Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 452-454

Verfasst von: Andreas R. Hofmann

 

Kirsten Bönker: Jenseits der Metropolen. Öffentlichkeit und Lokalpolitik im Gouvernement Saratov (1890–1914). Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2010. XII, 508 S., 23 Tab., 4 Ktn. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 45. ISBN: 978-3-412-20487-7.

Das Lokale ist politisch. Das ist in knappster Form eine der zentralen Thesen dieser für die Druckfassung gekürzten Bielefelder Dissertation. Sehr überzeugend argumentiert Kirsten Bönker gegen das zeitgenössische Verständnis von Politik, das diese auf die Haupt‑ und Staatsangelegenheiten beschränkt habe und von Teilen der Forschung zur russländischen Stadtgeschichte unkritisch übernommen werde. Dagegen seien auch die im lokalen Raum geführten Auseinandersetzungen nicht nur pragmatisch im übergreifenden Gemeininteresse ausgetragen worden, sondern hätten sehr wohl die unterschiedlichen sozialen, ökonomischen und ideologischen Standpunkte, Interessen und Zielvorstellungen der Debattenteilnehmer widergespiegelt, seien also eben in diesem Sinne politisch gewesen (S. 158–166 u. öfter).

Die Fallstudie lotet aus, in welcher Weise die lokale Gesellschaft das politische Prärogativ der zarischen Regierung in den städtischen Selbstverwaltungen und institutionellen wie informellen Orten zu umgehen suchte und welche Handlungsspielräume sie dabei besaß. Sie nimmt dazu drei Städte des Wolga-Gouvernements Saratov in den Blick: die Kleinstadt Balašov, die Mittelstadt Volsk und das um 1900 durch einen Industrialisierungsboom zur Großstadt aufsteigende Caricyn (das spätere Stalingrad bzw. Volgograd). Der Untersuchungszeitraum reicht von der konservativen Neuordnung der städtischen Selbstverwaltung im Jahr 1890 bis 1917, wobei der zeitliche Schwerpunkt nach der Revolution von 1905 liegt. Der sehr konsequent durchgeführte vergleichende Ansatz verlangt die Vernachlässigung der chronologischen zugunsten einer thematischen Darstellung, die neben Einleitung und Fazit in sieben größere Kapitel zur Stadtentwicklung, den politischen Akteuren, der lokalen Herrschaft, der Entwicklung der politischen Sprache, den Orten von Öffentlichkeit, den Vereinen sowie der Lokalpresse gegliedert ist. Ein in seinem Umfang beeindruckendes Quellen- und Literaturverzeichnis, Kartenskizzen des Gouvernements Saratov und der drei Städte sowie ein Register runden den Band ab. Letzteres enthält sinnvollerweise eine große Anzahl von Sachschlagwörtern, bringt jedoch nur eine nicht nach ihren Kriterien erklärte Auswahl der in dem Buch genannten Personen, was schade ist, weil es die schnelle Orientierung in der Vielzahl der Namen erschwert.

Es sollte zunächst klar sein, was das Buch nicht ist: Es ist keine parallele Stadtbiographie der drei Orte, die einen Überblick über alle Aspekte der lokalen Entwicklung zu geben beansprucht. Gleichwohl bietet das Eingangskapitel eine Zusammenfassung der wesentlichen sozialen und ökonomischen Veränderungen, um eine Einordnung in die größeren Entwicklungstrends der Zeit zu ermöglichen. Auch in der russischen Provinz fand sich um 1900 der Topos der Stadtkritik, der damals in Anbetracht verheerender hygienischer Zustände und hoher Sterblichkeit in den Armenvierteln europaweit Expertenöffentlichkeiten dringende Infrastrukturverbesserungen fordern ließ und den Umbau der städtischen Administrationen von Vermögens- zu Leistungsverwaltungen beschleunigte. Insgesamt findet sich in dem Buch jedoch wenig, was das Spezifische der jeweiligen Lokalität, die lokale Atmosphäre im Sinne einer dichten Beschreibung oder einer mikrohistorischen Rekonstruktion vor dem geistigen Auge des Lesers anschaulich werden ließe; denn das Interesse der Autorin geht in eine andere Richtung.

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage, inwieweit im autokratischen Russland die nach 1872 geschaffenen Institutionen der städtischen Selbstverwaltung auf der lokalen Ebene Möglichkeiten und Chancen boten, an politischen Entscheidungsprozessen zu partizipieren und zivilgesellschaftliche Praktiken einzuüben. Den Begriff der Zivilgesellschaft möchte Kirsten Bönker nicht normativ an westlichen Vorbildern ausrichten, sondern ihn, verstanden als Bereitschaft zur konsensualen Aushandlung von die Gesamtheit betreffenden Fragen bei prinzipiellem Gewaltverzicht, als heuristisches Hilfsmittel zur Untersuchung des historischen Einzelfalles heranziehen (S. 1525). Diese Vorgehensweise erscheint überzeugender, als aus oszillierenden Quellenbegriffen wie dem mestnoe obščestvo (lokale Gesellschaft) oder dem aus Westeuropa übertragenen, für den russischen Fall nicht recht passenden Bürgertumsbegriff ähnliche Orientierungsmarken zu konstruieren.

