Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 471-473

Verfasst von: Andreas R. Hofmann

 

Daniel Furrer: Soldatenleben. Napoleons Russlandfeldzug 1812. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2012. 328 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-3-506-77408-8.

Vorweg ein ausdrückliches Bekenntnis zu populärwissenschaftlichen Geschichtsbüchern. Sie können ein historisch interessiertes Publikum an ein Thema heranführen und die weite Kluft zwischen televisionärem Histotainment und akademischen Werken überbrücken helfen. Sie eignen sich auch dazu, dem Studierenden und selbst dem versierten, aber noch nicht in die Thematik eingearbeiteten Historiker einen ersten Überblick zu verschaffen. Deshalb trägt der populärwissenschaftliche Autor besondere Verantwortung. Er muss im Detail zuverlässig informieren, braucht ein sicheres Gespür zur Unterscheidung von zentral und nebensächlich, darf sich weder in der akademischen Diskussion noch im Anekdotischen verlieren und muss sein Publikum durch einen gut lesbaren Stil und eine interessante Erzählung für das Thema gewinnen. Daniel Furrer führt uns in diesem Buch vor, wie man diese Zwecke gründlich verfehlen kann.

Sein Werk reiht sich in die große Zahl der aus Anlass des 200. Jahrestags von Napoleons gescheiterter Russlandinvasion verfassten Bücher ein. Mit solchen Publikationen folgen die Verlage einem ungeschriebenen Gesetz, dessen Sinnhaftigkeit hier nicht diskutiert werden soll. Sehr wohl aber stellt sich die Frage, wieso ein Thema einem Autor anvertraut wird, der bislang v.a. durch thematisch sinnig aufeinander bezogeneKulturgeschichtendesTrinkens und Betrinkens(2010) sowie desstillen Örtchens(2004) auf sich aufmerksam gemacht hat, nicht jedoch durch besondere Sachkenntnis im Bereich der napoleonischen Epoche. Wenn ein Buch zudem so offenkundig in großer Hast und ohne kundiges Lektorat verfasst wird, dann ist die publizistische Katastrophe ebenso vorhersehbar wie das Scheitern der Grande Armée im russischen Winter.

Dabei sind Anliegen und Ansatz des Autors aller Ehren wert. Er möchte keine weitere politische oder militärische Geschichte des Russlandfeldzugs schreiben, sondern das subjektive Erlebnis aus der Perspektive von Zeitzeugen auf der Grundlage der von ihnen verfassten Egodokumente (Briefe, Tagebücher und Memoiren) rekonstruieren. Dazu hat er 28 solcher Quellen ausgewählt, die er in längeren Passagen wörtlich zitiert und mit eigenen Kommentaren versieht. Allein zehn von Furrers Gewährsleuten sind Schweizer Soldaten in napoleonischen Diensten. Dass Furrer diese eidgenössische Perspektive besonders betont und wiederholt auf die Tradition der schweizerischen Söldner und auf die daraus abgeleitete eidgenössische Geschichtspflege eingeht, ist an und für sich kein Problem des Buches, sondern mag als erfrischender Blickwinkel gelten.

Weitere sechs Dokumente stammen vonDeutschen, acht von Franzosen, darunter so bekannten napoleonischen Zeitzeugen wie Bourgogne, Caulaincourt, Larrey, Marbot und Ségur; hier also keinerlei Überraschungen. Völlig unerfindlich ist hingegen die Kategorisierung von vier zusätzlichen Zeitzeugen alsBeobachter. Christian Wilhelm Faber du Faur zum Beispiel, berühmt für seine zeichnerische Dokumentation des Russlandfeldzugs, war württembergischer Artillerieoffizier schweizerischer Abstammung, ein Bewunderer Bonapartes und als solcher alles andere als ein neutralerBeobachter. Selbiges gilt für Sir Robert Wilson, der sich als britischer Verbindungsoffizier im russischen Stab aufhielt und ein notorischer Intrigant war; seine Charakterisierung alseiner der objektivsten Augenzeugen dieses Feldzugs(S. 39) ist nur eine von zahlreichen haarsträubenden Fehleinschätzungen.

Ins Auge fällt, dass die russländische Seite gleich gar nicht repräsentiert ist bzw. diese Perspektive außer von Wilson von dem unter dieDeutscheneingereihten Carl von Clausewitz (1812 im Stab eines russischen Korps) vertreten werden muss. Ein mitLeiden der Zivilbevölkerungüberschriebenes Kapitel (S. 265–276) wirkt wie ein nachgeschobenes Alibi; denn geschildert wird lediglich die Plünderung von zwei im Baltikum gelegenen Gutshöfen aus der Sicht des kommandierenden schweizerischen Offiziers Thomas Legler. Tatsächlich aber bleibt die russländische Sichtweisezivil wie militärischim gesamten Buch praktisch ausgespart, das sich damit in die ältere Tradition frankozentrischer Darstellungen des Jahres 1812 einreiht.

