Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 4, S. 591-603

Verfasst von: Andreas R. Hofmann

 

Andreas R. Hofmann, Leipzig

Neue Literatur zum napoleonischen Russlandfeldzug. Eine Auswahl

Runde historische Jahresdaten sind zumindest aus Sicht der Verlage gut für das Geschäft, wissenschaftlich dagegen oft von zweifelhaftem Nutzen, liefern sie doch Vorwände für publizistische Schnellschüsse, die den Blick auf die Thematik meist eher verstellen als schärfen. Immerhin bieten diese Jubiläen Gelegenheit, ein größeres Publikum auf ein wichtiges Thema hinzuweisen und manch verdienstvolles, aber übersehenes oder vergessenes älteres Werk wieder aufzulegen. Dieser Literaturbericht befasst sich mit einigen Publikationen, die außerhalb Russlands mit Blick auf den 200. Jahrestag des napoleonischen Russlandfeldzugs auf den Markt gebracht wurden. Die Auswahl erfasst darüber hinaus einige seit der letzten Jahrhundertwende erschienene Werke und gelegentlich auch ältere Titel, die für die hier behandelten Fragen von besonderem Interesse sind.1

Ein großes ereignisgeschichtliches Thema wie Russland 1812, das bereits mehr als einen großen Jahrestag hinter sich gebracht hat, mag auf den ersten Blick ausgeschrieben erscheinen. Auf den zweiten Blick sind dann aber doch Gesichtspunkte erkennbar, die erst in der jüngeren Forschung zum Tragen gekommen sind. Zumindest vom westlichen Standpunkt aus gehörten die russische Innensicht von 1812 wie generell die Revolutions‑ und die Napoleonischen Kriege zu diesen vergleichsweise vernachlässigten Aspekten. In dieselbe Kategorie fallen die gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Einflüsse der Französischen Revolution und der in ihrem Gefolge geführten Kriege, die, wenn überhaupt, eher als Vorgeschichte des Dekabristenaufstandes behandelt wurden, ferner die Frage der politischen Reformierbarkeit der Autokratie und der russischen Ständegesellschaft in ihrem Verhältnis zum Leibeigenschaftssystem.

Auf dem Feld der Kriegsgeschichte im engeren Sinne hat es eine Reihe von neuen Publikationen gegeben, die die Feldherrnhügelperspektive verlassen, der russischen Sicht der Dinge breiteren Raum geben und sich gelegentlich auf eine sozial‑ oder kulturhistorisch angeleitete Militärgeschichte zubewegen. In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu achten, inwieweit sich neuere Darstellungen entweder an der Bestätigung oder der Dekonstruktion des Napoleonmythos beteiligen, der in der westlichen Literatur häufig gegen alle Evidenz ausgerechnet anhand des Russlandfeldzugs fortgeschrieben wurde und wird.

Des Weiteren werden ausgewählte (Neu-)Editionen von Zeitzeugenberichten sowie auf solche gestützte Darstellungen danach befragt, ob sich auch hier neue Gesichtspunkte für eine Mikrogeschichte des Feldzugs und eine Perspektive von unten aufspüren lassen. Abschließend soll untersucht werden, inwieweit Publikationen zur visuellen Überlieferung des Russlandfeldzugs, die auch aus benachbarten Fächern wie der Kunstgeschichte und der Heereskunde Impulse erhalten, heute dazu beitragen, ein in Teilbereichen verändertes und genaueres Verständnis des Jahres 1812 zu gewinnen.

Forschungen zum Jahr 1812 in der russischen und der westeuropäischen Erinnerungskultur bleiben an dieser Stelle ausdrücklich ausgeklammert.2

