Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 515-516

Verfasst von: Bianca Hoenig

 

Mateusz J. Hartwich: Das schlesische Riesengebirge. Die Polonisierung einer Landschaft nach 1945. Mit einem Geleitwort von Karl Schlögel. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. XII, 285 S. = Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte, 23. ISBN: 978-3-412-20753-3.

Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa gehören zu den etablierten Themen in der deutschen Geschichtswissenschaft. Zwangsmigration und Neubesiedlung dieser Regionen, Heimatverlust der alten und Aneignung durch die neuen Bewohner aber als eng miteinander verflochtene Prozesse zu begreifen, hat erst seit einigen Jahren Konjunktur. Insbesondere bei Karl Schlögel an der Viadrina sind mehrere Arbeiten entstanden, die sich unter dieser Prämisse vorwiegend Städten wie Breslau/Wrocław oder Stettin/Szczecin widmen. Auch Mateusz J. Hartwichs Dissertation entstammt dieserSchlögel-Schule, setzt sich aber zum Ziel, den Ansatz auf eine Landschaft zu übertragen. Er beschäftigt sich mit der Aneignung der schlesischen Riesengebirgsregion durch die polnischen Neuankömmlinge nach dem Zweiten Weltkrieg bis etwa 1970. Als zentrales strukturelles wie kulturelles Merkmal des Gebiets stellt er den Tourismus ins Zentrum seiner Untersuchung. Der Autor kann sich auf einen umfangreichen Forschungsstand stützen, der sich einerseits auf seine Untersuchungsregion Niederschlesien, andererseits auf den Verlust- und Aneignungsprozess des ehemaligen deutschen Ostens nach dem Zweiten Weltkrieg bezieht. Mit seinem Quellenkorpus, der neben zentralen und regionalen Archivbeständen auch touristische Medien wie Postkarten, Reiseführer oder Landkarten umfasst, nimmt Hartwich aber eine bisher ungewohnte Perspektive ein. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Rolle die touristische Prägung der Region nach 1945 spielte, ob sie den Übergang gar erleichtert hat.

Dieser Frage geht er in fünf weitgehend chronologisch angeordneten Kapiteln nach. Darin schildert er den Wandel einer tief im deutschen kulturellen Gedächtnis verankerten Landschaft zu einem integralen Bestandteil der polnischen Staatlichkeit in ihren heutigen Grenzen. Zunächst liegt der Fokus auf der Entwicklung des Tourismuswesens bis 1945. Dabei hebt er die nationale Überformung sowohl der Landschaft (durch Bebauung und Benennung ebenso wie diskursiv etwa durch den Rübezahlmythos) als auch der im Riesengebirgsverein zusammengeschlossenen Akteure hervor. Während diese die Region am Ende des Zweiten Weltkriegs verlassen mussten, blieb die deutsch geprägte Kulturlandschaft erhalten. In den folgenden Kapiteln beschreibt der Autor, wie sich die polnischen Neusiedler mit der vorgefundenen Umgebung arrangierten. Dicht beschreibt er die ersten Versuche, die deutsche Prägung durch polnische Kontexte zu ersetzen. Die Spannweite reicht von der Neuorganisation des Vereinswesens bis zur Neukodierung des Gebirges durch Umbenennungen und Änderung der Grenzmarkierung. Dabei erwies sich die Landschaft als sehr viel sperriger als Stadträume.

