Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 322-323

Verfasst von: Andreas R. Hofmann

 

Philipp Menger: Die Heilige Allianz. Religion und Politik bei Alexander I. (1801–1825). Stuttgart: Steiner, 2014. 456 S. Historische Mitteilungen – Beihefte, 87. ISBN: 978-3-515-10811-9.

Wenn geschichtswissenschaftliche Paradigmenwechsel einander ungefähr im Halbjahresrhythmus jagen, mag schon einmal der Gedanke aufkommen, dass in der Rückbesinnung auf altehrwürdige historiographische Genres wie Herrscherbiographie oder Diplomatiegeschichte heutzutage die eigentliche Innovationschance des Faches liege – vorausgesetzt natürlich, man blickt dabei über den Tellerrand und bleibt für theoretische und methodologische Anregungen offen. An einer solchen Genreerneuerung versucht sich Phi­lipp Menger in seiner Potsdamer Dissertation. Seine Intention ist eine dreifache: Zum einen möchte er erkunden, inwieweit Religion im frühen 19. Jahrhundert ein Movens der internationalen Beziehungen war, was von der Forschung bislang kaum berücksichtigt worden sei. Zum andern will er dem konkreten Einfluss nachspüren, den Religion auf Persönlichkeitsentwicklung und Außenpolitik Alexanders I. von Russland gehabt hat. Drittens hinterfragt er kritisch einige der etablierten Auffassungen von der Heiligen Allianz und dem von dieser geprägten europäischen Staatensystem seit dem Ende der Napoleonischen Kriege.

Die Formalkritik ausnahmsweise vorweg. Leider verfügt das Buch über keinen Personen‑ oder Sachindex, der gerade bei dieser Thematik sehr hilfreich wäre. Einige Irrtümer im Detail stechen ins Auge; z.B. nennt der Autor Kaiser Franz I. von Österreich auch nach 1806 beharrlich „Franz II.“ (S. 260 u.ö.); mit „Dowager Kaiserin“ (S. 140, 150) ist die Kaiserinmutter gemeint; auf S. 138 f. ist für November/Dezember 1805 die Chronologie durcheinandergeraten. Die Schreibweise russischer Namen wechselt oft ohne System zwischen Transliteration, Transkription und Übersetzung; die Transliteration der russischsprachigen Titel ist sehr fehlerhaft. Im empirischen Teil gibt es einige unnötige Wiederholungen; beispielsweise werden die Brände von Smolensk und Moskau 1812 und ihr Einfluss auf Alexander gleich dreimal inhaltlich praktisch identisch abgehandelt.

Vor allem leidet das Buch mit mehr als einem Viertel des Darstellungstextes (S. 13109) an der deutschen Dissertationskrankheit überschießender Theorie. In diesem um Alfred Schütz’ Erfahrungs‑ und Handlungssoziologie kreisenden Einleitungskapitel versucht der Autor, einen theoretischen Ansatz für seine Sicht auf die russische außenpolitische Entscheidungsbildung zu finden; es will ihm nicht recht gelingen. Denn immer wieder neue Begriffe führen nur zu neuen Definitionen, die wiederum mit neuen Autorennamen und Texten samt wissenschaftsgeschichtlicher Herleitung flankiert werden; so geht es fort in einer schier endlosen Reihung von name dropping und Textparaphrase. Keiner der behandelten Begriffe verleiht der anschließenden empirischen Darstellung Struktur und Kohärenz. Es entsteht der Eindruck, dass diese ausufernde Einleitung vorwiegend den Verdacht zerstreuen soll, die gewählte Thematik könne nicht hinreichend relevant sein.

Dabei hat diese eine solche Rechtfertigung gar nicht nötig. Es ist schließlich keine triviale Fragestellung, inwieweit in einem autokratischen System eine religiöse Erweckungserfahrung Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung des Herrschers und seine (außen-)politischen Entscheidungen genommen hat, solange letztere zusätzlich auf ihre Möglichkeiten und Grenzen innerhalb der vorgegebenen soziopolitischen Strukturen untersucht werden. Für Menger steht außer Zweifel, dass die napoleonische Invasion von 1812 Alexander infolge einer schweren seelischen Erschütterung aus einem konfessionell eher indifferenten, Ideen der westlichen Aufklärung verhafteten jungen Kaiser in einen tief religiösen Menschen verwandelt habe. Dieser habe allerdings Orientierung und Halt nicht in der traditionellen Orthodoxie, sondern in einer eher als christlich-ökumenisch zu bezeichnenden, vom Pietismus beeinflussten Religiosität gesucht. Menger belegt dies recht überzeugend mit zahlreichen privaten Korrespondenzen Alexanders und überlieferten Gesprächen, wobei die Irreligiosität des Zaren vor 1812 allerdings ein argumentum ex silentio zu sein scheint.