1. Staat, Gesellschaft und Militär in Russland während der Napoleonischen Kriege

Wie Jürgen Osterhammel in seiner Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts anmerkt, gehörte Russland nicht zu denjenigen Staaten des Ancien Régime, in denen die Armeen des revolutionären und napoleonischen Frankreich einen ungefähr mit dem kalendarischen Jahrhundertbeginn zusammenfallenden epochalen Einschnitt im politischen und gesellschaftlichen System erzwangen.3 Es ließe sich einwenden, dass dennoch nicht erst die Invasion von 1812, sondern bereits Russlands militärische Niederlagen in den Kriegen der Dritten und Vierten Koalition von 1805 bis 1807 Veränderungen anstießen, die den zeitgleichen Reformen in Preußen und in den deutschen Mittel‑ und Kleinstaaten vergleichbar waren.
Bei näherem Besehen trifft jedoch Osterhammels Feststellung gleich in doppelter Hinsicht zu. Anders als in Preußen erfassten die russischen Reformen nämlich nicht das gesamte gesellschaftspolitische System, sondern blieben im wesentlichen auf den militärischen Bereich sowie Ansätze zur Modernisierung der Exekutive durch die Einrichtung von Ministerien beschränkt. Hier setzte sich direkt nach dem Frieden von Tilsit die Einsicht durch, dass die noch aus dem 18. Jahrhundert fortbestehenden institutionellen Eigenarten der russischen Armee der neuen Zeit hochmobiler Massenheere nicht mehr angemessen waren. In einem typischen Prozess des „Lernens vom Gegner“4 wurde nach französischem Muster ein Divisions- und Korpssystem aufgebaut, mit nicht nur jeweils eigenen Feldkommandeuren, sondern parallel dazu einem relativ unabhängigen, für Planung, Organisation und Logistik zuständigen Stabssystem. Zum institutionellen Umbau der Staatsleitung gehörte das 1810 bis 1812 eingerichtete Kriegsministerium, welches das 1812 aufgelöste, noch aus petrinischer Zeit stammende Kriegskollegium ersetzte.5
Osterhammel behält darüber hinaus auch insofern Recht, als sich die begrenzten Militärreformen in den Feldzügen der Jahre 1812 bis 1814 nicht unbedingt bewährten oder vielmehr sich nicht gegen die Trägheit der Strukturen und den Zwang der Umstände durchsetzen konnten. In der Forschung klaffen die Bewertungen freilich stark auseinander. In seinem institutionengeschichtlichen Überblick zur russischen Armee der Napoleonischen Kriege meint Frederick Kagan, das neue logistische System unter der Leitung eines Generalintendanten sei aufgrund der Erfahrungen von 18051807, wiederum nach französischem Vorbild, auf die Selbstversorgung der Feldarmeen aus ihrem jeweiligen Operationsgebiet orientiert und genau damit in den Feldzügen ab 1812 nicht sonderlich erfolgreich gewesen.6 Demgegenüber stellt Dominic Lieven in seiner Monographie über den russischen Anteil an den Befreiungskriegen gerade die logistischen Leistungen der russischen Armee heraus. Diese habe sich nämlich auf rückwärtige Depots im Mutterland gestützt, die in enger Zusammenarbeit der Militär- und Zivilbehörden der jeweiligen Gouvernements beliefert wurden. Auch bei zunehmenden Herausforderungen mit dem Wachsen der Entfernungen zwischen Depots und Feldarmeen bis zum Einmarsch in Paris habe sich diese Logistik im Großen und Ganzen bewährt.7 Tatsächlich handelte es sich offenbar um ein gemischtes System, bei dem sich die Feldarmeen sowohl aus den Depots wie aus Requisitionen vor Ort versorgten. Auch die Bedeutung der britischen Hilfslieferungen sollte in diesem Zusammenhang nicht vernachlässigt werden.
Im russischen Offizierskorps gab es nach 1807 wenn nicht einen Professionalisierungsschub, so doch verstärkte Bemühungen zur Systematisierung der militärischen Ausbildung, besonders bei der Artillerie, der seit petrinischer Zeit traditionell bevorzugten Waffengattung der russischen Armee. Anders als etwa in Großbritannien bot das Militär in Russland eher keine Laufbahn für den Offizier und Gentleman. Der Offiziersberuf wurde vielmehr von vielen vermögenslosen Kleinadeligen gewählt, die auf den Sold als ihren einzigen Lebensunterhalt angewiesen blieben. Lediglich Offizierskarrieren in der Garde waren wegen ihrer Nähe zum Kaiserhof und ihrer Anforderungen an einen luxuriösen Lebensstil ein Privileg des begüterten Adels.8 Andererseits fanden sich selbst in den Generalsrängen nur wenige, die über großen Besitz an Landgütern und Leibeigenen verfügten. Die russische Dienstrangtabelle, die unter den Kaisern Paul und Alexander I. vereinfacht wurde, scheint den Wechsel zwischen zivilen und militärischen Laufbahnen erleichtert und für eine gewisse soziale Durchlässigkeit des Systems gesorgt zu haben, die größer war als in Staaten, in denen der Offiziersrang ein exklusives ständisches Privileg blieb.9
Eine fortbestehende Eigentümlichkeit war der hohe Anteil ausländischer Offiziere in der russischen Armee, der sich durch die Emigration während der Französischen Revolution und den Zugriff des napoleonischen Frankreich auf die deutschen Staaten noch erhöht hatte. Die ablehnende Haltung der Offiziere oder der Armee insgesamt gegenüber diesen Ausländern gehört zu den historiographischen Topoi über 1812, wie auch die Zerwürfnisse im Generalstab und einige von dessen Fehlleistungen daraus herzuleiten. Während jedoch beispielsweise anhand der Korrespondenzen des „deutschen“ (tatsächlich aus einer schottischen, im Baltikum ansässig gewordenen Familie stammenden) Kriegsministers und erstweiligen Armeechefs Barclay de Tolly sowie des Fürsten Bagration (selbst kein Russe, sondern ein georgischer Prinz) deutlich wird, wie weit die Auseinandersetzungen innerhalb der Armeeführung gingen,10 hat die Forschung bisher noch nicht recht herausgearbeitet, ob diese Kluft auch bis auf die Ebenen der Feldkommandeure und der Subalternoffiziere hinunterreichte. Es müsste noch eingehender untersucht werden, ob es sich bei der nationalen Färbung der Gegensätze in der Armeeführung wie bei so vielen anderen Aspekten nicht um einen historischen Mythos handelt, den erst die retrospektive Interpretation von 1812 als „Vaterländischer Krieg“ (dieser Begriff kam erst seit den 1830er Jahren in Gebrauch) unter nationalen Gesichtspunkten geschaffen hat. Die Auskünfte prominenter Memoiristen unter den Emigranten, wie etwa Clausewitz’, Langerons oder des 1813 aus der Grande Armée in russische Dienste übergelaufenen Schweizers Jomini, machen jedenfalls nicht deutlich, inwieweit tatsächlich nationale Ressentiments eine Rolle spielten und nicht etwa die Eifersucht im Wettbewerb um Karrierechancen (wobei das eine das andere natürlich nicht ausschließt).
Mit Blick auf die einfachen Soldaten hat zuletzt Dominic Lieven die Leibeigenschaft als wichtigstes Strukturproblem herausgestellt, das in der napoleonischen Zeit die Umstellung auf die allgemeine Wehrpflicht unmöglich machte und Russland daran hinderte, ein den Anforderungen der neuen Kriegführung genügendes Massenheer aufzustellen.11 Dieses Strukturproblem sollte erst unter dem Eindruck der Niederlage im Krimkrieg ernsthaft mit den „Großen Reformen“ seit 1861 angegangen werden, und die Forschung hat die militärischen Motive hinter der Abschaffung der Leibeigenschaft entsprechend gewürdigt.12 Für die napoleonische Zeit beschränkt sich die Literatur dagegen meist darauf, pauschal auf die persönliche Entwicklung Alexanders I. zu verweisen, der nach reformpolitischen Anfängen schließlich vor radikaleren Schritten zurückgeschreckt sei, weil er diese dem landbesitzenden Adel nicht habe zumuten wollen oder weil ihn das Beispiel seiner Palastrevolten zum Opfer gefallenen Vorgänger – seines Großvaters Peters III. und seines Vaters Paul – davon abgeschreckt habe.13 Es bleibt unseres Erachtens vorerst genauer zu untersuchen, wie begründet diese Befürchtungen waren und wie reformbereit oder ‑unwillig die russische Adelsgesellschaft um 1810 tatsächlich war.
Die Einberufung einer Leibeigenenmiliz, des opolčenie, war der in den Feldzügen von 1806/07 und dann erneut 18121814 gewählte Notbehelf, um die nötige Truppenstärke aufzubringen und dennoch das Leibeigenschaftssystem nicht anzutasten. Glaubt man den Hinweisen in der Literatur, spielte das opolčenie zu keinem Zeitpunkt eine militärisch wichtige Rolle und wurde vorzugsweise zu Hilfsdiensten wie dem Schanzenbau oder als Krankenträger eingesetzt, zumal es unzulänglich bewaffnet und ausgebildet war und die Armeeführung ihm keinen ernsthaften Einsatz zutraute.14 Sofern auf der Grundlage der Quellen überhaupt möglich, ist eine Erfahrungsgeschichte des opolčenie erst noch zu schreiben: Was bedeutete es eigentlich, wenn ein leibeigener Bauer als Milizionär am Krieg teilnahm und anschließend in sein altes Leben zurückkehren sollte? Funktionierte seine Wiedereingliederung in die Bauerngemeinde reibungslos, oder wurde er zum potentiellen Unruhestifter und Rebellen, wie ihm die Gutsbesitzer unterstellten?
Die militärische Geringschätzung des opolčenie steht in einem gewissen Widerspruch zu dem früher besonders in der sowjetischen Literatur gepflegten Mythos des „Volks­kriegs“, der eine starke patriotische Motivation des russländischen Landvolks suggeriert. Auch auf diesem Gebiet sind vorerst nur isolierte Beobachtungen gemacht worden. Waren es wirklich patriotische, im Sinne von auf das Gesamtreich bezogene, Motive, welche die russländischen Bauern zu den Waffen greifen ließen, oder nicht vielmehr der Wunsch, Heim und Herd gegen Requisitionen und Marodeure zu verteidigen? Welche Rolle spielte die konfessionelle Motivation, welchen Einfluss besaßen die orthodoxen Priester? In diesen Themenkreis gehört auch die Beobachtung, dass es zu den von der russischen Adelsgesellschaft befürchteten Bauernaufständen nur vereinzelt und vor allem in den westlichen Landesteilen kam, wo die Aufstände sich meist gegen den polnischen grundbesitzenden Adel richteten.15