Das vielleicht interessanteste der zitierten Zeitdokumente sind die nachträglich redigierten Tagebuchaufzeichnungen der Luzernerin Katharina Peyer (1790–1876), die als Frau eines Schweizer Militärmusikers bis nach Polock kam und die Flucht von dort heimwärts schildert. Allerdings sind diese Memoiren bereits 1987 ediert worden, also genauso wenig eine Neuentdeckung wie die übrigen Dokumente (Inge Sprenger Viol: Katharina Morel. Die Geschichte einer Luzernerin, die auszog, das Fürchten zu lernen. Luzern 1987).

Stellvertretend für zahlreiche irreführende oder nachgerade grotesk falsche Angaben sei hier nur auf drei Stellen verwiesen. Furrer schreibt, 1812 hätten 296.000 ausländische (also nichtfranzösische)Söldnerin Diensten Napoleons gestanden (S. 57); dies stimmt natürlich nur dann, wenn man sämtliche Soldaten der mit Frankreich (zwangs‑) verbündeten Staaten alsSöldnerbezeichnet (tatsächlich handelte es sich aber in der Mehrheit um eingezogene Gestellungspflichtige). Eine Faber-du-Faur-Zeichnung ist mit der UnterschriftEinquartierungversehen (S. 106); tatsächlich aber ist der Einzug von Fourageuren in ein Feldlager aus improvisierten Hütten zu sehen, also eben keineEinquartierung(d.h. Unterbringung bei der Zivilbevölkerung). An anderer Stelle wird bei der zeitgenössischen Beschreibung eines Nahkampfes das Wort briquets vom Autor mitFeuersteinerklärt (S. 234); sollen wir darunter etwa einen Rückfall in das Faustkeilzeitalter verstehen? (In Wahrheit geht es natürlich um den sabre briquet, d.h. den Kurzsäbel der Infanterie.)

Fehlende Sachkompetenz ist nicht einmal das Hauptproblem dieses Buches. Es verdirbt den Spaß an der Lektüre und konterkariert den Zweck der Populärwissenschaft, indem es sich nicht zwischen chronologischer und thematischer Anordnung entscheidet und überhaupt völlig desorganisiert ist. Bevor der Autor endlich auf seinen eigentlichen Gegenstand zu sprechen kommt, wird der Leser in zwei weitschweifigen Kapiteln mit der Entwicklung Europas seit Ausbruch der Französischen Revolution, der Rolle Napoleons und den Koalitionskriegen traktiert. Auch nachdem die Grande Armée endlich den Nemen überschritten hat, setzt sich das konfuse Springen zwischen Zeiten und Orten fort. Das geschieht nicht nur innerhalb des Russlandfeldzugs, bei dem Napoleons Truppen ständig zur selben Zeit vorrücken und sich zurückziehen (wenn der geneigte Leser überhaupt noch folgen kann, an welchem Ort und in welcher Zeit er sich gerade befindet). Der thematische Rahmen wird im Zweifelsfall völlig aufgegeben, um willkürliche Hinweise auf andere Kriegsschauplätze (gerne Spanien) und andere Zeiten (gerne den Zweiten Weltkrieg) einzustreuen. Wo eine Deutung aus dem Verständnis des Zeitalters kommen müsste, folgen Platitüden im Stile von:Wenn Hass keine Grenzen mehr kennt, hat Menschlichkeit keinen Platz(S. 154), oder:Nur wer das Einzelne zu sehen vermag, kann auch das Allgemeine zu erfassen suchen(S. 256). Bei allem Gerede über die Tücken der Erinnerung und Mythenbildung sitzt der Autor ihnen selbst auf (Beispiel S. 274: die Russen hätten den Feldzug alsnationalen Krieggeführt, Begründung: seine Bezeichnung alsVaterländischer Kriegin der russischen Geschichtsschreibung!). Und wo eine abschließende Bilanz auf der Grundlage der neueren Forschung zu ziehen wäre, führt der Autor sprachlich holprige Spiegelfechtereien überHeldenverehrungoder denWert der Erinnerungmit Autoren, deren Schriften 1912 oder in den fünfziger Jahren erschienen sind.

Wenn eine Lehre aus diesem völlig missglückten Buch zu ziehen ist, dann die, dass sich deutschsprachige Historiker endlich an ihren anglophonen Kollegen ein Vorbild nehmen und selbst die schwierige populärwissenschaftliche Arbeit in die Hand nehmen sollten. Diese darf nicht schriftstellernden Laien überlassen bleiben, sondern muss mit demselben Sachverstand betrieben werden wie die akademische Forschung. Alles andere gewinnt unserem Fach keine neuen Leser.

Andreas R. Hofmann, Leipzig

Zitierweise: Andreas R. Hofmann über: Daniel Furrer: Soldatenleben. Napoleons Russlandfeldzug 1812. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2012. 328 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-3-506-77408-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hofmann_Furrer_Soldatenleben_Napoleons_Russlandfeldzug.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg and Andreas R. Hofmann. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.