Nach Menger gewann die „Konversion“ Alexanders dadurch politische Wirkung, dass die Außenpolitik des Kaisers seither entschieden pazifistisch grundiert und auf die Errichtung einer stabilen europäischen Friedensordnung ausgerichtet gewesen sei. Deshalb sei die religiöse Begründung der Heiligen Allianz keine bloße Rhetorik gewesen, sondern habe auf der Überzeugung gefußt, dass Friedenssicherung im Interesse des Völkerglückes die wichtigste Aufgabe einer jeden Regierung sei. Anders als ihr landläufiges historiographisches Image sei die Heilige Allianz allein deshalb kein bloß restauratives Projekt gewesen, weil Alexander kein monarchistischer Legitimist, sondern bereit gewesen sei, einem jeden Land die aus seiner Geschichte und Gesellschaftsverfassung abgeleitete Regierungsform zuzugestehen, gegebenenfalls also auch eine republikanische. Einen Beleg für diese These sieht Menger u.a. in der Einrichtung Kongresspolens als konstitutionelle Monarchie. Was die Grundidee der Heiligen Allianz vom älteren System des balance of power unterschieden habe, sei die Abkehr von der „Pentarchie“ der europäischen Großmächte als bloßer Austarierung ihrer geopolitischen Interessen auf Kosten schwächerer Staaten gewesen, deren souveräne Eigeninteressen nunmehr völkerrechtlich vorbehaltlos anerkannt worden seien. Da Alexander aus eigener lebensgeschichtlicher Erfahrung Revolutionen als Hauptursache der Kriege betrachtete, bargen diese Vorstellungen zugleich jedoch auch den Willen, den Status quo im Innern um jeden Preis zu erhalten.

Menger überzeugt weitgehend mit der psycho­historischen Revision der Persönlichkeit Alexanders, bei der er etliche Detailkorrekturen an bisherigen Sichtweisen vornehmen kann. Beispielsweise zeigt er, daß bestimmte Einflüsse auf Alexanders religiöse Vorstellungswelt (Jung-Stilling, Baronin Krüdener u. a.) wohl überschätzt wurden und der russische Kaiser tatsächlich eine äußerst idiosynkratische Religiosität pflegte, die keiner etablierten Glaubensrichtung oder Sekte zuzuordnen war.

Insgesamt kann die Darstellung dennoch nicht ganz überzeugen. Menger verfehlt die Stoßrichtung des eigenen Ansatzes, wenn er sich nachzuweisen bemüht, Alexander habe seine eigene politische Linie im Zweifelsfall auch gegen die Konzeptionen seiner Berater verfolgt. Um Herrschaftshandeln und auch dessen religiöse Fundierung historisch einordnen zu können, reicht es jedoch nicht aus, den Herrscher als selbständig denkende Persönlichkeit zu charakterisieren. Vielmehr ist es notwendig, seine Entscheidungsspielräume innerhalb seines persönlichen soziokulturellen Bezugsrahmens wie auch des größeren politischen, sozialen und kulturellen Handlungsraumes auszuloten. Menger interessiert sich aber nicht dafür, inwieweit Religion etwa auch für andere europäische außenpolitische Akteure wie z.B. Metternich oder Castlereagh eine Bezugsgröße darstellte, ob Alexanders Religiosität also überhaupt in den internationalen Beziehungen politische Relevanz besaß und nicht bloß ideologisch-propagandistisch umgemünzt wurde. Wichtiger noch, der Autor sucht keine Erklärungen dafür, wieso der geläuterte Zar nach 1815 nicht zu den Reformprojekten seiner jüngeren Jahre zurückkehrte und seine früheren Weggefährten im politischen Abseits blieben. Auch innenpolitisch war der Handlungsspielraum des Zaren offenbar begrenzt, was Menger u.a. am Beispiel von wichtigen personalpolitischen Entscheidungen konzedieren muss, die gegen den Willen des Zaren, unter dem Druck der „Gesellschaft“ (d.h. der Petersburger Hofgesellschaft oder des höheren Adels insgesamt) fielen. War nicht Alexanders seit 1816 zunehmendes Desinteresse an den öffentlichen Angelegenheiten eine Kapitulation vor der Einsicht, dass auch der Selbstherrscher der Reußen an den verfestigten soziopolitischen Bedingungen des Landes nichts zu ändern vermochte? Seine religiöse Konversion mochte zu hehren Ideen, aber nicht zu einer neuen politischen Praxis geführt haben. Spätestens nach dem nächsten Herrscherwechsel erwies sich, dass die Beharrungskräfte der gesellschaftspolitischen Strukturen überwogen und von der Heiligen Allianz weniger die Friedensidee, als das Recht auf antirevolutionäre Intervention übrigblieb, letztlich also doch ein restaurativer, wenn nicht reaktionärer Gedanke.

Andreas R. Hofmann, Leipzig

Zitierweise: Andreas R. Hofmann über: Philipp Menger: Die Heilige Allianz. Religion und Politik bei Alexander I. (1801–1825). Stuttgart: Steiner, 2014. 456 S. Historische Mitteilungen – Beihefte, 87. ISBN: 978-3-515-10811-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hofmann_Menger_Die_Heilige_Allianz.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2016 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Andreas R. Hofmann. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.