Jeff Sahadeo Russian Colonial Society in Tashkent, 1865–1923. Indiana University Press Bloomington and Indianapolis, IN 2007. XI, 316 S., Abb., Ktn.

Anregungen aus den postcolonial studies sind für die Geschichtsschreibung des Zarenreiches lange nur zögernd aufgenommen worden. Ein Grund für diese Skepsis ist die nach wie vor nicht vollständig geklärte Frage, inwiefern das Zarenreich in eine Reihe mit den westeuropäischen Kolonialmächten gestellt werden kann und ob Modelle, die anhand des britischen und französischen Kolonialismus entwickelt worden sind, auch die Besonderheiten des Zarenreichs ausreichend erfassen.

Jeff Sahadeo stellt sich mit dem vorliegenden Buch auf die Seite derer, die es für sinnvoll halten, Methoden der postcolonial studies auch auf das Zarenreich anzuwenden, und argumentiert anhand der Geschichte Taškents überzeugend, dass sich das Zarenreich in der kolonialen Praxis nicht wesentlich von den westeuropäischen Kolonialmächten unterschieden habe: Die imperialen Akteure an der Peripherie hatten eine klare europäische Identität, und die eurasischen oder slavophilen Positionen, über die in Petersburg so erbittert gestritten wurde, waren vor Ort nicht vertreten. Unterschiede zu den westeuropäischen Kolonialmächten sieht Sahadeo daher weniger in einem besonderen Zugang zu Asien, sondern lediglich in einem gespannten Verhältnis zur russischen Identität (S. 70–71).

Der Autor schildert die Geschichte Taškents von der Eroberung im Jahr 1865 bis zur frühen Sowjetzeit als eine Geschichte des beständigen Ringens zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen um Macht und Privilegien. Zentral sind für Sahadeo dabei Begriffe wie Zivilisation und Fortschritt, die von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen für ihre jeweils eigenen Ziele eingesetzt wurden.

Die erste Generation der imperialen Verwalter in Taškent war noch davon überzeugt, dass es die Bestimmung des Zarenreichs sei, Zivilisation in eine rückständige Gesellschaft zu bringen. Doch als um die Jahrhundertwende die Überlegenheit der Einheimischen in zentralen Bereichen offenkundig wurde, und zugleich Massen verarmter Siedler aus Zentralrussland und der Ukraine ins Land strömten, geriet das zivilisierte Selbstbild der russischen Elite ins Wanken. Russische liberale Intellektuelle und sozialistisch geschulte Eisenbahnarbeiter stellten der autokratischen Militärverwaltung eigene Fortschrittsmodelle gegenüber, die Gleichheit und Freiheit versprachen. Dabei bemühten sie sich aber, Argumente zu finden, warum diese Gleichheit nicht auch für die einheimische Bevölkerung gelten sollte. Auch islamische Reformer hefteten sich den Fortschritt auf ihre Fahnen und kritisierten den traditionellen Klerus als rückständig. Und ebenso wie die traditionellen Geistlichen bemühten sich auch die Reformer um Zugang zu den Machtzentralen der imperialen Verwaltung, die auf Mediatoren unter den Einheimischen angewiesen war. So belegt Sahadeo eindrücklich, dass die Dichotomie von Kolonialherren und Einheimischen nicht ausreicht, um das komplexe Beziehungsgeflecht einer kolonialen Gesellschaft nachzuzeichnen: „Alliances and rivalries crossed as well as enforced ethnic, national, class, gender, religious, and generational boundaries“ (S. 2).

Um dieser Komplexität gerecht zu werden, greift Sahadeo auf eine große Bandbreite von Quellen zurück: Neben russischen und einheimischen Zeitungen verwendet er vor allem Dokumente aus Archiven in Taškent, St. Petersburg und Moskau. Sahadeo bemüht sich, auch marginalisierten Gruppen Gehör zu verschaffen, indem er etwa in Polizeiprotokollen Aussagen von ungebildeten Arbeitern und von Frauen aus der Unterschicht ausfindig macht. Auf diese Weise stellt Sahadeo die Vielstimmigkeit der kolonialen Gesellschaft überzeugend dar.

Hingegen verzichtet Sahadeo bei der Auswahl der Sekundärliteratur auf diese Vielstimmigkeit und ignoriert die uzbekische Historiographie offenbar völlig. Obwohl er bei den Primärtexten den Eindruck erweckt, durchaus Uzbekisch zu können, stützt er sich nur auf englisch- und russischsprachige Fachliteratur und berücksichtigt nicht, dass uzbekische Historiker wie Ha­mid Zi­jaev einen Teil der von ihm verwendeten Quellen bereits ausgewertet haben und teilweise auch zu den gleichen Schlüssen gekommen sind. Gerade die postcolonial studies fordern eine ständige Reflexion über den eigenen Standpunkt im (post-)kolonialen Machtgefüge. Es ist unverständlich, dass ein Autor, der bei der Analyse von Machtstrukturen durchaus überzeugend postkoloniale Methoden einsetzt, diese Reflexion bei der eigenen Arbeit vermissen lässt.

Ulrich Hofmeister, Wien

Zitierweise: Ulrich Hofmeister über: Jeff Sahadeo: Russian Colonial Society in Tashkent, 1865–1923. Indiana University Press Bloomington and Indianapolis, IN 2007. ISBN: 978-0-253-34820-3, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 439-440: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hofmeister_Sahadeo_Russian_Colonial_Society.html (Datum des Seitenbesuchs)