Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 496-498

Verfasst von: Alexis Hofmeister

 

Verena Dohrn: Jüdische Eliten im Russischen Reich. Aufklärung und Integration im 19. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2008. 482 S., Abb., Ktn. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 44. ISBN: 978-3-412-20233-0.

Die christlichen Völker mußten zuerst sich selber aus dem mittelalterlichen Obskurantismus befreien, bevor sie in der Lage waren, auch die Juden zu emancipieren. Nun was Wunder, daß unsere moderne Liturgie von Anfang an im Geiste der Assimilation reformiert wurde! Die Göttin des 19. Jahrhunderts, die den Titel „Civilisation“ trägt, hat Niemanden so leicht verführen können wie die emancipierten Juden. Jetzt aber, am Anfange des 20. Jahrhunderts, da die Verblendung der Scheincivilisation schon lange vorüber ist, die Fabel von den drei Ringen blos Fabel geblieben ist und ein nüchterner Geist im gesamten Leben Israels sich rege macht, ist es auch unsere Pflicht, eine universelle Liturgie, auf religiösen und nationalen Principien aufgebaut, für die Synagoge zu schaffen.“ (P. Minkovsky: Die Entwicklung der synagogalen Liturgie bis nach der Reformation des 19. Jahrhunderts. Odessa 1902, S. 59–61) Diese Zeilen aus der Feder von Pinchas Minkovsky (1859–1924), der 30 Jahre als Oberkantor in der Brodyer Synagoge zu Odessa wirkte, sind symptomatisch und sie verdeutlichen, dass die Ideale der europäischen wie der jüdischen Aufklärung zu Beginn des 20. Jahrhunderts von vielen russländischen Juden kritisch gesehen wurde. Ein mehr oder weniger liberaler Nationalismus hatte unter den Gebildeten die Hoffnung auf baldige Gleichberechtigung mit den anderen Untertanen des Zaren sowie auf die Aufklärung als Heilmittel für die sich immer radikaler äußernde Judenfeindschaft abgelöst. Die „jüdische Aufklärung“ (Haskalah) blieb seitdem umstritten; die Auslöschung jüdischen Lebens in Osteuropa durch den Judenmord der Shoa trug dazu bei, sie als „dead end“ der jüdischen Nationalgeschichte erscheinen zu lassen. Allerdings ist die Frage ihrer Beurteilung nach dem Ende der Sowjetunion erneut gestellt worden. Die Anzahl der Arbeiten zur Geschichte der Juden im Russischen Reich ist nach der Öffnung der Archive in der Russischen Föderation sowie der Ukraine und in Belarus nach oben geschnellt. Eine neue Generation von Forscherinnen und Forschern hat neue Fragen an altbekannte Texte gestellt. Damit verbunden war eine Revision der Mythen der osteuropäisch-jüdischen Geschichte, wie sie von Hans Rogger (1923–2002) und John D. Klier (1944–2007) vorbereitet worden war (Hans Rogger: Jewish Policies and Right-Wing Politics in Imperial Russia. Berkeley, CA 1986; Viktorija V. Močalova [Hrsg.]: Problemy evrejskoj istorii – Questions of Jewish History. Materialy naučnoj konferencii centra „Sefer“ po iudaike 2007 goda – pamjati Professora Džona Dojla Klira. T. 1. Moskva 2008; John D. Klier: Russians, Jews, and the Pogroms of 1881–1882. Cambridge 2011; Jonathan Dekel-Chen [Hrsg.]: Anti-Jewish Violence. Rethinking the Pogrom in East European History. Bloomington, IN 2011; Eugene M. Avrutin [Hrsg.]: Jews in the East European Borderlands. Essays in Honor of John D. Klier. Boston, MA 2012). Aus naheliegenden Gründen ist ein Großteil entsprechender Forschungen in den USA, in Deutschland, den Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie in Israel entstanden. Eine folgenreiche Deutung der Bezeichnung „jüdische Aufklärung“ unternahm Olga Litvak (Olga Litvak: Haskala. The Romantic Movement in Judaism. New Brunswick 2014). Sie kritisiert die geläufige Epochenbezeichnung „Aufklärung“ mit all ihren Implikationen für die jüdische Geschichte Osteuropas im 19. Jahrhundert. Allzu selbstverständlich werde der neuhebräische Begriff „Haskalah“ mit „jüdische Aufklärung“ übersetzt. Stattdessen schlägt Litvak vor, die Bezeichnung „Romantik“ zu benutzen, die im synchronen Vergleich mit der außerjüdischen Geistes- und Ideengeschichte passender erscheint. Wer dagegen der Auffassung von der „Haskalah“ als jüdischer Aufklärung folge, nehme die Selbstdeutung der selbsterklärten „jüdischen Aufklärer“, der maskilim für bare Münze. Litvaks Interpretation speist sich vor allem aus jenen Texten, die die „jüdischen Aufklärer“ selbst verfassten. Literarische Texte, etwa des jiddischen Schriftstellers und maskil Sholem Aleichem (1859–1916) prägten das populäre Bild ostjüdischen Lebens auch über den Bereich der jüdischen Öffentlichkeit hinaus und verstärkten diese Deutung. Um die von Olga Litvak angestoßene Debatte zu führen, ist es hilfreich, neuere bildungsgeschichtliche Arbeiten zur Kenntnis zu nehmen, denn Bildung war zugleich Anspruch wie auch wichtigster Kompetenzbereich jener Männer, die sich als jüdische Aufklärer verstanden.

