Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 59 (2011) H.4, S.  609-610

Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 59 (2011) H.4

Verfasst von: Andreas R. Hofmann

 

Alexander Mikaberidze: The Battle of the Berezina. Napoleon’s Great Escape. Pen & Sword Books Barnsley 2010. 284 S., 4 Ktn., Abb. = Campaign Chron­icles. ISBN: 978-1-84415-920-8.

„Wittgenstein rettete Petersburg, mein Ehegemahl Rußland und Čičagov – Na­po­le­on“, so wurde eine öffentliche Äußerung Ekaterina Kutuzovas, der Frau des russischen Oberkommandierenden, über die Befehlshaber der drei russischen Heeresabteilungen kolportiert (S. 235). Auffassungen wie diese standen am Anfang einer bis heute fortwirkenden Mythenbildung, die Kutuzov die Heldenrolle, Čičagov aber die des Sündenbocks zuweist. Es sind solche Behauptungen, die Alexander Mikaberidze in seiner Studie zur letzten Phase des napoleonischen Russlandfeldzugs überprüfen will. Dies gilt für beide Seiten, denn auch von der Sicht auf einen Napoleon, der an der Beresina ein weiteres Mal sein Feldherrngenie bewiesen und gegen alle Widrigkeiten einen glänzenden Sieg errungen habe, bleibt nach der Lektüre von Mikaberidzes Buch nicht viel übrig.

In einem einleitenden Kapitel (S. 19–47) gibt der Autor zunächst einen knappen Überblick über die Kriegsereignisse bis zur Schlacht von Krasnyj (17. November 1812). Der Hauptteil des Buches (S. 48215) ist eine Rekonstruktion der unmittelbaren Vorgeschichte des Übergangs über die Beresina und der Kämpfe an dem Fluss selbst. Die Darstellung wird umso dichter, je näher sie den entscheidenden drei Tagen der Flussüberquerung (26.–28. November) kommt. In geraffter Form (S. 216223) werden die militärisch ereignisarmen Wochen bis Jahresende angeschlossen, in denen sich die letzten Überlebenden der Grande Armée bis Wilna schleppten, bevor die Stadt durch die russische Vorhut eingenommen wurde. Eine „Conclusion“ (S. 224–242) bietet schließlich eine zusammenfassende Interpretation der Ereignisse.

Aufgrund seiner Vielsprachigkeit kann Mikaberidze sowohl die russischen Quellen als auch diejenigen fast sämtlicher nationaler Kontingente der Grande Armée auswerten. Dadurch gelingt ihm eine facettenreiche Darstellung, die den Perspektiven der verschiedenen Akteure gerecht wird und zahlreiche, bislang kaum überprüfte Traditionen der Historiographie korrigiert. So weist der Autor darauf hin, dass die noch ca. 20.000 waffenfähigen Soldaten, die Napoleon an der Übergangsstelle bei Studjanka zur Verfügung hatte, nur zu etwa einem Viertel Franzosen waren. Auch die beiden Behelfsbrücken wurden keineswegs von französischen, sondern von niederländischen und polnischen pontonniers unter dem Befehl des Generals Elblé errichtet und in völliger Selbstaufgabe funktionsfähig gehalten (die meisten Soldaten Elblés starben an Erschöpfung oder an den Folgen des stundenlangen Arbeitens im Eiswasser). Demselben Elblé war es zu verdanken, dass zuvor wenigstens einige Wagen mit Brückenbaumaterial und Werkzeug gerettet worden waren, nachdem Napoleon in der irrigen Annahme, den Brückenkopf von Borisov halten zu können, den Befehl erteilt hatte, sämtliche Pontons zu verbrennen, um die Zugpferde für die Artillerie freizubekommen. Zugleich durften höhere Offiziere immer noch eine ungezählte Menge von Wagen mit Beutegut mitführen. Die Übergangsstelle bei Studjanka wurde nicht von Napoleon, sondern von Marschall Oudinot ausgewählt, und dieser sorgte auch für die taktischen Ablenkungsmanöver, durch die die russischen Generäle über den Ort des Übergangs im unklaren gelassen wurden. In militärischer Sicht großartige Leistungen wurden nicht von den Befehlshabern, sondern von den einfachen Soldaten, den Truppenoffizieren und den Kommandeuren der Divisionen und Armeekorps gezeigt, so Mikaberidzes abschließendes Urteil.