2. Operationsgeschichte versus „neue Militärgeschichte“: der Feldzug von 1812

An operationsgeschichtlichen Darstellungen des napoleonischen Russlandfeldzugs herrscht kein Mangel. Auch die Mehrzahl der neueren Publikationen folgt dem traditionellen Narrativ, die Chronologie des Krieges als Abfolge von Truppenbewegungen, Gefechten und Schlachten auszubreiten. In dieser Gattung sind die Bücher Alexander Mi­ka­beridzes hervorzuheben, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Rekonstruktion der Hauptschlachten quasi im Alleingang auf ein neues Niveau an Faktendichte und Ausgewogenheit zu heben. Wenn auch seine Monographien in einem eher konventionellen operationsgeschichtlichen Duktus verfasst sind, ist doch hervorzuheben, dass er es wie kaum ein anderer Autor vermag, im ständigen Wechsel der Perspektiven beiden Seiten und auch den besonderen Problemen von Kommunikation und Logistik der zeitgenössischen Kriegführung gerecht zu werden.16
Viele französische und andere westliche Autoren schreiben die Geschichte des napoleonischen Russlandfeldzugs hingegen nach wie vor aus einem frankozentrischen Blickwinkel. Nicht jeder geht dabei heute noch soweit wie in den 1990er Jahren Paul Austin, der in seinem dreibändigen Monumentalwerk zu 1812 die völlige Ausblendung der russischen Sicht damit begründet, dass es im Krieg schließlich auch nicht unparteiisch zugehe.17 Aber auch bei Autorinnen und Autoren, die ihre geschichtswissenschaftliche und publizistische Aufgabe ernster nehmen, ist zum Teil immer noch ein gerüttelt Maß an Einseitigkeit festzustellen, das sich nicht allein aus der Sprachbarriere erklären lässt; denn schließlich ist ein erheblicher Teil der russländischen Quellen im französischen, seltener deutschen Original veröffentlicht.
Kennzeichen dieser Schreibhaltung ist darüber hinaus die Gleichsetzung von Grande Armée und Franzosen und die Geringschätzung ihrer nichtfranzösischen Kontingente, die teils direkt aus den französischen Quellen übernommen wird, sowie die Fortschreibung des Mythos Napoleons als militärisch unbezwungenen Feldherrn, der seine Armee in einem strategisch-taktischen Geniestreich noch über die Berezina gerettet habe. Anka Muhlstein etwa schreibt nicht nur franko-, sondern napoleonzentrisch; konsequent verliert sie augenblicklich das Interesse am Schicksal der Überlebenden der Grande Armée, sobald der Kaiser bei Smorgony die Überreste seiner Armee verlassen hat, um nach Paris zu eilen.18 Jean Damamme, ein publizistisch sehr produktiver Spezialist der napoleonischen Ära, befleißigt sich in seinem Buch zu 1812 eines völlig aus der Zeit gefallenen Pathos; auch bei ihm sind die Helden ausschließlich Franzosen, während Alexander I. nach Tilsit die Rolle eines „faux ami“ zufällt; im übrigen betreibt Damamme antiroyalistische und bonapartistische Polemik, als sei die Zeit im 19. Jahrhundert stehengeblieben.19
Dies ist freilich ein besonders eklatantes Beispiel einer heutzutage doch recht antiquiert wirkenden Parteilichkeit. Auch bei französischen Historikerinnen und Historikern findet sich in der Regel das Bemühen um eine abwägende Haltung bis hin zur Darstellung der russländischen Binnenperspektive, etwa bei der Russlandhistorikerin Marie-Pierre Rey.20 Der Premier-Empire-Fachmann Jacques-Olivier Boudon stellt unter Beweis, dass man dem Thema durchaus auch ohne Russischkenntnisse eine ausgewogene Darstellung abringen kann. Darüber hinaus vermag es dieser Autor, in seinem konzisen Überblick zahlreiche wichtige Gesichtspunkte unterzubringen, über die andere leichterdings hinwegschreiben. Beispielsweise widmet er der Frage, aus welchen Quellen sich Napoleon vorab über Russland informierte und wie groß sein Wissen oder vielmehr Unwissen über dieses Land tatsächlich war, einige Überlegungen.21 Ebenso ist sein besonders skeptischer Umgang mit einigen Traditionen der narrativen Quellen hervorzuheben, um nur die Frage angeblicher Überlebender von Borodino bei der Überquerung des Schlachtfelds oder des Kannibalismus auf dem Rückzug als Beispiele zu nennen.22
Die wohl beeindruckendste erfahrungsgeschichtliche Synthese der jüngeren Zeit stammt aus der Feder von Adam Zamoyski, dessen im englischen Original bereits 2004 erschienenes Buch seit 2012 auch in deutscher Übersetzung vorliegt.23 Anders als etwa Lieven und Mikaberidze, stützt er sich zwar ausschließlich auf veröffentlichte Quellen und Literatur, kann jedoch ebenso wie jene beiden Autoren seine Vielsprachigkeit nutzen, um ein jederzeit ausbalanciertes, beiden Seiten gerechtes Bild zu entwerfen. Mit großem erzählerischem Atem führt er vor Augen, was es eigentlich bedeutete, als einfacher Soldat an diesem Feldzug teilzunehmen. Zwei manchmal übersehene Aspekte hebt er besonders ins Bewusstsein: zum einen die Schwere der Verluste an Menschen, Pferden und Material, welche die Grande Armée durch Hunger, Durst, Erschöpfung, Unwetter, Krankheiten und Kämpfe bereits auf ihrem Hinmarsch nach Moskau erlitt, zum anderen die Tatsache, dass die russische Armee im Winter nur graduell bessere Bedingungen als die Überreste von Napoleons Truppen hatte und in einem stark dezimierten und ausgemergelten Zustand an der westlichen Reichsgrenze anlangte. Es waren also nicht allein politische Gründe, die Kutuzov dazu veranlassten, seinem Dienstherrn von einem weiteren Vormarsch abzuraten.

