Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 59 (2001) H.4

Verfasst von: Andreas R. Hofmann

 

Aleksandr Ivanovič Kuprijanov: Gorodskaja kul’tura russkoj provincii. Ko­nec XVIII – pervaja polovina XIX veka [Die städtische Kultur der russischen Provinz vom Ausgang des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts]. Moskva: Novyj Chronograf, 2007. 476 S., Abb. ISBN: 978-5-94881-018-8.

In seiner Studie zur kulturellen Entwicklung der russischen Provinzstädte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wendet sich Aleksandr Kuprijanov gegen die beiden von ihm verzeichneten Haupttrends der russischen Stadtgeschichte, nämlich die Konzentration auf die beiden Hauptstädte und anschließende unzulässige Verallgemeinerungen einerseits, und die Darstellung der Provinz als grundsätzlich von den Metropolen abzugrenzendes, wesensverschiedenes Untersuchungsobjekt andererseits. Um eine hinreichend breite, zugleich noch von einem einzelnen Forscher beherrschbare empirische Grundlage zu gewinnen, wählt der Autor selbst einen „interregionalen Ansatz“ mit zwei Regionen, einer zentralen (den Gouvernements Moskau und Tver’) sowie einer westsibirischen (den Gouvernements Tobol’sk und Tomsk). So gewinnt er ein Sample an Provinzstädten, die sich nicht nur nach ihrer geographischen, klimatischen und ökonomischen Lage voneinander unterscheiden, sondern auch nach ihrem Status in der administrativen Hierarchie und ihrer Geschichte (mittelalterliche Stadtgründung versus jüngst zu Stadtrang erhobene Siedlungen).

Der stadtregionale Ansatz bietet sich in der Tat für die Kuprijanov interessierende soziokulturelle Modernisierungsphase an, die sich über etwa drei Generationen innerhalb des „langen russischen 18. Jahrhunderts“ erstreckte, nämlich von den Katharinäischen Reformen bis zur Neuregelung der Munizipalstatuten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen also nicht die Stadtbiographien der einzelnen Orte, sondern längerfristige Entwicklungstrends, wie sie sich im Vergleich der Städte des Samples nachzeichnen lassen. Dies tut Kuprijanov in vier großen Kapiteln über das „kulturelle Milieu der russischen Stadt“, die „Kultur des Politischen“, „Mode und Macht“ sowie über „Gefühle und Vorstellungen der russischen Städter“.

Diese Schwerpunktsetzung in einem dezidiert mentalitäts‑ und alltagsgeschichtlichen Bereich lässt aufhorchen. Zunächst folgt jedoch auch Kuprijanov dem in der Russlandhistoriographie geläufigen Interpretationsschema der von der Zentrale betriebenen und nach unten gegen Widerstände durchgesetzten Reformen, die er etwa am Beispiel der Einführung des staatlichen Schulwesens vorführt. Diese Reformanstrengungen stießen in den Provinzstädten nicht nur auf die Ablehnung des dort noch stark verwurzelten raskol, der sich westlichen und damit ‚fremden‘ Einflüssen widersetzte und die an westeuropäischen Modellen geschulten Lehrer in der provinzstädtischen Gesellschaft isolierte, sondern auch auf eine konservative Kaufmanns‑ und Handwerkerschaft, die nicht einsah, warum sie ihre Söhne mit „unnützem“ Buchwissen ausstatten sollte, und die Schulbildung für die Töchter zu Anfang völlig ablehnte. Kuprijanov legt jedoch in sehr überzeugender Weise dar, dass Modernisierungsprozesse wie diese nicht immer proportional zu Nähe und Einfluss der Metropolen verliefen. Zwar waren in der Regel die Gouvernementsstädte hinsichtlich der Entwicklung ihrer kulturellen Institutionen (Bibliotheken, Theater, Schulen usw.) den untergeordneten Städten gegenüber privilegiert. Gelegentlich waren die Regionalzentren jedoch durch ihre staatlichen Aufgaben als Verwaltungssitze und Garnisonsstädte so sehr in Anspruch genommen, dass sie in ihrer kulturellen Infrastruktur ins Hintertreffen gerieten, wie Kuprijanov am Beispiel der westsibirischen Stadt Ostaškov im Vergleich zu der dieser übergeordneten Gouvernementsstadt Omsk zeigt. Insgesamt hingen Geschwindigkeit und Grad der Modernisierung nicht von Alter und Prestige der jeweiligen Stadt ab, als vielmehr von ihrer Einwohnerzahl, geographischen Lage, ökonomischen Infrastruktur sowie ihren soziokulturellen Traditionen. Selbst die nach 1825 nach Sibirien verbannten Dekabristen konnten eine der kulturellen Entwicklung förderliche Wirkung entfalten, die andernorts vielleicht ausblieb.

Sicher überrascht der Textumfang, den Kuprijanov allein der Entwicklung der provinzstädtischen Moden widmet. Er arbeitet jedoch überzeugend heraus, wie die Art sich zu kleiden als die städtisch-ständische Gesellschaft strukturierender, das Verhältnis von Metropole und Provinz kennzeichnender und den jeweiligen Modernisierungsgrad anzeigender Indikator interpretiert werden kann. Der Autor zeigt, wie auf dem Wege von einer seit den Petrinischen Reformen europäisierten höfischen Kultur zu einer gesamtnationalen russischen Kultur westeuropäische Modelle nicht einfach als ‚gesunkenes Kulturgut‘ in die Provinz gelangten, sondern dort in vielfacher Weise adaptiert und umgewandelt wurden. Die zentrale Regierung als wichtigster Modernisierungsakteur war primär daran interessiert, die Provinz in die Lage zu versetzen, sich selbst zu verwalten und den zentralstaatlichen Ansprüchen zu genügen. Am Ende standen jedoch die Anfänge einer nach politischer Emanzipation strebenden Stadtbürgerschaft, die in einer Lage zwischen sozialer und religiöser Traditionsverhaftung und staatlichen und ökonomischen Modernisierungszwängen, zwischen Arbeit, Familie, Kirche und städtischer Öffentlichkeit eine neue Positionsbestimmung vornehmen musste.

Fazit: Es ist hier eine facettenreiche, auf eine breit gestreute Quellengrundlage von Egodokumenten bis zu Verwaltungsakten gestützte, gut reflektierte Arbeit anzuzeigen, die viele ihrer theoretisch-methodischen Anregungen nicht zuletzt der französischen Mentalitätsgeschichte verdankt, die einen frischen Blick auf die russische Stadtgeschichte eröffnet und die ihrerseits gewiss Vorbild für ähnlich gelagerte Studien sein wird.

Andreas R. Hofmann, Leipzig

Zitierweise: Andreas R. Hofmann über: Aleksandr Ivanovič Kuprijanov Gorodskaja kul’tura russkoj provincii. Konec XVIII – pervaja polovina XIX veka [Die städtische Kultur der russischen Provinz vom Ausgang des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts]. Novyj Chronograf Moskva 2007. ISBN: 978-5-94881-018-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hofmann_Kuprijanov_Gorodskaja_kultura.html (Datum des Seitenbesuchs)

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