Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 340-341

Verfasst von: Andreas R. Hofmann

 

Marie-Pierre Rey: Leffroyable tragédie. Une nouvelle histoire de la campagne de Russie. Paris: Flammarion, 2012. 391 S., 19 Abb. ISBN: 978-2-0812-2832-0.

Veröffentlichungen aus Anlass historischer Jahrestage sind aus der Verlagspraxis offenbar nicht wegzudenken. Ein solches Kommissionswerk hat die an der Sorbonne lehrende Russlandhistorikerin Marie-Pierre Rey nunmehr zu Napoleons Feldzug von 1812 geschrieben. Auf gut 300 Seiten liefert sie einen gerafften Überblick über dessen Vorgeschichte seit dem Vertrag von Tilsit (1807), eine kurze Einführung in die Grande Armée und das Heerwesen Russlands im Verhältnis zu den jeweiligen gesellschaftspolitischen Systemen sowie in der Hauptsache eine chronologisch aufgebaute Darstellung der kriegerischen Ereignisse des Jahres 1812 selbst. Das Buch wendet sich besonders an eine mit dem Thema noch wenig vertraute Leserschaft, hält eine gute Balance zwischen Erzählfluss und anekdotischem Detail und informiert im wesentlichen zuverlässig. Der Untertitel einer „neuen Geschichte“ ist wohl eher dem Verlagsmarketing geschuldet. Denn die Endnoten lassen keinen Zweifel daran, wie viel das Werk seinen Vorgängern von Michaj­lovskij-Danilevskij über Tarlé bis Lieven verdankt. Auch eine umfangreichere und breiter auf eigene Archivforschung gestützte Arbeit dürfte heute Probleme haben, der fast nicht mehr überschaubaren Flut von Darstellungen zu 1812 noch einen unbeachtet gebliebenen Aspekt oder eine überraschende These hinzuzufügen.

Zweifellos hat die Autorin jedoch den selbst gestellten Anspruch (S. 10) eingelöst, die Sichtweisen beider kriegführender Parteien ausgewogen darzustellen und außer den militärischen auch zivile Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen. Neben ausgewählten französischen und insbesondere russischen Archivalien wird die einschlägige Memoiristik umfänglich, aber beileibe nicht erschöpfend ausgewertet; deutschsprachige Quellen wie z.B. Clausewitz werden meist nach französischen Ausgaben zitiert. Im Hinblick auf die Erfahrungsperspektive von unten stößt der Ausgewogenheitsanspruch an quellenbedingte Grenzen, da nur ein einziges Ego-Dokument eines einfachen russischen Soldaten bekannt ist, dessen Dienstzeit das Jahr 1812 einschloss (S. 66). Gewisse Unschärfen ergeben sich bei der multinationalen Zusammensetzung der Grande Armée. Denn obwohl die Autorin einen Überblick über den Aufbau der einzelnen Korps bei Beginn des Kriegs gegen Russland gibt (S. 53‒56), fehlen leider für den weiteren Verlauf die ordres de bataille, so dass der hohe Anteil nichtfranzösischer Soldaten ein wenig aus dem Blick gerät. Ebenso wenig finden sich Überlegungen zu Loyalität und Motivation von Napoleons nichtfranzösischen Truppen. Unversehens übernimmt Rey hier den Blick der russländischen Seite, die fast immer von „französischen Soldaten“ spricht, oder sie beschreibt das Verhalten der alliierten Truppen aus der meist sehr abschätzigen Perspektive der französischen Zeitzeugen (z.B. S. 217) ‒ spiegelt diese Sichtweise aber die Realität wider? Viele von der Autorin leider nicht weiterverfolgten Hinweise sprechen dafür, dass nicht erst der katastrophale Rückzug den Mythos Napoleons bei seinen Soldaten ‒ Franzosen wie Nichtfranzosen ‒ ins Wanken geraten ließ.

Unausweichlich folgt die Darstellung den bekannten Stationen des Feldzugs, von der Überschreitung des Nemen über die Einnahme von Wilna und Smolensk, die Schlacht bei Borodino, den Brand von Moskau, den verheerenden Rückzug und die Erzwingung des Übergangs über die Berezina bis zum Eintreffen der Überreste der Grande Armée in Wilna. Übrigens möchte man eigentlich nicht lesen, dass sich das Korps Davout Ende Oktober noch in „Gagarine“ befand (statt in Gžatsk; S. 238); eine ausführlichere Ortsnamenskonkordanz nebst vernünftigem Kartenmaterial anstelle weniger völlig unzulänglicher Skizzen hätten hier bessere Dienste geleistet als die durchgehende und zudem inkonsistente Verwendung der aktuellen Ortsnamen. Der Blick ist vielleicht allzu ausschließlich auf Napoleons Hauptarmee geheftet, während die nördlichen und südlichen Kriegsschauplätze einmal mehr etwas zu kurz kommen. Allerdings erfahren wir über das im Süden operierende österreichische Hilfskorps, dass es nur zum Schein Offensivoperationen durchführte und Metternich Alexander I. im Juli 1812 informieren ließ, dass Österreich keine ernsthaften Kriegshandlungen gegen Russland unternehmen würde (S. 265 f.). Über Napoleons zweiten unwilligen Alliierten, nämlich Preußen, schweigt sich Rey dagegen so gut wie völlig aus.