3. Die Perspektive von unten: Der redselige grognard und der schweigsame mužik

Geschichte werde von den Siegern geschrieben, behauptet ein historischer Allgemeinplatz. Das trifft auf die napoleonische Geschichte nur bedingt zu, denn kaum eine Epoche hat je eine größere Flut an Memoiren gerade bei den französischen Zeitzeugen veranlasst, die doch am Ende auf der Verliererseite standen. Im Verhältnis dazu sind russländische Erlebnisberichte rar, und das Ungleichgewicht der Überlieferungen von Augenzeugen wird noch krasser, wenn man die Berichte der Eliten ausschließt und nur die in jüngerer Zeit verstärktes Interesse findenden Egodokumente der sozialen Mittel- und Unterschichten in den Blick nimmt. Aus napoleonischer Zeit sind bisher ganze zwei, zudem sehr knappe Erlebnisberichte einfacher russländischer Soldaten bekannt und veröffentlicht.24
Ein Beispiel für das gewachsene Interesse an der Perspektive von unten ist die Wiederveröffentlichung der Memoiren des Joseph Deifel (17901864), eines Infanteristen, der mit dem bayerischen Kontingent am Russlandfeldzug teilnahm, in Gefangenschaft geriet und überlebte. Erstmals 1939 erschienen,25 spart diese Ausgabe aus den beiden überlieferten Manuskripten leider Deifels Erlebnisse während des Feldzugs von 1809 gegen die Tiroler Aufständischen aus. Das ist insofern schade, als es interessant gewesen wäre zu erfahren, welche Rolle die Konfessionszugehörigkeit Deifels bei der Wahrnehmung des jeweiligen Gegners und der Zivilbevölkerungen spielte. Julia Murken, Autorin einer Dissertation über die Erfahrungsgeschichte der bayerischen Soldaten im Russlandfeldzug,26 fasst ihre Ergebnisse in einer knappen Einleitung zu Deifels Memoiren zusammen. Sie weist darauf hin, dass bestimmte Wertungen Deifels im Hinblick auf die Franzosen (gegen die Deifel noch selbst 1815 ins Feld zog) erst durch nachträgliche Veränderungen des Autors Mitte des 19. Jahrhunderts in den Text eingeflossen sind und damit eher die stärker national aufgeladene Denkungsart der späteren Zeit widerspiegeln.27 Was Deifels Einstellungen und Verhalten im Jahre 1812 bestimmt, ist eben interessanterweise keine nationale Gesinnung, sondern eine mit dem Begriff der „Ehre“ umschriebene, im Familienkreis eingeschärfte Loyalität gegenüber seinem engeren Heimatland, dem Königreich Bayern, und seinem Truppenteil, dem in Nürnberg garnisonierten 5. königlich-bayerischen Infanterieregiment. Dies ist es, was ihn während seiner Gefangenschaft davon abhält, sich für die Russisch-Deutsche Legion werben zu lassen, die damals aus deutschen Soldaten in russischer Gefangenschaft gebildet und später in die preußische Armee übernommen wurde. Besonders diese Ausführungen machen Deifels Memoiren zu einer lohnenden Lektüre. Kritisch wäre anzumerken, dass das Buch einen besseren wissenschaftliche Apparat verdient hätte; beispielsweise bleibt der Leser mit den von Deifel nach Gehör aufgeschriebenen, bis zur Unkenntlichkeit entstellten polnischen und russländischen Ortsnamen allein, und man vermisst eine Karte, die seine Marschrouten und Aufenthaltsorte nachvollziehbar machen würde.
Für den napoleonischen Russlandfeldzug scheint eine weitere Publikationsform besonders populär zu sein, nämlich die Kompilation von Memoirenauszügen und Augenzeugenberichten, die in chronologischer Anordnung ohne oder mit stark reduziertem Kommentar dem Gang der Ereignisse folgt.28 Dafür hat jetzt auch der omnipräsente Alexan­der Mikaberidze ein Beispiel vorgelegt, das den Vorzug besitzt, ausschließlich russländische Augenzeugenberichte in englischer Übersetzung zusammenzutragen und so die Sprach­barriere der Quellenüberlieferung etwas abzusenken.29 Das Quellenverzeichnis dieses ersten von drei in Aussicht gestellten Bänden listet 63 ursprüngliche, oft schwer zugängliche Druckorte der meist russischsprachigen, vereinzelt auch deutschen oder französischen Originaltexte auf. Die Autorinnen und Autoren werden bei ihrer Erstzitierung jeweils knapp vorgestellt. Neben den üblichen Verdächtigen aus der Staatsführung und dem Militär sind einige zivile Zeitzeugen mit interessanten Auszügen aus Briefen oder Tagebüchern vertreten, die den Krieg gewissermaßen aus der Perspektive des Hinterlandes miterlebten. Insgesamt liegt der Schwerpunkt dennoch auf den militärischen Ereignissen; je eines von acht Kapiteln ist allein den Schlachten von Smolensk, Valutina Gora und Borodino gewidmet.

Offen gestanden, ist der Autor dieser Zeilen kein großer Anhänger dieser Publikationsform. Da sie sich an ein breites Publikum wendet, verzichtet sie auf einen wissenschaftlichen Apparat, der aber nötig wäre, um die aus ihrem Entstehungskontext und biographischen Zusammenhang gerissenen Textfragmente richtig einordnen zu können. Die gebotenen Lesehäppchen bieten selbstverständlich zum Teil hochinteressante individuelle Standpunkte und Urteile, gestatten aber wegen ihrer notwendigen Subjektivität weder einen Rückschluss auf größere Zusammenhänge noch die Rekonstruktion komplexer Details. So wird dem Leser mehr als alles andere die bloße Suggestion geboten, den Ereignissen quellennah auf der Spur zu sein tatsächlich ersetzt aber diese Kompilationsform weder das sorgfältig edierte Egodokument noch die auf breiter Quellengrundlage aufgebaute historische Darstellung.

