Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 1 S. 126-128

Verfasst von: Andreas R. Hofmann

 

Der Krimkrieg als erster europäischer Medienkrieg. Hrsg. v. Georg Maag, Wolfram Pyta und Martin Windisch. Berlin: LIT Verlag, 2010. 282 S., Ill. = Kultur und Technik, 14. ISBN: 978-3-643-10633-7.

Die zwölf in dem Band versammelten Beiträge stammen aus einer gemeinsamen Tagung des Internationalen Zentrums für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart, der Université de Nancy und des Stuttgarter Institut Français von 2005. Ein mehrfach zitiertes Referenzwerk zum Thema ist die zehn Jahre alte Monographie des Kunsthistorikers Ulrich Keller (The Ultimate Spectacle. A Visual History of the Crimean War. Amsterdam 2001), der selbst im umfangreichsten Beitrag des Bandes eine Kurzfassung seiner Ergebnisse liefert. Was den Krimkrieg zu einem „modernen Krieg“ gemacht habe, so Kellers These, sei die Verwendung der neuen Bildmedien (Photographie, Lithographie und Presseillustration), mit denen erstmals auch „breite Bevölkerungsschichten“ hätten erreicht werden können.

Damit könnte das Hauptthema des Bandes umrissen sein, jedoch wird Kellers These von der Mehrzahl der Beiträge eher lose kommentiert als vertiefend untersucht. Der Anglist Martin Windisch befasst sich mit Michael Curtiz’ Spielfilm „The Charge of the Light Brigade“ von 1936, der unter Umkehrung der Chronologie Motive aus dem Krimkrieg und der Indischen Rebellion (1857–1859) verwendet, um die berüchtigte britische Kavallerieattacke in der Schlacht bei Balaklava durch ein fiktives Rachemotiv zu begründen; diese Technik der „Überblendung als Form historischer Erinnerung“ habe deshalb beim Filmpublikum der 1930er Jahre funktioniert, weil sie auf im kulturellen Gedächtnis tief verankerte, zeitlose Kriegstopoi habe aufbauen können; schade an dieser Stelle, dass Windisch nicht gleich noch die näher an den historischen Tatsachen bleibende, gleichnamige britische Produktion von 1968 (Regie: Tony Richardson) zu Vergleichszwecken herangezogen hat.

Julika Griem, ebenfalls Anglistin, stellt einen Vergleich zwischen Werken zweier unterschiedlicher Genres an, Alfred Tennysons Gedicht „The Charge of the Light Brigade“ (1854) und dem im Jahr darauf entstandenen, wohl bekanntesten Photo vom Kriegsschauplatz des britischen Hofphotographen Roger Fenton, „The Valley of the Shadow of Death“. Obwohl Tennysons Gedicht im kulturellen Gedächtnis von Generationen von Briten als Schulbuchtext haften geblieben ist, wirke es, so Griem, wegen seines heroischen Gestus heute antiquiert; dagegen habe sich Fentons Bild, das nachweislich sein Objekt manipulierte und überdies nicht einmal am wirklichen Schauplatz der Attacke aufgenommen wurde, gerade dadurch einen Stellenwert als „modernes“ Bild errungen, weil es einen für Assoziationen offenen „Unort“ zeige. Die Slawistin Susi K. Frank führt anhand der „Sevastopoler Erzählungen“ Lev Tolstojs vor, wie der Autor hier weniger die konventionell-heroische Kriegsdarstellung in der Literatur zu desavouieren sucht, als vielmehr die von den Zeitgenossen hochgeschätzte „Authentizität“ des Augenzeugenberichtes an und für sich in Frage stellt. Der Historiker Oliver Stenzel zeigt am Beispiel der 1841 gegründeten englischen Satirezeitschrift „Punch“, wie in diesem damals noch jungen Genre bereits Techniken der Ridikulisierung und Dehumanisierung in der Karikatur eingesetzt wurden, um den „Mad Czar“ (Nikolaus I.) und „King Clicquot“ (Friedrich Wilhelm IV. von Preußen) als Feindbilder zu etablieren. Der im mediengeschichtlichen Kontext am wenigsten überzeugende Beitrag stammt von dem Historiker Didier Franc­fort, der den Krimkrieg als „moment fondateur des musiques militaires européennes“ sieht; wie Francfort selbst einräumt, bedurfte es jedoch nicht dieses Ereignisses, um westeuropäische Komponisten orientalische Einflüsse aufnehmen zu lassen (man denke allein an die Janitscharenmusiken und „türkischen Märsche“ des 18. Jahrhunderts und an die während der Französischen Revolutionskriege vollzogenen, radikalen Veränderungen der Militärmusik). Anders als Francfort suggeriert, geschahen auch andere Anstöße für die Umstellung von Militärkapellen hin zu den heute noch gewohnten Klangkörpern (besonders die Erfindung und Einführung des Saxophons) vor und unabhängig vom Krimkrieg; auch in umgekehrter Richtung waren die europäisierenden Einflüsse auf die osmanisch-türkische Militärmusik wohl eher dem generellen Reformwillen der Sultane des 19. Jahrhunderts geschuldet als der Begegnung mit den alliierten Truppen auf den Schlachtfeldern der Krim. Der Anglist Hans Ulrich Seeber schließlich wendet sich dem 1998 erschienenen Roman „Master Georgie“ der Autorin Beryl Bainbridge zu, den er als „implizite und explizite Medienreflexion im Medium des Geschichtsromans“ (S. 174) interpretiert, in dem die gleich in der Frühzeit der Dokumentarphotographie entdeckten und genutzten Möglichkeiten der Manipulation thematisiert werden.