Die russische Hauptarmee unter Kutuzov war zum Zeitpunkt des Übergangs sechs Tagesmärsche von Borisov und Studjanka entfernt, konnte also in die Geschehnisse nicht eingreifen. Die Motive, die den Feldmarschall bei seinem zögerlichen Vorgehen gegen die Grande Armée leiteten, kann auch Mikaberidze nicht abschließend klären. Den deutlichsten Hinweis gibt die Äußerung Kutuzovs, dass Napoleons völliges Verschwinden von der politischen Bühne deswegen gar nicht wünschenswert sei, weil ausschließlich Großbritannien davon profitieren würde. Der einzige Gewährsmann für diese Äußerung ist jedoch der britische Militärattaché im russischen Generalstab, Sir Robert Wilson (S. 33), und da dieser „very slippery fellow“ (Wellington über Wilson) notorisch gegen Kutuzov intrigierte und dessen Absetzung betrieb, ist das Zitat offenkundig als apokryph zu bewerten, was Mikaberidze jedoch übergeht.

Die Hauptlast der Kämpfe bei Borisov und Studjanka fiel der Dritten Westarmee unter Admiral Čičagov zu. Deren etwa 30.000 Mann hatten die praktisch unlösbare Aufgabe, auf einer Strecke von 100 km Napoleons Truppen an der Übersetzung auf das westliche Flussufer zu hindern. In der Tat scheint der mit seinem ersten Heereskommando betraute Marineoffizier von der strategischen Leitung von Landkriegsoperationen überfordert gewesen zu sein. Doch Mikaberidze legt nahe, dass auch ein befähigterer Offizier den Übergang über die weder sehr breite noch besonders tiefe und somit viele Furten aufweisende Beresina nicht hätte verhindern können. Auch hierbei spielte Kutuzov eine negative Rolle, denn er suggerierte Čičagov, dass die Flussquerung weiter südlich stattfinden würde. Deshalb detachierte der Admiral den größten Teil seiner Streitmacht in dieser Richtung, so dass im entscheidenden Augenblick eine einzige russische Division auf sich allein gestellt war. Auch Wittgenstein, der Befehlshaber des nördlichen Korps, der den Seeoffizier Čičagov verachtete, griff verspätet und nur mit seiner halben Truppenstärke in die Kämpfe ein, während die andere Hälfte durch die Gefangennahme der 12. Division der Grande Armée nördlich von Borisov gebunden war.

Ein großer Vorzug von Mikaberidzes Darstellung ist, dass der Autor sich nicht einfach auf die ex post billig zu habende allwissende Erzählerposition stellt, sondern jederzeit verdeutlicht, was die Befehlshaber zum gegebenen Zeitpunkt nicht wussten. Die Avantgarden der drei russischen Heeresabteilungen nahmen erst am 28. November direkten Kontakt auf, bis dahin trafen Berichte und Befehle mit einer Verzögerung von bis zu fünf Tagen ein, was die Koordination der russischen Truppenbewegungen praktisch unmöglich machte, ganz abgesehen von der wechselseitigen Abneigung, dem Misstrauen und der Ehrpusseligkeit ihrer Kommandeure. Zahlreiche weitere Faktoren trugen zum Fehlschlag der von St. Petersburg gewünschten Zangenbewegung gegen die Grande Armée bei (sollte es denn je Kutuzovs Absicht gewesen sein, dieser den Rückzug zu verlegen): die Überschätzung der noch kampffähigen Truppen des Gegners, der Nimbus Napoleons und schließlich Erschöpfung, Ausfälle und Nachschubprobleme der russischen Truppen, die nur um weniges geringer waren als die der Gegenseite.

Mikaberidze wählt primär die Perspektive des Feldherrnhügels. Dennoch kommt die Erfahrungswelt der einfachen Soldaten nicht zu kurz, zahlreiche Zitate lassen erahnen, was es bedeutet haben muss, nicht nur gegen feindliche Truppen, sondern zugleich gegen Erfrierungen, Schlafentzug, totale Erschöpfung, Hunger und Erblindung durch Schnee oder Lagerfeuerrauch ankämpfen zu müssen. Den Gefangenen, Verwundeten, nicht mehr kampffähigen Versprengten und zivilen Flüchtlingen im Tross gegenüber herrschte ein unsäglicher Zynismus. An der Übergangsstelle spielten sich Szenen wie aus Dantes Hölle ab. Dies alles macht den Übergang über die Beresina zu einem jener zeitlosen Unglücke der Menschheitsgeschichte, die es verdienen, in allen Einzelheiten erzählt zu werden, auch wenn Ereignisgeschichte im Stile Mikaberidzes aus der Mode gekommen ist.

Andreas R. Hofmann, Leipzig

Zitierweise: Andreas R. Hofmann über: Alexander Mikaberidze The Battle of the Berezina. Napoleon’s Great Escape. Pen & Sword Books Barnsley 2010. = Campaign Chronicles. ISBN: 978-1-84415-920-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hofmann_Mikaberidze_Battle_of_the_Berezina.html (Datum des Seitenbesuchs)

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