Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 2, S. 305-307

Verfasst von: Andreas R. Hofmann

 

Dominic C. B. Lieven: Russia against Napoleon. The Battle for Europe, 1807 to 1814. London: Allen Lane Publishers, 2009. XVII, 617 S. ISBN: 978-0-7139-9637-1.

Nur selten dürfte die Wahrnehmung eines historischen Ereignisses in der Nachwelt so sehr von einem einzelnen literarischen Werk geprägt sein wie Napoleons Russlandfeldzug durch Lev TolstojsKrieg und Frieden. In Anknüpfung an und Abgrenzung von Tolstoj umreißt Dominic Lieven sein eigenes Vorhaben. Er will Irrtümer korrigieren und Wahrnehmungslücken schließen, die sich seiner Auffassung nach bereits seit den Dekabristen durch die russische und sowjetische, aber auch die westliche Historiographie ziehen. Lieven sieht solche Defizite vor allem in zwei Bereichen. Zum einen möchte er die historische Wirksamkeit individueller Akteure wieder anerkannt sehen. Dies richtet sich ausdrücklich gegen Tolstojs Vorstellung von einem historischen Geschehen, das sich dem Willen selbst des mächtigen Einzelnen entzieht und ganz einem überpersönlichen Schicksal unterworfen ist. Zum anderen möchte Lieven den Einfluss Russlands auf die Feldzüge von 1813 und 1814 und auf den Sturz des napoleonischen Systems stärker herausarbeiten, der im Vergleich zum Jahr 1812 bislang vernachlässigt worden sei.

Lieven bietet zunächst einen kurzen Abriss der Situation Russlands als europäischer Großmacht seit Katharina II., um anschließend auf die Zeit der russisch-französischen Allianz nach dem Vertrag von Tilsit (1807) bis zu ihrer faktischen Aufkündigung einzugehen. Russlands Beteiligung am Dritten und Vierten Koalitionskrieg (18051807) wird nur kursorisch behandelt und dient v.a. als Hintergrund für die Militärreformen der folgenden Jahre. Ein Vergleich mit Preußen hätte unter dem Gesichtspunkt nahegelegen, wie die militärische Niederlage in beiden Ländern jeweils unterschiedliche Formen und Grade von Reformbereitschaft hervorrief. Lievens Konzeption lässt das außen vor, stellt aber für die russische Seite zahlreiche Fakten für einen solchen Vergleich bereit.

Wieso sich Russlands Reformen auf waffentechnische und militärorganisatorische Korrekturen beschränkten, während es auf politischem Felde bei bloßen Gedankenspielen blieb, beantwortet Lieven v.a. mit Blick auf das russische Leibeigenschaftssystem. Dieses war mit einer allgemeinen Wehrpflicht und dem Aufbau einer nationalen Armee nicht zu vereinbaren. So war Russland trotz seines demographischen Potentials nicht in der Lage, ein den Erfordernissen der neuen Zeit entsprechendes Massenheer aufzubauen, das die Rekrutierung ganzer Jahrgänge für einen begrenzten Zeitraum voraussetzte. Eine Miliz, das opolčenie, sollte Abhilfe schaffen. Sie wurde erstmals 1806/07 und erneut 1812 aufgestellt. Von den etwa einen Million Rekruten der Jahre 1812 bis 1814 kamen ungefähr drei Viertel zur regulären Armee, die übrigen in das opolčenie. Dessen Angehörige blieben im Unterschied zu den regulären Soldaten Leibeigene, die oft unter dem Befehl ihrer eigenen Gutsherren Dienst taten und nach Kriegsende in ihre Dörfer zurückkehren durften, ein Versprechen, das allerdings 1807 häufig nicht eingehalten worden war.

Ein Wort der Kritik zu Lievens Umgang mit den taktischen Bedingungen der napoleonischen Kriegsführung sei hier eingefügt. Lieven übernimmt den Fehler vieler vorangegangener Autoren, die Eigentümlichkeiten des Einsatzes der russischen Armee und ihre sich 1805 und 1807, teilweise auch noch 1812 zeigende Unterlegenheit gegenüber der Grande Armée kurzschlüssig auf angebliche nationale Merkmale zurückzuführen, die schon zeitgenössisch besonders von ausländischen Beobachtern festgehalten wurden, z.B. dem britischen Gesandten Cathcart (S. 115): Der russische Soldat harre zwar tapfer im feindlichen Feuer aus, eigne sich aber nur für die starren Formationen der Linieninfanterie, während er für den aufgelösten Kampf der leichten Infanterie aufgrund seiner Mentalität ungeeignet sei. Erst nach 1807 sei eine verbesserte Infanterieausbildung eingeführt worden, die auch auf gezieltes Schießen Wert gelegt habe. Das ist so zumindest irreführend, wenn nicht rundheraus falsch. Denn der gezielte Schuss verlangte den Einsatz von gezogenen Gewehren (Büchsen, russ. štucery), die bei der russischen leichten Infanterie (egery) nur in begrenzter Zahl und bei der Linieninfanterie so gut wie gar nicht in Gebrauch waren. Mit der glattläufigen Steinschlossmuskete, mit der das Gros der europäischen Armeen bewaffnet war, ist dagegen präzises Schießen überhaupt nicht möglich; deshalb ist eine Formulierung wieaccurate musket fire(S. 453) ein Widerspruch in sich. Vielmehr setzte die russische, genauso wie übrigens die französische und die meisten anderen kontinentaleuropäischen Armeen, nicht auf gezieltes, sondern auf schnelles, in der Massenformation eingedrilltes Schießen. Nationale Stereotype sind eben kein geeigneter Ersatz für die akribische Herausarbeitung von Sachzusammenhängen. Dieser Kritikpunkt ist zwar im Kontext von Lievens Studie eher marginal; in Darstellungen von Allgemeinhistorikern zur napoleonischen Kriegsgeschichte sind Unklarheiten dieser Art jedoch so landläufig, dass darauf einmal nachdrücklich hingewiesen werden sollte.

