Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 481-483

Verfasst von: Edgar Hösch

 

Stefan Troebst: West-östliche Europastudien / West-Eastern European Studies. Rechtskultur, Kulturgeschichte, Geschichtspolitik / Legal Culture, Cultural History, Politics of History. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2015. 318 S., 9 Ktn. = Transnationalisierung und Regionalisierung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 7. ISBN: 978-3-86583-840-7.

Der Verfasser hat in den letzten Jahren, neben fundierten historischen Quellenstudien u.a. zu den historischen und aktuellen Entwicklungen der Makedonienfrage, zum Kosovo-Konflikt, zur Südosteuropapolitik des faschistischen Italien und zur schwedischen Moskaupolitik im 17. Jahrhundert ein beeindruckend breites Feld zeitgeschichtlicher Themen bearbeitet. Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten sind in mehreren Sammelbänden nachzulesen: Das makedonische Jahrhundert. Von den Anfängen nationalrevolutionärer Bewegung zum Abkommen von Ohrid 18932001. Ausgewählte Aufsätze. München 2007. = Südosteuropäische Arbeiten, 130; Kulturstudien Ostmitteleuropas. Aufsätze und Essays. Frankfurt/M 2006. = Staaten und Gesellschaften im Epochenwandel, 11; und Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion. Ostmitteleuropa in Europa. Stuttgart 2013. = Forschungen zur Geschichte und Kultur des Östlichen Mitteleuropa, 43. Der vorliegende neue Sammelband enthält aktuelle Arbeitsergebnisse aus dem breiten Themenspektrum, mit dem sich der Verfasser vornehmlich in den Jahren 2010–2014 befasst hat. Den Literaturhinweisen in den Fußnoten lässt sich entnehmen, dass die Auswahl nur einen Ausschnitt aus seiner regen Publikationstätigkeit erfasst. In den Themen spiegeln sich die aktuellen Forschungsschwerpunkte, die der Verfasser im Umfeld seiner Leipziger Professur für Kulturgeschichte Ostmitteleuropas angeregt und bearbeitet hat. Inhaltlich verbindet die Aufsätze der historische bzw. aktuelle Europabezug. Das engagiert verfolgte wissenschaftliche Interesse war es dabei, „die Westzentriertheit der am Europabrett bohrenden Disziplinen und Forschungsrichtungen aufzubrechen“ (S. 15) und durch die stärkere Einbeziehung des europäischen Osten “die vermeintliche Anciennität, höhere Dignität und postulierte Superiorität seiner Westhälfte mittels transregionaler Vergleiche nicht nur synchroner, sondern auch diachroner Art“ (S. 14/15) zu relativieren. Dabei sieht der Verfasser insbesondere auch seine eigene Fachdisziplin gefordert, die „sich ihrerseits transregionalen und (gesamt)europäischen, aber auch eurasischen und globalen Fragestellungen und Komparationen öffnen muss“.

Die Bandbreite der angesprochenen Themen lässt sich an den programmatischen sieben Kapitelüberschriften ablesen, unter denen die Beiträge gruppiert wurden: Europagene Begriffe; Euromemory; Europäische Völkerrechtskultur; Sozialingenieurtum – eine europäische Er­findung?; Ostmitteleuropa als Zentrum Europas; Slaventum: Europas „Dornröschen“?; Europahisto­rio­graphien. Sie markieren gleichzeitig Schlüsselbegriffe eines aktuellen Diskurses innerhalb der mit Europa befassten Forschungsrichtungen. Im Fokus stehen Fragen einer trans­nationalen europäische Identität und die Bemühungen um eine gemeinsame Erinnerungskultur innerhalb der EU (Die europäische Union als „Gedächtnis und Gewissen Europas“? Zur EU-Geschichtspolitik seit der Osterweiterung, S. 49–91). Eingehend behandelt werden die Versuche einer Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen der Vergangenheit neben dem Holocaust, Fehlentwicklungen nationalstaatlicher Minderheitenpolitik (Zwangs­assimilierung, Umsiedlung und Vertreibung) und alternative Konzepte übernationaler Gemeinsamkeiten (Post-Panslavism? Political connotations of slavicness in 21st century Europe, S. 213–216, dazu die Fallstudie: Schwanengesang gesamtslavischer Einheit und Brüderlichkeit”. Der Slavenkongress in Belgrad 1946, S. 217–235). Im gesamteuropäischen Rahmen erschließen sich auch die Mechanismen und Folgen ethnonationaler Homogenisierungspolitik, die vergleichend an den Fallbeispielen Schweden und Bulgarien (Ethnonationale Homogenisierungspolitik zwischen Vertreibung und Zwangsassimilisierung. Schweden und Bulgarien als europäische Prototypen, S. 155–166) und an der Nationalitätenpolitik unter kommunistischem Vorzeichen untersucht werden (Kommunistische Nationskonstruktionen: Indigenisierung, Zwangsassimilierung/Zwangsumsiedlung, separatistisches Nation-Building und supranationale Konzeptionen, S.167–172). Deren schwierige Aufarbeitung nach der Jugoslawienkrise in nicht unumstrittenen zwischenstaatlichen Initiativen wird in einem gut dokumentierten Überblick nachgezeichnet (The discourse on forced migration and European culture of remembrance, S. 93–102).