Auf die strikt gegen das deutsche Erbe gerichteten Polonisierungs- und Zentralisierungsbemühungen der vierziger Jahre folgte ab Mitte der fünfziger Jahre das langsame Aufkeimen einer regionalen Identität. Von zentraler Bedeutung war die Liberalisierung des Grenzregimes, die eine wachsende Anzahl von Besuchern ost- wie westdeutscher Provenienz ins Land spülte. Die Implikationen dieser Entwicklung, die im Spannungsfeld zwischen Devisenbeschaffung, sozialistischer Freundschaft und Revisionismus­ängsten stand, macht Hartwich anschaulich. Als zweiten markanten Prozess in diesem Zeitraum benennt er regionale Reformbestrebungen, die zu einer Aufwertung der Traditionen im Fremdenverkehr und zu einem neu entstehenden regionalen Selbstbewusstsein führten. Komplementär zum polnischen Aneignungsprozess lief der Heimatdiskurs im Vertriebenenmilieu, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Zwar bietet es für sich genommen wenig neue Erkenntnisse, diesesvirtuelle‘ Riesengebirge stellt aber eine wichtige Ergänzung zu den Vorgängen vor Ort dar. Denn so wird deutlich, dass letztlich auf dieselben Motive rekurriert wurdedie Gebirgslandschaft selbst ebenso wie Rübezahl und andere Symbole wurden damit zu geteilten Erinnerungsorten (S. 192). In einem sehr kurz gehaltenen Ausblick skizziert Hartwich schließlich die Konjunkturen von Tourismus und Regionalbestrebungen im Riesengebirge nach 1970 bis heute.

Mit seiner Arbeit stellt Hartwich unter Beweis, welcher Gewinn darin liegt, das All­tags­phänomen Tourismus als Faktor historischen Wandels in Ostmitteleuropa ernstzunehmen. Auch dessen Rolle bei der Herausbildung einer neuen Regionalidentität, die vielfach von den touristischen Traditionen der Region ausging, wird deutlich. Ebenso erreicht der Autor sein Ziel, seine Regionalgeschichte grenzüberschreitend zu erweitern. Das geschieht in diesem Fall leider nur punktuell nach Süden, ins böhmische Riesengebirge. Dafür rückt die Beziehungsgeschichte Polens zur Bundesrepublik und der DDR, die hier erzählt wird, kulturelle und infrastrukturelle Kontinuitäten über die politischen Brüche hinweg in den Vordergrund. Zudem macht sie mit den Auswirkungen auf dieBereisteneine in der Tourismusgeschichte meist vernachlässigte Perspektive stark.

Kritisieren lässt sich vor allem, dass der nüchterne, angenehm zu lesende Stil bisweilen arg verkürzt daherkommt, Dinge dadurch eher behauptet denn diskutiert werden (beispielsweise bei der Begründung des transnationalen Zuschnitts der Studie, S. 6, 8). Das gleiche gilt auch für Quellenbeispiele: Hartwich hat faszinierendes Material ausgewertet, das reich ist an ebenso interessanten wie kurzweiligen Anekdoten. Immer wieder geht jedoch ihre Analyse kaum über die Bewertung alsbemerkenswertodercharakteristischhinaus oder sie werden in die Fußnoten verbannt. In solchen Fällen hätten die Ausführungen gerne ausführlicher ausfallen können. Zudem irritiert der häufige Gebrauch des Attributstotalitär, das in Widerspruch zu dem theoretischen Zugang über Aushandlungs- und Aneignungsprozesse steht (besonders deutlich, wenn von einer NGO in einem totalitären Staat die Rede ist, S. 146).

Diese Punkte schmälern das Verdienst der Studie jedoch nicht grundsätzlich. Hartwich ist es gelungen, auf verschiedenen Forschungsfeldern einen spannenden Beitrag zur Osteuropäischen wie zu einer integrierten europäischen Geschichte zu leisten, in dem er auch deutlich auf offene Fragen und weitere Forschungsmöglichkeiten hinweist. Die bisher auf städtische Milieus konzentrierte Forschung zu Neubesiedlung und Aneignung des kulturellen Erbes sowie die Tourismusgeschichte zu Ostmitteleuropa haben einen Impuls erhalten, auf den es nun zu reagieren gilt.

Bianca Hoenig, Basel

Zitierweise: Bianca Hoenig über: Mateusz J. Hartwich: Das schlesische Riesengebirge. Die Polonisierung einer Landschaft nach 1945. Mit einem Geleitwort von Karl Schlögel. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. XII, 285 S. = Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte, 23. ISBN: 978-3-412-20753-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hoenig_Hartwich_Das_schlesische_Riesengebirge.html (Datum des Seitenbesuchs)

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