Bei Vorgeschichte und Ursachen des Kriegs von 1812 folgt Lieven dem aus der Literatur Bekannten. Die Verhängung der Kontinentalsperre bereitete der russländischen Wirtschaft schwere Probleme und beschleunigte den Wertverfall des Papierrubels, was Russland veranlasste, seine Häfen wieder für britische Waren zu öffnen. Das wiederum rief bei Napoleon die Absicht wach, Russland mit Gewalt in sein Kontinentalsystem zurückzuzwingensoweit, so bekannt. Das vielleicht ausschlaggebende Problem bildete Lieven zufolge allerdings die Polenfrage, weil sich Napoleon dem russischen Wunsch nach einer Garantie verweigerte, das Königreich nicht wiederherzustellen (obwohl Alexander I. selbst mit der Idee der Wiederherstellung Polens liebäugelte, allerdings unter der Bedingung einer russisch-polnischen Personalunion). Seinem akteurszentrierten Ansatz getreu verwendet Lieven einigen Raum auf Napoleons gescheitertes Projekt, in die Romanov-Dynastie einzuheiraten. Dieses besaß keine wirkliche Chance, zumal der in Tilsit noch für Napoleon eingenommene Alexander, Lievens gar nicht so heimlicher Held, bereits vor dem Erfurter Fürstenkongress von 1808 Napoleons wahre Natur durchschaut und in seinem Sturz die Bedingung für einen dauerhaften Frieden in Europa erkannt habe.

Besondere Stärken entfaltet Lievens Studie in der Zusammenschau der Kriegsgeschichte mit den sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und machtpolitischen Verhältnissen Russlands. Durch einen konsequenten Wechsel der Perspektiven (Kapitel 8 ist mitThe Advance from Moscowüberschrieben!) gelingt es ihm hier, sich am deutlichsten von der einschlägigen Literatur abzusetzen. Dabei stellt er heraus, dass der angeblicheVolkskriegein von der russischen Opposition des 19. Jahrhunderts geschaffener und von der sowjetischen Geschichtsschreibung bereitwillig perpetuierter Mythos sei. Napoleon habe seinerseits nie die Absicht gehegt, die russischen Bauern zu befreien, wohl aber die Drohung mit der Bauernbefreiung als wirkungsvolles Druckmittel gesehen, um Alexander zu einem Frieden zu seinen Bedingungen zu zwingen.

In seiner Betonung der russischen Perspektive gerät Lieven die eine oder andere Bewertung vielleicht ein wenig zu optimistisch. Vermutlich waren die Planungen der russischen Armeeführung für eine defensive Kriegführung nicht ganz so konsequent und die Haltung Alexanders in der Frage der europäischen Neuordnung nicht ganz so geradlinig, wie Lieven suggeriert. Dennoch ist die Lektüre des Buches lohnend und aufschlussreich, denn es wirft Licht auf zahlreiche vernachlässigte Aspekte. Besonders gelungen ist, wie der Autor immer wieder von der Makro- zur Mikroebene und zurück wechselt, wobei er aus den Militärarchiven bis hinunter zur Regimentsebene schöpft. Hier wird die militärische Einheit als eine Art Ersatzfamilie der russländischen Soldaten gezeigt, in der auch gelegentlich die Standesschranken zwischen Mannschaften und Offizieren aufgeweicht wurden. Die Mobilisierung der russischen Provinz für die Kriegsanstrengung, die Motivlagen von Adel, Stadtbewohnern und Bauern, die logistischen Leistungen bei der Verlagerung des Kriegsschauplatzes nach Westen, das sind nur drei der vielen interessanten Aspekte seines Themas, die uns Lieven in seiner glänzend geschriebenen Studie nahebringt.

Andreas R. Hofmann, Leipzig

Zitierweise: Andreas R. Hofmann über: Dominic C. B. Lieven: Russia against Napoleon. The Battle for Europe, 1807 to 1814. London: Allen Lane Publishers, 2009. XVII, 617 S. ISBN: 978-0-7139-9637-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hofmann_Lieven_Russia_against_Napoleon.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Andreas R. Hofmann. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.