In mehreren Anläufen und aus unterschiedlichen Perspektiven wirbt der Verfasser für das Konzept historischer Mesoregionen (Geschichtsregionen) in den Kultur- und Sozialwissenschaften, um „spezifische Cluster von Strukturmerkmalen langer Dauer zu ermitteln und voneinander abzugrenzen“ (S. 273). Die Entstehungsbedingungen dieses Analyseverfahrens mittlerer Reichweite werden im Kontext der innerfachlichen Diskussionen während der Zwischenkriegszeit erläutert („Geschichtsregion“: Historisch-mesoregionale Konzeptionen in den Kulturwissenschaften, S. 35–46). Weitere Beiträge befassen sich mit der Rezeptionsgeschichte in den Nachkriegsjahren (How historians of Europe meso-regionalize European history, S. 239–264) sowie mit den Auswirkungen auf die öffentliche Wahrnehmung der Vergangenheit (Halecki revisited: Europes conflicting cultures of remembrance, S. 195–202, und Mezo-regionalizing Europe: Politics vs. History, S. 203–210). Dass sich der Anwendungsbereich des geschichtsregionalen Analysekonzepts mit guten Gründen auch auf weitere Areale an der europäischen Peripherie ausdehnen lässt, führt der Verfasser am Beispiel der Schwarzmeerregion vor (Geschichtsregionale Schwarzmeerkonzeptionen in den Kultur- und Sozialwissenschaften, S. 287–295).

Als Dreh- und Angelpunkt transnationaler Vergleiche erweist sich für den Verfasser die „Mutter aller Geschichtsregionen“: Ost(mittel)europa. Sie hat nach seiner Überzeugung in besonderem Maße reichhaltiges Anschauungsmaterial für west-östliche Wechselseitigkeiten anzubieten. Mit überzeugenden Argumenten zeigt er an einer Abfolge von Kartenbildern, in denen sich Perioden imperialer Überformung durch externe Reichsbildungen spiegeln, die Bedeutung Ostmitteleuropas „als Transitraum und Drehscheibe eines Kulturtransfers in sämtliche Himmelsrichtungen“ (S. 177: Tidal Eastern Europe. Die pulsierende Staatenkarte Ostmitteleuropas (1000–2000), S. 177–193). In einem weiteren Beitrag verweist er auf die Tatsache, dass das moderne Völkerrecht nachhaltig aus den leidvollen Erfahrungen der Konfliktgeschichte im östlichen Europa (Schlagwort „Völkermord“) geprägt worden ist und durch die Vermittlung von Juristen ostmitteleuropäischer Herkunft (Lemkin und Lauterpacht in Lemberg and Later: Pre- and Post-Holocaust Careers of Two East European International Lawyers, S. 115–121) Innovationen in das humanitären Völkerrecht übernommen wurden (Speichermedium der Konflikterinnerung. Zur ost(mittel)europäischen Prägung des modernen Völkerrechts, S. 131–152). Ostmitteleuropäische Erfahrungen aus dem Wendejahr 1989 erlauben es auch, den Sonderweg der Balkanländer Rumänien, Bulgarien und Albanien in der Transformationsphase vom übrigen östlichen Mitteleuropa abzugrenzen (Das andere 89: Balkanische Antithesen“, S. 103–112). Der als Anhang beigegebene Beitrag über das Schwellenjahr 1667 in Russland (Schwellenjahr 1667? Zur Debatte über den „Durchbruch der Neuzeit“ im Moskauer Staat, S. 299–315) fällt auf den ersten Blick aus dem Zeitrahmen, inhaltlich exemplifiziert er allerdings sehr anschaulich an einem konkreten Beispiel die von dem Verfasser intendierte Vorgehensweise in der vergleichenden west-östlichen Forschungsarbeit.

Die Beiträge des Sammelbandes beeindrucken durch analytische Schärfe, durch die souveräne Anwendung interdisziplinärer Forschungsstrategien und durch eine stupende Kenntnis der einschlägigen Forschungsliteratur. Sie vermitteln interessante neue Einsichten, die über die engeren Grenzen des osteuropäischen Fachgebietes hinaus für das tiefere Verständnis einer gesamteuropäischer Geschichte grundlegende Bedeutung haben und zu weiterführenden Diskussionen anregen.

Edgar Hösch, Würzburg

Zitierweise: Edgar Hösch über: Stefan Troebst: West-östliche Europastudien / West-Eastern European Studies. Rechtskultur, Kulturgeschichte, Geschichtspolitik / Legal Culture, Cultural History, Politics of History. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2015. 318 S., 9 Ktn. = Transnationalisierung und Regionalisierung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 7. ISBN: 978-3-86583-840-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hoesch_Troebst_West-oestliche_Europastudien.html (Datum des Seitenbesuchs)

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