4. Visualisierung des Russlandfeldzugs: Dekor versus Bildquelle

Die Bedeutung von visuellen Quellen in der Kriegsgeschichte lässt sich vielleicht mit Hilfe eines Gedankenexperiments vergegenwärtigen. Man stelle sich vor, die Kriege des 20. Jahrhunderts von den Balkankriegen bis zu den postjugoslawischen Zerfallskriegen seien nicht in Photographie und Film festgehalten worden, und frage sich, welchen Einfluss das auf unsere Wahrnehmung dieser bewaffneten Konflikte hätte. Bei aller Spekulation lässt sich doch annehmen, dass zumindest für die nachgeborenen Generationen die Abwesenheit der technischen Bildmedien größere emotionale Distanz zu den Ereignissen entstehen lassen würde.

Im Umkehrschluss lässt sich vermuten, dass die historische Wahrnehmung der Napoleonischen Kriege im Allgemeinen und des Russlandfeldzugs im Besonderen als fast die letzten bewaffneten Zusammenstöße des vorphotographischen Zeitalters in sehr spezifischer Weise durch die zeitgenössischen künstlerischen Bildmedien mitgeprägt wurde. Diese standen am Anfang einer Tradition mehr oder weniger imaginärer Bilderwelten, die von der nachträglichen Romantisierung der napoleonischen Epoche bis zu ihrem geschichtspolitischen Gebrauch beispielsweise in der sowjetischen Propaganda reichen.30 Die Produktion von Historienkitsch akademisch-neorealistischer Machart ist bis heute nicht versiegt und findet offenbar im postsowjetischen Russland in den großrussisch-vaterländisch gestimmten, kaufkräftigen Milieus dankbare Abnehmer.31 Als sicher muss gelten, dass in der Visualisierung der napoleonischen Ära die zeitgenössische Produktion längst von der Bilderflut der Historienmalerei und nicht zuletzt auch des Historienfilms32 überlagert und verdrängt worden ist.
Umso bedauerlicher ist es, dass keine der hier vorgestellten neueren monographischen Publikationen zum Russlandfeldzug den Versuch unternimmt, die zeitgenössische oder nachzeitige Bildproduktion sei es unter dokumentarischen, sei es unter rezeptionsgeschichtlichen Gesichtspunkten als eigenständige Quellengruppe einzubeziehen. Der visual turn scheint vorerst an der Forschung zu 1812 spurlos vorübergegangen zu sein. Vielmehr ist umgekehrt festzustellen, dass sich gerade die populärwissenschaftliche Monographie des Abbildungsteils auf Kreidepapier nur als eines dekorativen Kaufanreizes bedient, der inhaltlich weitgehend verzichtbar bleibt. Dabei werden zeitgenössische Bilder und solche der Historienmalerei des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts durchweg unterschieds‑ und kommentarlos aneinandergereiht. Diese Naivität im Umgang mit den Bildquellen geht mit einer ebenso großen Einfallslosigkeit einher, die sich beispielsweise in den immer wiederkehrenden Reproduktionen der nachnapoleonischen russischen Generals­porträts aus der Heldengalerie der Eremitage niederschlägt.33
Dabei hat gerade der Russlandfeldzug eine Reihe von zeitgleichen oder zumindest zeitnahen Bildern hervorgebracht, die von Augenzeugen stammen und als markante Zeitzeugnisse einer näheren Betrachtung wert sind. In erster Linie kommen zwei Künstler in den Sinn, die auf Seiten der Grande Armée an dem Feldzug teilnahmen und deren Bilder deshalb als seine authentischste visuelle Überlieferung gelten. Dies ist zum einen der württembergische Artillerieoffizier Christian Wilhelm Faber du Faur (17801857), der den gesamten Feldzug einschließlich des desaströsen Rückzugs von Moskau zeichnerisch begleitete und seine Werke später in Farblithographien bekannt machte. Diese Bilder sind bereits mehrfach publiziert worden.34

Der zweite dieser Künstler war der aus Nördlingen stammende Albrecht Adam (17861862), der sich erstmals während des Feldzugs von 1809 als Bataillen- und Militärporträtmaler hervorgetan hatte und anschließend nach Mailand gegangen war, um in den Dienst des Vizekönigs von Italien, Napoleons Stiefsohn Eugène de Beauharnais, zu treten. In seiner Funktion als exklusiver Hof- und Militärmaler Beauharnais’ begleitete er das von diesem kommandierte, aus italienischen und bayerischen Truppen zusammengesetzte Vierte Korps der Grande Armée bis Moskau, machte sich aber instinktsicher bereits zwei Wochen vor dem Rückzugsbefehl wieder auf den Rückweg, entging so der Katastrophe und konnte die Gesamtheit seiner Zeichnungen retten.