Die Autorin skizziert die Operationsgeschichte des Krieges nur in groben Zügen, was in Anbetracht von Intention und Zielgruppe des Buches sicher berechtigt ist. Allerdings interessiert sie sich auch nicht für die waffentechnischen und taktischen Bedingungen der damaligen Kriegführung, so dass die Zitate aus den Memoiren des Barons Larrey, des Chefchirurgen der Kaisergarde, über Massenamputationen und die Sterblichkeit in den Lazaretten vom unvorbereiteten Leser nicht recht eingeordnet werden können. Auch an anderen Stellen hätte man sich durchaus etwas mehr Kontext gewünscht. Beispielsweise bleibt der russische innenpolitische Hintergrund vage, vor dem sich die nur schwer nachvollziehbaren Intrigen innerhalb der russischen Armeeführung und deren strategische Entscheidungen abspielten. Was z.B. Kutuzov, den der Zar verabscheute und der sowohl in der Petersburger Hofgesellschaft als auch in der Armeeführung einen zurecht zweifelhaften Ruf genoss, abgesehen von seiner russischen Nationalität zum geeignetsten Kandidaten für den Oberbefehl machte und im russischen historischen Gedächtnis zur populären Identifikationsfigur werden ließ, bleibt vor diesem Hintergrund unklar, zumal Rey seine Rolle bei dem für den russischen Kriegseinsatz eminent wichtigen Friedensschluss mit dem Osmanischen Reich unerwähnt lässt. Insbesondere aber würde man sich eine ausführlichere Diskussion der Frage wünschen, was Napoleon davon abhielt, die Befreiung der Leibeigenen einzuleiten, um die endemische Unruhe der russländischen Landbevölkerung für seine Zwecke auszunutzen ‒ war es die Rücksicht auf den polnischen Verbündeten oder die Abneigung, die gesellschaftspolitischen Verhältnisse des Russländischen Reiches umzustürzen?

Bei allen Vorbehalten ist es eine der Stärken von Reys Darstellung, viele interessante Episoden und Einzelheiten zu thematisieren, die in den gängigen Darstellungen meist außen vor bleiben. Dazu zählt z.B. die Tatsache, dass viele Einheiten der Grande Armée ein halbes Jahr vor Erreichen ihrer Sammelstellungen den Marschbefehl erhielten, etwa aus Norditalien einen Anmarsch von 2000 km zurückzulegen hatten und auf dem Wege bereits schwere Verluste durch Krankheit und Erschöpfung erlitten, noch bevor der erste Schuss gefallen war. Die kriminell nachlässige logistische Planung des Feldzugs durch Napoleon, der nach dem Muster vorangegangener Feldzüge auf eine frühe Entscheidungsschlacht setzte, lässt erschaudern; von Vorbereitung auf die klimatischen Verhältnisse Russlands keine Spur. In Staub und Hitze des russländischen Sommers waren die Verluste an Menschen und Pferden bereits auf dem Hinmarsch unfassbar hoch. Noch während des Aufenthaltes in Moskau wurden trotz reichlich vorhandener Ressourcen keine Vorbereitungen auf den bevorstehenden Winter befohlen, sondern sie waren der Improvisation der einzelnen Soldaten und Kommandeure überlassen. Die Plünderung des niedergebrannten Moskau wurde nach dem Abzug der Grande Armée von der Bevölkerung aus der Umgebung fortgesetzt. Fälle von Kannibalismus während des Rückzugs sind in der zeittypischen schamhaften Zurückhaltung in den Augenzeugenberichten meist nur angedeutet, müssen aber gleichwohl als unzweifelhaft belegt gelten.

Wer einen detaillierten Einblick in die Operationsgeschichte des napoleonischen Russlandfeldzugs bekommen möchte, wird heute zu den einschlägigen Monographien von Alexander Mikaberidze greifen. Wer die ganze Epopöe will, lese die jetzt auch in deutscher Übersetzung vorliegenden monumentalen Darstellungen von Adam Zamoyski oder Dominic Lieven. Als lesenswerter Überblick über die Ereignisse und einige der wesentlichen politischen Zusammenhänge leistet Marie-Pierre Reys Buch aber sehr wohl seine Dienste.

Andreas R. Hofmann, Leipzig

Zitierweise: Andreas R. Hofmann über: Marie-Pierre Rey: L’effroyable tragédie. Une nouvelle histoire de la campagne de Russie. Paris: Flammarion, 2012. 391 S., 19 Abb. ISBN: 978-2-0812-2832-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hofmann_Rey_L_effroyable_tragedie.html (Datum des Seitenbesuchs)

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