Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 307-308

Verfasst von: Bert Hoppe

 

Kaliningrad in Europa. Nachbarschaftliche Perspektiven nach dem Ende des Kalten Krieges. Hrsg. von Stefan Berger. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 207 S., 5 Abb., 2 Tab. = Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 14. ISBN: 978-3-447-06163-6.

Als die Sowjetunion zerfiel, verlor die Sowjetologie viel von ihrem esoterischen Reiz: Seit 1991 steht Historikern und Politikwissenschaftlern ein so breiter Quellenfundus zur Verfügung, um die russische Politik in Vergangenheit und Gegenwart zu analysieren, dass sich die jahrzehntelang eingeübte Praxis spekulativer Erörterungen weitgehend erübrigt hat. Es gibt jedoch noch einige Nischenthemen, die Publizisten und Wissenschaftler Gelegenheit bieten, weiterhin fröhlich drauflos zu rätseln. Dazu gehört auch die „Kaliningrad-Frage“.

Dieses Thema als „Frage“ zu charakterisieren, bezeichnet schon das entscheidende Problem: In einem Europa mit klar gezogenen Grenzen überfordert der Sonderfall einer territorialen Exklave die Phantasie vieler Beobachter, und zwar sowohl innerhalb Russlands wie innerhalb der nun erweiterten Europäischen Union. Angesichts der nach 1991 aufblühenden wilden Spekulationen um die Entwicklung Kaliningrads muss man sich wundern, dass das Gebiet nicht längst in dem von Pessimisten häufig beschworenen „schwarzen Loch“ verschwunden ist.

Einen Überblick über den Diskurs der europäischen Nachbarn bezüglich des Kaliningrader Gebiets erhält man nun in dem von Stefan Berger herausgegebenen Band über „Kaliningrad in Europa“. Die insgesamt sieben Aufsätze beleuchten sowohl den Blick der unmittelbaren Anrainer Polen und Litauen als auch den Blick der skandinavischen Länder sowie Deutschlands und der EU auf die russische Exklave an der Ostsee. Über die „nachbarschaftlichen Perspektiven“ dieser Exklave nach dem Ende des Kalten Krieges erfährt man auf den 200 Seiten des Buches allerdings wenig.

Das liegt zum einen daran, dass von einer lebendigen Nachbarschaft bislang noch keine Rede sein kann: Wie beispielsweise Ewa Romanowska in ihrem Beitrag über den Blick Polens auf das Gebiet darlegt, besteht nicht einmal im heute polnischen Teil des ehemaligen Ostpreußen ein großes Bedürfnis an einem engeren Austausch mit Kaliningrad – die russische Exklave wird entweder immer noch als geopolitische Bedrohung wahrgenommen oder mit der intensive Schmuggeltätigkeit der letzten beiden Jahrzehnte in Verbindung gebracht. Ähnlich ist die Lage in Litauen, wie dem Aufsatz von Diana Janušauskienė zu entnehmen ist – als Transitland zwischen Kaliningrad und dem „großen Russland“ ist man dort für Sicherheitsfragen besonders sensibel. Weniger sensibel haben sich manche litauische Politiker dagegen erwiesen, wenn es darum ging, nach 1991 Ansprüche auf Teile von „Klein-Litauen“ anzumelden.

Wirklich spannend sind die Beiträge dieses Buches allerdings nicht – vor allem deshalb, weil die Verfasser weitgehend an der Oberfläche bleiben. Es finden sich in den Band kaum Informationen, die ein halbwegs interessierter Zeitgenosse in den letzten Jahren nicht auch der Zeitung hätte entnehmen können. Bezeichnend ist, dass in dem 17-seitigen Beitrag über die Beziehungen Litauens zu Kaliningrad lediglich eine Seite den wirtschaftlichen Beziehungen gewidmet ist.

Wer also ‚harte‘ Fakten jenseits der Aufzählung sämtlicher EU-Partnerschaftsprogramme für Kaliningrad sucht, wird von diesem Buch enttäuscht sein. Stattdessen werden erneut die bereits vielfach und eingehend behandelten ‚weichen‘ Themen „Identität“ und „Vergangenheitspolitik“ besprochen. Das sind im Verhältnis zwischen Russland und seinen Nachbarn sicherlich wichtige Themen. Aber welcher Erkenntnisgewinn soll ausgerechnet daraus entspringen, auf ein Neues darüber zu spekulieren, ob die Bevölkerung Kaliningrad dereinst separatistische Neigungen entwickeln wird? Geradezu bizarr ist schließlich, dass der mit über 60 Seiten bei weitem umfangreichste Aufsatz des Buches, den der Herausgeber selbst beigesteuert hat, fast ausschließlich davon handelt, was die Deutschen über die Identitätssuche der Kaliningrader schreiben und wie sie die russischen Feiern zum 750. Gründungstag von Königsberg bewerten. Kann man tiefer in den eigenen Nabel schauen?

Bert Hoppe, Berlin

Zitierweise: Bert Hoppe über: Kaliningrad in Europa. Nachbarschaftliche Perspektiven nach dem Ende des Kalten Krieges. Hrsg. von Stefan Berger. Wiesbaden: Harrasowitz Verlag, 2010. = Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 14. ISBN: 978-3-447-06163-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hoppe_Berger_Kaliningrad_in_Europa.html (Datum des Seitenbesuchs)

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