Wie auch Faber du Faur, nutzte Adam jede Marschpause, um seine Eindrücke zeichnerisch zu verarbeiten. Diese aus Russland zurückgebrachten Rohskizzen bildeten die Vorlage für eine Serie von 83 Lithographien, die Adam in den 1820er Jahren unter dem Titel „Voyage pittoresque“ veröffentlichte.35 77 davon wurden zusammen mit einer englischen Übersetzung der von Adam verfassten tagebuchartigen Begleittexte bereits 2005 in Buchform veröffentlicht, leider in einer vom Ende des 19. Jahrhunderts stammenden, völlig unauthentischen Kolorierung.36
Es ist das Verdienst einer Reihe französischer und italienischer Amateurhistoriker um Riccardo Papi, in einer aufwendig gemachten Publikation erstmals eine größere Auswahl aus Adams um die Feldzüge von 1809 und 1812 gruppierten graphischen und malerischen Werken zusammengetragen zu haben.37 Im Mittelpunkt dieser Publikation stehen die zwölf im Auftrag de Beauharnais’ angefertigten Ölgemälde, die als verschollen galten und von Papi in jahrelanger detektivischer Arbeit aufgespürt wurden; sie finden sich heute verteilt auf die Petersburger Eremitage, das Moskauer Puškin-Museum, die Königlichen Sammlungen in Stockholm und verschiedene Privatsammlungen. Daneben bringt der Band eine Auswahl aus Adams Skizzen und Zeichnungen, Lithographien und den 83 kleinformatigen Ölbildern, die neben den großen Repräsentationsgemälden entstanden und die in chronologischer Folge de Beauharnais’ Stab bis nach Moskau begleiten.38
Adams graphisches und malerisches Werk zusammengenommen, insbesondere aber die Lithographien und kleinformatigen Ölbilder, bilden so etwas wie ein illustriertes Tagebuch des Russlandfeldzugs bis zur Ankunft in Moskau. Ähnlich wie Faber du Faur, beschränkt sich Adam nicht auf dramatische Kampf- und Schlachtszenen, sondern zeigt daneben alltägliche Marsch- und Lagersituationen in nahezu dokumentarischer und ganz unpathetischer Weise. Das unterscheidet sowohl Adam als auch Faber du Faur wohltuend von einem napoleonischen Staats‑ und Propagandamaler wie Jacques-Louis David. Andererseits ist auch bei Adam nicht zu übersehen, dass seine Darstellungen bestimmten Konventionen folgen, die unausgesprochenen Tabus des Nicht-Abbildbaren unterworfen sind. Adam weist in seiner Autobiographie, die in dem Band in einer (leider die Auslassungen nicht kennzeichnenden) gekürzten Fassung wiederabgedruckt ist, mehrfach darauf hin, welche Hindernisse der Arbeit des zeichnerischen Chronisten entgegenstanden; neben dem Zeitmangel waren das insbesondere die dichten Pulverrauchschwaden, die keine weite Sicht über das Schlachtfeld erlaubten.39
Trotz solcher kritischer Einsichten in die Arbeit des Schlachtenmalers sind es gerade Adams große bataillistische Werke, die offensichtlich am stärksten den zeittypischen Konventionen verhaftet sind. Die Perspektive ist die des Feldherrnhügels, Adams Dienstherr de Beauharnais befindet sich im visuellen Mittelpunkt, d.h. meist etwas links von der geometrischen Mitte des Gemäldes, der Blick wird vom Fingerzeig des Feldherren nach rechts geleitet, im Mittelgrund defilieren Truppenmassen, Tote, Verwundete und Schlachtfeldtrümmer sind gelegentlich am Bildrand drapiert und folgen damit einer seit dem Barock üblichen Konvention des Triumphalgemäldes. Ähnlich wie bei Faber du Faur, sind die Toten geradezu adrett-säuberlich arrangiert; nach schweren Verletzungen oder auch nur Blut sucht der Betrachter vergeblich. In einem originellen Beitrag zur Wahrnehmung der Kriegs von 1812 durch zivile, insbesondere weibliche Zeitzeugen hat Martina Winkler darauf hingewiesen, dass bezeichnenderweise Aussagen über körperliche Versehrungen und physisches Leiden fehlen, während sich die Aufmerksamkeit dem Schaden am Eigentum zuwendet, der gewissermaßen stellvertretend die Schrecken des Kriegs zum Ausdruck bringt.40 Eine ähnliche Blindstelle scheint sich in den zeitnahen visuellen Zeugnissen wiederzufinden; vielleicht lässt sich hieran eine Hypothese zu Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Diskurses in der schriftlichen wie visuellen Überlieferung anschließen. Das bildlich nicht Darstellbare ist offenbar identisch mit dem Unsagbaren. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht bleibt de Goya in der zeitgenössischen Kunst einzigartig.
Das bedeutet dennoch nicht, dass die Historiographie aus Bildquellen wie denen von Faber du Faur und Adam keinen dokumentarischen Mehrwert beziehen kann. Es scheint darauf anzukommen, dass wir, ähnlich wie wir bei den Textdokumenten zwischen den Zeilen zu lesen gewohnt sind, bei den visuellen Überlieferungen über den Bildrand hinaus schauen müssen. Interpolieren wir Faber du Faurs durchgehend zu sterile Szenen aus dem Rückzug mit den Funden aus dem vor einigen Jahren aufgefundenen Massengrab bei Vilnius,41 dann kommen wir vielleicht zu einer realitätsnäheren Anschauung des Kriegs, die sehr weit von seiner pittoresk-operettenhaften Bildtradition entfernt ist.
Es bleibt festzuhalten, daß trotz des anhaltenden publizistischen Interesses für den, ja der Faszination vom napoleonischen Russlandfeldzug wichtige Themenfelder vorerst noch wenig berührt worden sind. Statt uns hier an einem Resümee des Forschungsstandes zu versuchen, möchten wir lieber auf eine problematische Auffälligkeit hinweisen. Die meisten der hier vorgestellten Bücher sind populärwissenschaftlicher Schreibart, die sich verständlicherweise auf die ereignisgeschichtlichen Aspekte der Geschichte konzentriert und ihr Thema als großes Drama in drei bis fünf Akten (Vorgeschichte), Vormarsch, Moskau, Rückzug, (Nachwirkungen) – in Szene setzt. Viele erliegen dabei der Versuchung, den reichlich vorhandenen Erlebnisberichten buchstäblich auf dem Fuße zu folgen. Während in der Geschichtswissenschaft jedoch inzwischen das Bewusstsein dafür geschärft ist, dass auch literarische Werke, richtig gelesen, als historische Quellen in Betracht kommen, scheint manchmal die für jede Quellenkritik doch fundamentale Umkehrung etwas in Vergessenheit zu geraten, dass nämlich gerade narrative Quellen von ihren Verfassern oft auch als literarisch-ästhetische Texte angelegt sind. Einer der am häufigsten zitierten Zeitzeugen des Russlandfeldzugs ist der berühmte Gardesergent Bourgogne (1785–1867), der mit seinem aus der Picardie (!) stammenden Kriegskameraden namens Picart (!) alle Höhen und Tiefen des Rückzugs von Moskau aus erlebt.42 Keinem der oben genannten Autorinnen und Autoren scheint je aufgefallen zu sein, dass es sich – bei aller Wahrheit im Wesenskern – bei Bourgognes Aufzeichnungen um eine bewusste Stilisierung in Richtung auf den Picaro‑, also Schelmen‑ und Abenteuerroman handelt; denn besonders aufregende oder burleske Anekdoten, die cum grano salis zu nehmen wären, werden regelmäßig kommentarlos als authentische Kriegserlebnisse nacherzählt. So wird der Krieg auch nach 200 Jahren wieder zum großen Abenteuer, und als Historiker sollten wir uns fragen, ob das heute noch die angemessene Darstellungsform ist.

Aber bis zum 250. Jahrestag ist ja noch ein wenig Zeit zum weiteren Nachdenken.

 

 

 

Literaturverzeichnis

Adam, Albrecht Aus dem Leben eines Schlachtenmalers: Selbstbiographie nebst einem Anhange. Hg. v. Hyacinth Holland. Stuttgart 1886.

Adam, Albrecht Napoleon’s Army in Russia: The Illustrated Memoirs of Albrecht Adam, 1812. Barnsley 2005.

Adam, Albrecht Voyage pittoresque et militaire de Willenberg en Prusse jusqu’à Moscou, fait en 1812, pris sur le terrain même et lithographié par Albrecht Adam, 2 Bde. Munic 1827–1828.

Aust, Martin / Schönpflug, Daniel (Hg.): Vom Gegner lernen: Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 2007.

Austin, Paul Britten 1812: Napoleon in Moscow. London, Mechanicsburg, PA 1995.

Austin, Paul Britten 1812: The Great Retreat, Told by the Survivors. London, Mechanicsburg, PA 1996.

Austin, Paul Britten 1812: The March on Moscow. London, Mechanicsburg, PA 1993.