Dennoch stellt sich die Autorin der Frage, in welchem sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnis die nach je unterschiedlichen Kriterien definierten Teilöffentlichkeiten der Städte zueinander standen, von der Gesamtheit der (nur dem Prinzip nach immer noch nach Ständen gegliederten)Stadtbewohner(obyvateli) bis hin zu der exklusiven Gruppe der vermittels ihres Besitzes zur Wahl der zemstva und der Stadtdumen berechtigten Zensusgesellschaft. Dielokale Gesellschaftim Sinne der aktiv an der Diskussion um Probleme von Stadt und Land teilnehmenden Stadtbürger ging merklich über diese Zensusgesellschaft hinaus. Besonders nach 1905 zeigte sie die Bereitschaft, sich für Personen zu öffnen, die zwar den Wahlzensus verfehlten, sich aber über Bildung und Beruf auszeichneten, die also aus der klassischen intelligencija stammten oder auch in jüngerer Zeit aus dem Bauernstand in die freien Berufe aufgestiegen waren.Lokale Gesellschaftwar aber keineswegs deckungsgleich mitZivilgesellschaft. Denn ihr gehörten auch Angehörige reaktionärer Gruppierungen wie desBunds des Russischen Volkes(Sojuz Russkogo Naroda, SRN) an, die sich durch blinde Zarentreue, Ablehnung jedweder gesellschaftspolitischer Veränderung und militanten Antisemitismus auszeichneten und sich deswegen per definitionem dem zivilgesellschaftlichen Verhaltensstandard entzogen.

Im Übrigen gab es bis in diebürgerlicheMitte der nach 1905 entstandenen konstitutionell-liberalen Parteien hinein eine unterschwellige Gewaltbereitschaft oder zumindest eine stillschweigende Zustimmung zur Gewaltanwendung als politischem Mittel. Politische Parteien spielten als solche jedoch in der lokalen Gesellschaft und ihren Institutionen eine eher untergeordnete Rolle. Denn wie Bönker darlegt, blieben die Wahlen zu den Stadtdumen wie auch zu den zemstva rein personenbezogen und wurden nicht nach Parteien organisiert. Wenn ein Lokalpolitiker nicht auch auf Reichsebene politisch aktiv wurde, lässt sich seine Parteizugehörigkeit bzw. Sympathie für eine Partei oft nicht eindeutig ermitteln, sondern nur aufgrund der in den Polizeiberichten zu findenden Zuschreibungen annäherungsweise bestimmen. Die Tatsache, dass die Stadtverordneten keine Immunität genossen und die Protokolle der Stadtdumen den Zensurbestimmungen unterlagen, verdeutlicht, welch enge Grenzen der politischen Entfaltung der lokalen Gesellschaft gezogen waren. Allerdings zeigt die Autorin auch, wie sie in informellen Zirkeln, dem um die Jahrhundertwende sich auch in den kleineren Städten durchsetzenden Vereinswesen und nicht zuletzt in der nicht immer im Sinne der Zensurbehörde kontrollierbaren Lokalpresse die staatliche Einhegung durchbrach und sich politische Freiräume schuf.

Die Autorin ist dennoch weit davon entfernt, das teleologische Bild einer lokalen Gesellschaft zu entwerfen, die sich zielstrebig immer weiter auf die Zivilgesellschaft zubewegt hätte, wenn sie nicht schließlich von den Bolschewiki daran gehindert worden wäre. Wer sich auf lokaler Ebene für dasGemeinwohlder Stadt engagierte, hing nicht so sehr von parteipolitischen und ideologischen Präferenzen ab. Oft waren es nicht die engen Grenzen der lokalpolitischen Entscheidungsspielräume, sondern individuelle oder Gruppenegoismen, was die Stadtdumen beispielsweise daran hinderte, zur Finanzierung der Infrastrukturmaßnahmen den ihnen zu Gebote stehenden Besteuerungsrahmen auszuschöpfen; denn dies wäre schließlich zu Lasten ihrer Wähler aus der Zensusgesellschaft gegangen. Umgekehrt trat die russische Staatsmacht nicht nur als oppressiver Hegemon in Erscheinung, weil ihr selbst an einer funktionierenden Lokalverwaltung und einer Verbesserung der Lebensumstände in den Städten gelegen war. So ist es vielleicht eine der wichtigsten Erkenntnisse dieser empirisch reichen, intelligent argumentierenden und besonders in Bezug auf ihren Untersuchungsgegenstand innovativen Arbeit, dass sich die Fortentwicklung der Zivilgesellschaft und der Fortbestand der zarischen Monarchie keineswegs zwangsläufig ausschließen mussten.

Andreas R. Hofmann, Leipzig

Zitierweise: Andreas R. Hofmann über: Kirsten Bönker: Jenseits der Metropolen. Öffentlichkeit und Lokalpolitik im Gouvernement Saratov (1890–1914). Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2010. XII, 508 S., 23 Tab., 4 Ktn. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 45. ISBN: 978-3-412-20487-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hofmann_Boenker_Jenseits_der_Metropolen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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