Die weiteren fünf Beiträge des Bandes sind unter der vagen Überschrift „Historisches Geschehen und Deutung“ zusammengefasst. Der erste davon ist der interessanteste; er stammt von dem Gießener Anglisten Ansgar Nünning und unternimmt den Versuch, ein sich an geschichtstheoretischen und narratologischen Ansätzen orientierendes „erzähl­theoretisches Beschreibungsmodell“ zu entwickeln, anhand dessen sich die Entwicklung eines „Ereignisses“ zu einem „Medienereignis“ nachvollziehen lässt; interessant und überzeitlich anwendbar ist besonders Nünnings Unterscheidung zwischen einem „Medienereignis“ (wie es der Krimkrieg war) und einem „medial inszenierten Medienereignis“ (d.h. einem solchen, das erst durch die Massenmedien selbst kreiert wird). Am wenigsten zur Thematik des Bandes passen die beiden Aufsätze von Winfried Baumgart und Hans-Christof Kraus, die die Diplomatiegeschichte des Krimkriegs bzw. die „Wahrnehmung und Deutung des Krimkrieges in Preußen“ aus Sicht der Konservativen, der Liberalen und des politischen Katholizismus abhandeln. Frank Becker zeigt, dass William Howard Russell, der vielen als Pionier der dokumentarischen Kriegsreportage gilt, nicht so sehr von aufklärerischen Motiven angeleitet war als vielmehr von den handfesten wirtschaftlichen Interessen der „Times“-Redaktion, die das konservative Blatt zeitweilig zu einer regierungskritischen Haltung veranlassten. Schließlich stellt Philippe Alexandre anhand einer Auswahl von Memoiren französischer Offiziere ein Kaleidoskop der Motive, Eindrücke und Erfahrungen vor, die diese Augenzeugen vom Kriegsschauplatz mit nach Hause nahmen; es bleibt fraglich, ob die französischen Generäle damals wirklich erstmals versuchten, den Mangel an authentischen Informationen für ihre Truppen durch Bulletins, Proklamationen und Tagesbefehle auszugleichen (S. 267) – dies war schließlich ein seit den Tagen des ersten Napoleon erprobtes massenpsychologisches Verfahren.

Unter dem Strich bleibt einmal mehr ein Tagungsband anzuzeigen, dessen Beiträge bei einer Fülle von im einzelnen interessanten und weiterführenden Beobachtungen von insgesamt sehr heterogener Thematik und Qualität sind. Vom Standpunkt des Historikers könnte Kritik daran formuliert werden, dass die Modernität des Krimkriegs mehr axiomatisch vorausgesetzt als wirklich nachgewiesen wird. Unter dieser Vorannahme wird der Krimkrieg wie so oft als das Ereignis eingestuft, bei dem sich erstmals zukunftsweisende Entwicklungen der (nicht nur militär-) technischen Moderne angekündigt hätten. Das verführt einige realgeschichtlich weniger interessierte Autoren gern schon einmal zu einer überschießenden Unterstellung von „Modernität“ (es stimmt z.B. nicht, dass die Telegraphenverbindungen im Krimkrieg bereits bis in die Belagerungsgräben reichten, vgl. S. 18). Umgekehrt wäre eine konsequenter diachrone Perspektive anzuraten, um die medialen Techniken der Massenpropaganda und ‑beeinflussung zurückzuverfolgen, die bereits auch frühere Kriege begleiteten und deshalb eben keine Erfindung des Zeitalters der kommerziellen Massenpresse und der Dokumentarphotographie waren.

Andreas R. Hofmann, Leipzig

Zitierweise: Andreas R. Hofmann über: Der Krimkrieg als erster europäischer Medienkrieg. Hrsg. v. Georg Maag, Wolfram Pyta und Martin Windisch. Berlin: LIT Verlag, 2010. 282 S., Ill. = Kultur und Technik, 14. ISBN: 978-3-643-10633-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hofmann_Maag_Krimkrieg.html (Datum des Seitenbesuchs)

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