Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 2, S. 298-300

Verfasst von: Andreas R. Hofmann

 

Orlando Figes: Crimea. The Last Crusade. London: Allen Lane Publishers, 2010. XXIII, 575 S., 8 Ktn. ISBN: 978-0-7139-9704-0.

Der Krimkrieg ist von der historischen Forschung recht stiefmütterlich behandelt worden. Die wichtigsten Ursachen dafür nennt Orlando Figes in seinem Epilog über den Stellenwert dieses Krieges im historisch-kulturellen Gedächtnis der beteiligten Nationen: Entweder wurde die Erinnerung an die Krim bald von nationalgeschichtlich konstitutiven Ereignissen überlagert, so der italienischen Einigung von 1861, dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und schließlich dem „Great War“. Oder aber, wie im russischen Fall, musste die Niederlage erst in einen moralischen Triumph „des Volkes“ umgedeutet werden. Selbst in der postosmanischen Türkei, nominell den Siegerstaaten zugehörig, weckte der Krimkrieg vorwiegend Erinnerungen an die demütigende Behandlung durch die eigenen Alliierten und wurde als bloße Episode in einer langen Niedergangsgeschichte betrachtet.

Lässt man diese nationalhistorischen Voreingenommenheiten beiseite, offenbart das Thema rasch eine Fülle interessanter und aufschlussreicher Aspekte. So ist es gut, dass sich ein ausgewiesener Russlandhistoriker wie Orlando Figes seiner angenommen hat, der nicht Gefahr läuft, in einer anglozentrischen Sichtweise steckenzubleiben. Zwar gibt es aus naheliegenden Gründen auch bei ihm einen gewissen Überhang englischer Quellen, aber insgesamt findet er durch die Benutzung französischer, russischer und selbst türkischer Archivalia und Veröffentlichungen eine gute Balance. Sein Anliegen ist es, eine Gesamtschau des Krimkriegs zu liefern, die dessen wesentliche politik-, militär- und kulturgeschichtlichen Aspekte aus den unterschiedlichen Perspektiven der beteiligten Länder herausarbeitet.

Die Chronologie reicht von der weit ausgreifenden Vorgeschichte in den russisch-osmanischen Kriegen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts über die militärischen Abläufe selbst bis zu den Nachkriegsjahren und unmittelbaren Auswirkungen. Die Kriegsursachen und die Bemühungen um eine Friedenslösung werden konventionell politik- und diplomatiegeschichtlich dargelegt; einmal mehr erklingt das europäische „Konzert der Mächte“, das die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts zuspitzende „Eastern Question“ intoniert. Der Untertitel des Buches ist Programm, denn Figes liegt daran, die religiöse Motivation hinter den politischen Entscheidungen deutlich zu machen (S. XXIII, 17, 41, 132–133 u. ö.). Nikolaus I. habe den Krieg aus dezidiert religiösen Beweggründen zur Befreiung der christlichen Balkanslaven von osmanischer Unterdrückung begonnen. Aber auch bei den westlichen Politikern, insbesondere bei Palmerston, dem Haupt der britischen „war party“, und selbst bei Napoleon III. sieht Figes allenthalben religiöse Motive am Werk, die sie dazu gebracht hätten, nicht die islamischen Osmanen, sondern das durch Tyrannei, Rückständigkeit und orthodoxen Aberglauben geprägte Russland als Gegner zu sehen. In den in englischen Kirchen gehaltenen Predigten, im Einsatz von Militärgeistlichen auf dem Kriegsschauplatz und auch in den Pressetexten der Zeit findet der Autor Belege für seine These. Damit macht sich Figes freilich angreifbar, denn es stellt sich die Frage, ob er hier nicht dem Trend zur Wiederentdeckung der Religion als eines konflikt­generierenden Faktors folgt, um seinem Buch einen zusätzlichen Aktualitätsbonus zu verschaffen. Mag auch die nicht gerade neue Erkenntnis zutreffen, dass sich der russische Kaiser in der Tat als Protektor der orthodoxen Christen des Osmanischen Reiches verstand und durch den Einfluss der Westmächte die russischen Sonderrechte an den Pilgerstätten des Heiligen Landes gefährdet sah, so stellt sich dennoch im russischen ebenso wie im britischen und französischen Fall die Frage, ob das christliche Vokabular der politischen Akteure nicht in erster Linie eine zeittypische rhetorische Verbrämung zur Legitimierung ganz anderer, nämlich machtpolitischer und imperialer Zwecke war. Solche Überlegungen kommen bei Figes entschieden zu kurz. Dem widerspricht nicht, dass bei dem russischen Bauern-Soldaten eine religiös untermalte Feindpropaganda ebenso wirkungsvoll gewesen sein dürfte wie Weihrauch und Vodka (wie schon zeitgenössisch der „Punch“ zu beobachten meinte), während auch den alliierten Soldaten die Religion als letzter Rückhalt im Krieg nicht fremd war. Letztlich waren auch bei Nikolaus I. religiöse und machtpolitische Motive kaum zu trennen. Figes konterkariert seinen eigenen Ansatz, indem er den vorweggenommenen Streit über die Erbmasse des „kranken Mannes am Bosporus“ klar als zentrale Kriegsursache herausarbeitet. Die religiöse Propaganda hätte er (hierin vielleicht an den ebenfalls zitierten Karl Marx anknüpfend) möglicherweise stärker unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Massenmobilisierung bei gänzlich verschiedenen Ausgangsvoraussetzungen der kriegführenden Parteien untersuchen sollen – kommerzielle Massenpresse in Großbritannien; etatistisch-autoritär gelenkte Medien in Frankreich, wo Napoleon III. seine noch junge Herrschaft ausdrücklich durch kriegerisches Prestige abzusichern, einen Abglanz der gloire seines Onkels zu erhaschen und die Schmach von 1812 zu tilgen versuchte; Analphabetismus, Pressezensur und praktische Abwesenheit von politischer Berichterstattung in Russland; schließlich eine reformorientierte und verhandlungsbereite, aber auch im Inneren geschwächte und von konservativen Moslems zu einer unnachgiebigen Haltung gezwungene Hohe Pforte.