Bezotosnyj, Viktor M. (Hg.): Ėpocha 1812 goda: Issledovanija. Istočniki. Istoriografija. Sbornik materialov k 190- i 200-letiju Otečestvennoj vojny 1812. 7 Bde. Moskva 2002–2008. = Trudy Gosudarstvennogo Istoričeskogo Muzeja.

Bezotosnyj, Viktor M. [u.a.] (Hg.): Otečestvennaja vojna 1812 goda: Ėnciklopedija , Moskva 2004.

Bezotosnyj, Viktor M. [u.a.] (Hg.): Otečestvennaja vojna 1812 goda i osvoboditel’nyj pochod russkoj armii 1813–1814 godov: Ėnciklopedija v trech tomach. Moskva 2012.

Boudon, Jacques-Olivier Napoléon et la campagne de Russie 1812. Paris 2012.

Bourgogne, Adrien-Jean-Baptiste-François Mémoires du sergent Bourgogne (1812–1813). Hg. v. Paul Cottin, 6. Aufl. Paris 1910.

Damamme, Jean-Claude Les aigles en hiver: Russie 1812. O.O. [Paris] 2009.

Deifel, Joseph Infanterist Deifl: Ein Tagebuch aus napoleonischer Zeit. Hg. v. Eugen von Frauenholz. München 1939.

Deifel, Joseph Mit Napoleon nach Russland: Tagebuch des Infanteristen Joseph Deifel. Regensburg 2012.

Faber du Faur, Christian Wilhelm von Der Russlandfeldzug Napoleons 1812: Blätter aus meinem portefeuille, im laufe des feldzuges 1812 in Russland, nach den Originalen im Bayerischen Armeemuseum, hg. v. Ernst Aichner/ Jürgen Kraus. Ingolstadt 2003.

Furrer, Daniel Soldatenleben. Napoleons Russlandfeldzug 1812. Zürich 2012, Lizenzausgabe Paderborn 2012.

Hecker, Hans 1812 – Napoleon in Russland: Eine Literaturschau, in: Osteuropa 63 (2013), 1, S. 127–134.

Kagan, Frederick W. Russian Military Reform in the Age of Napoleon, in: David Schimmelpenninck van der Oye / Bruce W. Menning (Hg.) Reforming the Tsar’s Army: Military Innovation in Imperial Russia from Peter the Great to the Revolution. Washington D.C. 2004, S. 189–204.

Keep, John L. H. Soldiers of the Tsar: Army and Society in Russia, 1462–1874. Oxford [u.a.] 1985, ND 1988.

Kibovskij, Aleksandr V. Boevaja letopis’ Rossii: Aleksandr Aver’janov. Batal’naja živopis’. Moskva 2012.

Klessmann, Eckart (Hg.): Napoleons Rußlandfeldzug in Augenzeugenberichten. Düsseldorf 1964; Taschenbuchausgabe 2. Aufl. München 1982.

Lieven, Dominic Russia against Napoleon: The Battle for Europe, 1807–1814. London 2009.

Lieven, Dominic Russland gegen Napoleon: Die Schlacht um Europa. München 2011.

Mikaberidze, Alexander The Battle of Borodino: Napoleon Against Kutuzov. Barnsley 2007.

Mikaberidze, Alexander The Battle of the Berezina: Napoleon’s Great Escape. Barnsley 2010.

Mikaberidze, Alexander (Hg.): Russian Eyewitness Accounts of the Campaign of 1812. London 2012.

Mikaberidze, Alexander The Russian Officer Corps in the Revolutionary and Napoleonic Wars, 1792–1815. New York 2004.

Muhlstein, Anka Napoléon à Moscou. Paris 2007.

Muhlstein, Anka Der Brand von Moskau: Napoleon in Rußland. Frankfurt, Leipzig 2008.

Murken, Julia Bayerische Soldaten im Russlandfeldzug 1812: Ihre Kriegserfahrung und deren Umdeutungen im 19. und 20. Jahrhundert. München 2006.

Murken, Julia Einführung: Der Russlandfeldzug 1812. Kriegserfahrungen und Deutungen im Tagebuch des Joseph Deifel, in: Deifel: Mit Napoleon, S. 7–23.

Nafziger, George F. Napoleon’s Invasion of Russia. Novato CA 1988.

Nohejl, Regine / Rapp, Konstantin Tagungsbericht Zwei Jahrhunderte im Gedächtnis Russ­lands / Dva veka v pamjati Rossii. 18.02.2013–19.02.2013, St. Petersburg, 2013, in: H-Soz-u-Kult, 10.05.2013,  http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4796 (17.02.2014).

Osterhammel, Jürgen Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. 5. Aufl. München 2010.

Pančulidzev, Sergej A. Sbornik biografij kavalergardov [Bd. 3:] 1801–1826, St.-Peterburg 1906, ND Moskva 2001.

Papi, Riccardo [u.a.]: Eugène und Adam: Der Prinz und sein Maler. Der Leuchtenberg-Zyklus und die Napoleonischen Feldzüge 1809 und 1812. Berlin 2012.

Rey, Marie-Pierre L’effroyable tragédie: Une nouvelle histoire de la campagne de Russie. O.O. [Paris] 2012.

Rey, Marie-Pierre / Lentz, Thierry (Hg.): 1812, la campagne de Russie: Histoire et postérités. Actes du colloque des 4 et 5 avril 2012. O.O. [Paris] 2012.

Signoli, Michel u.a. Les oubliés de la retraite de Russie: Vilna 1812 – Vilnius 2002. Paris 2008.

Sokolov, Oleg Valer’evič Bitva dvuch imperij 1805–1812. Moskva, Sankt-Peterburg 2012.

Sokolov, Oleg Le combat de deux Empires: La Russie d’Alexandre Ier contre la France de Napoléon 1805–1812. Paris 2012.

Spring, Laurence 1812 Russia’s Patriotic War. Stroud 2009.

Tranié, Jean / Carmigniani, Juan Carlos La Campagne de Russie: Napoléon 1812. Limoges 1981.

Winkler, Martina (Hg.): 1812 in Russland – Erzählung, Erfahrung und Ereignis. Leipzig 2012. = Themenheft von Comparativ: Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 22 ( 2012), 4.

Winkler, Martina „Wie schwer war dieses Jahr“ – Chaos und Ordnung, Besitzverlust und Eigentumskonzeptionen in Erinnerungen des Adels an 1812, in: Winkler, Martina (Hg.): 1812 in Russland – Erzählung, Erfahrung und Ereignis. Leipzig 2012. S. 14–30.

Wirtschafter, Elise Kimerling From Serf to Russian Soldier. Princeton NJ 1990.

