Besatzer dazu gezwungen wurden.

Carlo A. Haas hat in seiner Rezension für „H-Soz-Kult“ bereits darauf hingewiesen, dass das Getto Litzmannstadt diese Dissertation dominiert. Der Vergleich gelingt also nur bedingt, hilft aber die Befunde auf eine breitere Basis zu stellen. Insbesondere für die Schlussbetrachtungen wäre es sinnvoll gewesen, weitere Gettos wie Kaunas und Białystok heranzuziehen. Gerade für letzteres liegen zahlreiche Protokolle des Judenrates und Bekanntmachungen vor, die diverse Rechts- und Kriminalitätsbezüge enthalten. Da das von Svenja Bethke herangezogene Lebenswelt-Konzept sehr umfassend ist, hätten zusätzliche Gesichtspunkte betrachtet werden müssen. Dies gilt insbesondere für Gender-Aspekte, die völlig unterbelichtet bleiben, obwohl Hinweise auf Geschlechterspezifika an zahlreichen Stellen ihrer Arbeit zu finden sind. Dies ist ein weiteres Manko. Das Fehlen eines Sachregisters ist bei Dissertationen leider weit verbreitet, obwohl dadurch der Wert einer solchen Arbeit deutlich geschmälert wird, und so fehlt ein solches auch in diesem Fall.

Bei aller Kritik bleibt festzuhalten, dass Svenja Bethkes Dissertation grundlegende Informationen zu Kriminalität und Recht bietet, die so noch nie aufbereitet wurden. In den behandelten Fällen wird zudem die Lebenswirklichkeit in den Gettos immer wieder drastisch deutlich, etwa wenn eine „Kinderbande“ im Getto Wilna benannt oder die Beraubung einer Leiche behandelt wird. Daher kann sie allen an der Erforschung der Gettos unter deutscher Besatzungsherrschaft Interessierten nur empfohlen werden.

Jens Hoppe, Frankfurt/Main

Zitierweise: Jens Hoppe über: Svenja Bethke: Tanz auf Messers Schneide. Kriminalität und Recht in den Ghettos Warschau, Litzmannstadt und Wilna. Hamburg: Hamburger Edition, 2015. 317 S. = Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. ISBN: 978-3-86854-295-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hoppe_Bethke_Tanz_auf_Messers_Schneide.html (Datum des Seitenbesuchs)

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