Neben drei amerikanischen Dissertationen zur Geschichte der jüdischen Schulen (Steven G. Rappaport: Jewish Education and Jewish Culture in the Russian Empire, 1880–1914. Ann Arbor, MI 2000, zugl. Diss. Stanford Univ. 2000), der jüdischen Frauenbildung (Eliyana R. Adler: In Her Hands. The Education of Jewish Girls in Tsarist Russia. Detroit 2011) und der sogenannten „gelehrten Juden“ – einem Amt beim Gouverneur (Vasily Shchedrin: Jewish Bureaucracy in Late Imperial Russia. The phenomenon of Expert Jews 1850–1917. Ann Arbor, MI 2010, zugl. Diss. Brandeis Univ., Waltham, 2010), ist es die in Göttingen vorgelegte Habilitationsschrift von Verena Dohrn, die im Kern die Geschichte der beiden russländischen Rabbinerseminare in Vilna und Zhytomir untersucht. Die Überlieferungsgeschichte ihrer Quellen verlangte von Verena Dohrn, keine reine Institutionengeschichte zu erzählen. Ausführlich wird die Forschungsgeschichte der Haskalah im Russischen Reich, die sich in wenigstens vier Sprachen, nämlich Deutsch, Hebräisch, Russisch und Jiddisch nachlesen lässt, referiert sowie in die jeweiligen historiographischen Traditionen eingeordnet. Vor allem werden beide Institutionen in das Gefüge der für Juden zugänglichen Bildungseinrichtungen von der Elementarschule (cheder) bis zur russländischen oder westeuropäischen Universität eingeordnet. Das ist auch deswegen von Bedeutung, weil die Bildungsbiographien der meist jungen Männer, die in die staatlichen Rabbinerseminare eintraten, schon vor dem ersten Unterrichtstag begonnen hatten und nicht mit der Abschlussprüfung endeten. Eine jüdische Bildung hatten die meisten von ihnen in ihrer Kindheit und Jugend erhalten. Ein Karriereweg im Staatsdienst als Kronrabbiner eröffnete sich dagegen den wenigsten. Stattdessen arbeiteten viele der Absolventen ihrerseits als Lehrer in jüdischen Schulen. Eine neue Bildungselite – weder Parias noch Parvenüs – formierte sich. Ein Mehrwert aus der Sicht der vergleichenden Imperienforschung ist das reiche Material zu den Biographien der Absolventen der Rabbinerseminare, das Dohrn in ihrer Studie u. a. in einem biographischen Anhang ausbreitet. Dohrn legt nicht nahe, dass alle Einwohner des Russischen Reiches imperiale Biographien qua Geburtsort gelebt hätten. Doch gerade anhand der weniger bekannten Lebensgeschichten ist die imperiale bzw. staatliche Einflussnahme auf die hier interessierende zweite und dritte Generation der „jüdischen Aufklärer“ nicht von der Hand zu weisen. Verena Dohrn demonstriert, wie das Zarenreich gerade seinen jüdischen Untertanen sozialen Aufstieg durch Bildung ermöglichte. Einschränkend muss freilich gesagt werden, dass diese Art von Bildung von den jüdischen Traditionalisten als Gefahr gesehen und bekämpft wurde. Da die jüdische Sozialstruktur ihre Legitimation aus dem Prestige religiösen Wissens bezog, war diese Wahrnehmung durchaus berechtigt. Die Ablehnung der Traditionalisten einerseits sowie der sich nach dem Ende der Großen Reformen im Russischen Reich zunehmend verdunkelnde innenpolitische Horizont andererseits – die 1847 eröffneten Rabbinerseminare wurden 1873 in Lehrerseminare umgewandelt und 1885 bzw. 1914 ganz geschlossen – machten die Absolventen der Rabbinerseminare zu „Menschen des Übergangs“. Ihre Autobiographien sprechen davon, dass sie sich oft selbst als „nichtjüdische Juden“ sahen. Es ist das Verdienst von Verena Dohrn, an das historische Gewicht dieser kleinen Gegenelite zu erinnern, deren Bedeutung für die imperiale Diasporagruppe par excellencedie Juden im Russischen Reich – gar nicht überschätzt werden kann. Dass die entscheidende Rolle des russländischen Staates bei der Formierung der jüdischen Bildungselite von Verena Dohrn als kolonial charakterisiert wird, mag immerhin als zu einseitig kritisiert werden.

Alexis Hofmeister, Basel

Zitierweise: Alexis Hofmeister über: Verena Dohrn: Jüdische Eliten im Russischen Reich. Aufklärung und Integration im 19. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2008. 482 S., Abb., Ktn. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 44. ISBN: 978-3-412-20233-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hofmeister_Dohrn_Juedische_Eliten_im_Russischen_Reich.html (Datum des Seitenbesuchs)

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