Viel überzeugender ist das Buch bei der Behandlung der eigentlichen Kriegsereignisse. Nicht nur chronologisch markiert der Krimkrieg die ungefähre Mitte zwischen den Napoleonischen Kriegen und dem Ersten Weltkrieg. Zurecht bezeichnet Figes ihn als den „first modern war, a dress rehearsal of the trench fighting of the First World War“ (S. 373). In mancher Hinsicht folgte der Krimkrieg noch ganz den militärischen Doktrinen des frühen 19. Jahrhunderts. Auf beiden Seiten wurde das Kommando von amateurhaften Offizieren geführt, die keinerlei militärische Ausbildung besaßen, sondern auf ihre adeligen Führungsqualitäten setzten und verheerende Fehlentscheidungen bei der strategischen Planung und taktischen Gefechtsführung zu verantworten hatten. Immer noch verloren mehr Soldaten ihr Leben durch die Cholera als auf dem Schlachtfeld. Auf der anderen Seite gab es viele Innovationen, die auf zukünftige Entwicklungen verwiesen: die Beschleunigung der Kommunikation durch den Telegraphen; die erste Militäreisenbahn; die ersten regelrechten Kriegsreporter; die Anfänge der prompt zu Propagandazwecken eingesetzten Kriegsphotographie. Vielleicht betont Figes etwas zu sehr den innovativen Charakter der Grabenkämpfe bei der Belagerung von Sevastopol’, die durchaus Vorläufer im Belagerungskrieg früherer Epochen hatten. Das Sanitätswesen wurde modernisiert – der ungleich berühmteren Florence Nightingale stand auf russischer Seite der Militärchirurg Nikolaj Pirogov gegenüber, der als Erfinder der Triage gilt, das Chloroform als Anästhetikum gebräuchlich machte und viel zur Professionalisierung des russischen Militärsanitätsdienstes leistete.

Der Krimkrieg weist manche Züge des modernen Kriegs auf, die für das 20. Jahrhundert vielfach diskutiert worden sind und bis heute nicht an Aktualität verloren haben: die Unfähigkeit oder vielmehr den Unwillen der politischen Eliten, eine militärische Eskalation zu vermeiden; die Eigendynamik der militärischen und soziopolitischen Mobilisierung und die Wirkung innenpolitischer (Schein-)Zwänge auf die Kriegsführung, die den Akteuren schließlich die Initiative nahm; nicht zuletzt die einem mit ethnokulturellen (und eben nicht nur religiösen) Untertönen geführten Krieg folgenden Vertreibungen der Krim- und Nogaj-Tataren von der Halbinsel und aus Südrussland sowie der Tscherkessen und Abchasen aus dem Kaukasus, welche ihrem Umfang und Charakter nach die Rede vom 20. Jahrhundert als „Zeitalter der Vertreibungen“ zumindest relativieren. All das in einer ausgezeichnet geschriebenen und eindrücklichen Darstellung ins Bewusstsein zu heben, macht Figes’ Buch trotz der genannten Einwände zu einer lohnenden Lektüre.

Andreas R. Hofmann, Leipzig

Zitierweise: Andreas R. Hofmann über: Orlando Figes: Crimea. The Last Crusade. London: Allen Lane Publishers, 2010. XXIII, 575 S., 8 Ktn. ISBN: 978-0-7139-9704-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hofmann_Figes_Crimea.html (Datum des Seitenbesuchs)

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