Zamoyski, Adam 1812 Napoleon’s Fatal March on Moscow. London 2004.

Zamoyski, Adam 1812 Napoleons Feldzug in Russland, 10. Aufl. München 2012.

 

 

Dr. Andreas R. Hofmann ist freiberuflicher Historiker, Übersetzer und Redakteur. Böttgerstraße 12, D-04238 Leipzig (arhofmann@klioman.de).

Zitierweise: Andreas R. Hofmann über: Neue Literatur zum napoleonischen Russlandfeldzug. Eine Auswahl, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hofmann_FB_Russlandfeldzug_1812.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Andreas R. Hofmann. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.

1Siehe auch den Literaturbericht von Hecker 1812. Aus der neueren russischen Literatur insbesondere Bezotosnyj (Hg.): Ėpocha; Bezotosnyj u.a. (Hg.): Otečestvennaja vojna 2004; Bezotosnyj u.a. (Hg.): Otečestvennaja vojna 2012; Sokolov Bitva; frz. Ausgabe Sokolov Combat.

2Rey/Lentz (Hg.): 1812; Winkler (Hg.): 1812 in Russland; ferner Nohejl/Rapp Tagungsbericht.

3Osterhammel Verwandlung, S. 97.

4Aust/Schönpflug (Hg.): Vom Gegner lernen.

5Kagan Russian Military Reform, S. 191–196; allgemeiner zu den russischen militärorganisatorischen Anstrengungen 1807–1812 Lieven Russia, S. 102–137.

6Kagan Russian Military Reforms, S. 198.

7Lieven Russia, besonders S. 329–355; hierzu ausführlicher meine Besprechung in JGO 62 (2014), H. 3, S. 305–307; jetzt auch die dt. Ausgabe: Lieven Russland.

8Hierzu immer noch von Interesse Pančulidzev Sbornik.

9Ein Überblick über den Forschungsstand bei Mikaberidze Russian Officer Corps, S. vii–lxvi.

10Mikaberidze Russian Officer Corps, S. xxxix; Lieven Russia, S. 184185.

11Lieven Russia, S. 26–40.

12Aus der Fülle der Literatur beispielsweise Keep Soldiers, S. 351–381; Wirtschafter From Serf to Russian Soldier.

13Dieser Fokus auf Alexanders Persönlichkeit beispielsweise bei Zamoyski Napoleons Feldzug, S. 40–59; Lieven Russia, S. 56–59.

14Bezotosnyj (Hg.): Otečestvennaja vojna 2004, S. 521–523; dort auch weiterführende Hinweise auf die Literatur zum opolčenie; Lieven Russia, S. 217218, 231232.

15Lieven Russia, S. 219220; Boudon Napoléon, S. 133134.

16Mikaberidze Battle of Borodino; Mikaberidze Battle of the Berezina; zu letzterem meine Besprechung in JGO 59 (2011), H. 4, S. 609610. Ein umfassende operationsgeschichtliche Kompilation auch der weniger bekannten Schlachten und Gefechte bei Nafziger Napoleon’s Invasion.

17War, unless one is taken prisoner, is always a one-sided experience; […].“ Austin March on Moscow, S. 12. Die beiden anderen Bände sind Austin Napoleon in Moscow; Austin Great Retreat.

18Muhlstein Napoléon à Moscou; dt. Ausgabe Muhlstein Brand von Moskau.

19Damamme Aigles en hiver.

20Rey Effroyable tragédie; dazu ausführlich meine Besprechung in JGO (im Druck).

21Boudon Napoléon, S. 28–31.

22Boudon Napoléon, S. 199200.

23Zamoyski Napoleon’s Fatal March; Zamoyski Napoleons Feldzug.

24Ihre Namen sind Pamfil Nazarov und Ivan Men’šij; Lieven Russia, S. 15, 340–342.

25Deifel Infanterist Deifl; Deifel Mit Napoleon.

26Murken Bayerische Soldaten.

27Murken Einführung, S. 17–22.

28Klessmann Napoleons Rußlandfeldzug (mehrere Wiederauflagen seit der Erstausgabe 1964); Spring 1812; ferner Zwischenformen aus Darstellung und ausführlichen Zitaten wie der genannte Austin sowie, in gründlich misslungener Weise, Furrer Soldatenleben; zu diesem ausführlich meine Besprechung in JGO (im Druck).

29Mikaberidze (Hg.): Russian Eyewitness Accounts.

30Eine umfangreiche Auswahl dieser Bildtradition einschließlich der französischen und sowjetischen Historienmalerei bei Tranié/Carmignani Campagne de Russie. Als Beispiel die Bilder des sowjetischen Militärmalers Mitrofan Borisovič Grekov (1882–1934) auf der Website des russischen Verteidigungsministeriums: http://mil.ru/et/revived_era/grafic/gallery.htm?id=4923@cmsPhotoGallery (30.01.2014).

31Als Beispiel Aleksandr Aver’janov in Kibovskij Boevaja letopis’. Beispiele der neorealistischen Bataillistik Aver’janovs (geb. 1950) auch auf FreePictures, http://www.deshow.net/cartoon/averyanov-alexander-paintings-885.html (30.01.2014).

32Die russische Wikipedia zählt allein zehn Verfilmungen von Lev Tolstojs Roman „Krieg und Frieden“ für Kino und Fernsehen seit 1913; Vojna i mir, in: Vikipedija: Svobodnaja ėncyklopedija, URL: http://ru.wikipedia.org/wiki/Война_и_мир (30.01.2014).

33So beispielsweise bei Lieven Russia, nach S. 188; Mikaberidze (Hg.): Russian Eyewitness Accounts, nach S. 172; Spring 1812, nach S. 128. Besser, weil ausschließlich aus zeitgenössischem Material zusammengestellt, die Bildauswahl bei Zamoyski Napoleon’s Fatal March (in der deutschen Ausgabe fehlt dieser Abbildungsteil!).

34Die vermutlich beste jüngere Edition ist die des Bayerischen Armeemuseums Ingolstadt, Faber du Faur Russlandfeldzug.

35Adam Voyage pittoresque.

36Adam Napoleon’s Army.

37Papi u.a.: Eugène und Adam.

38Ein Verzeichnis dieser kleineren Ölbilder bei Papi u.a.: Eugène und Adam, S. 337.

39Adams Autobiographie erschien posthum zuerst 1886: Adam Aus dem Leben eines Schlachtenmalers; verkürzter Wiederabdruck bei Papi u.a.: Eugène und Adam, S. 19–78.

40Winkler „Wie schwer war dieses Jahr“.

41 Signoli u.a. Oubliés de la retraite.

42Bourgogne Mémoires du sergent Bourgogne.