Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 344-345

Verfasst von: Andreas Hilger

 

Barbara Stelzl-Marx: Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 19451955. München: Oldenbourg; Wien: Böhlau, 2012. 865 S., 128 Abb., 8 Tab. = Kriegsfolgen-Forschung, 6. ISBN: 978-3-205-78700-6, 978-3-486-70592-8.

Die sowjetische Besatzungspolitik in Österreich 1945 bis 1955 wurde in der internationalen Forschung lange wenig beachtet. In den letzten Jahren haben bi- und multilaterale Projekte jedoch gezeigt, dass das österreichische Beispiel sowie der Vergleich osteuropäischer und ostdeutscher Entwicklungen mit der sowjetischen Besatzungszone in Österreich wichtige Fragestellungen und Erkenntnisse über die Ziele und Praktiken stalinistischer Herrschaft und Außenpolitik liefern können. Barbara Stelzl-Marx hat auf diesem Feld über Jahre hinweg diverse Forschungsvorhaben mit initiiert und realisiert. Ihre Habilitationsschrift kann daher aus einem reichen Fundus von russischen und westlichen Quellen schöpfen sowie auf Resultate früherer Analysen zurückgreifen. Diese Vorgeschichte führte in der hier besprochenen Studie mitunter zu Wiederholungen. Auch die besonders intensive Auseinandersetzung mit Quellenbeständen der sowjetischen Besatzungsjustiz ist ein Nachhall früherer Projekte. Dabei überzeugen die Interpretationen, die die Autorin aus dem verzerrten Bild der sowjetischen Gerichtsakten destilliert, nicht immer. (S. 492, 499).

Im Ganzen nutzt Stelzl-Marx jedoch die gegebenen Möglichkeiten zu einer kombinierten Darstellung, dieetwas zu ausführlich - die sowjetische Besatzungspolitik referiert, detailliert die Struktur der Besatzungsapparate erläutert, in der Mikrogeschichte des Besatzungsalltags die multinationalen Perspektiven sowjetischer Soldaten und österreichischer Bürger erfasst und schließlich plastisch die Entwicklung der gesellschaftlichen Geschichtsbilder beschreibt.

Angesichts der schieren Masse von Einzelproblemen, die die Autorin auf knapp 800 Seiten anspricht, können hier nur einige Aspekte aufgegriffen werden. So zeigt Stelzl-Marx, dass sich auch in Österreich die sowjetischen Soldaten schwer damit taten, den mäandernden politischen Vorgaben des Kreml gerecht zu werden. Die politische Führung wollte die UdSSR ab Frühjahr 1945 vor allem als Befreier Österreichs präsentieren. Im Besatzungsalltag wirkte dagegen das langjährige Feindbild der Truppe, die im Kampf oder in der reichsdeutschen Besatzungspolitik keinerlei Unterschiede zwischen Deutschen und Österreichern hatte erkennen können, nach. An der kritischen Sicht der Besatzer vor Ort konnten auch Einzelaktionen des österreichischen Widerstands nichts ändern. Dessen Aktivitäten sahen die sowjetischen Sicherheits- und Armeebehörden überhaupt kritisch. Sie misstrauten den Motiven der Widerständler wegen ihrer Untergrundverbindungen ins westliche Ausland und wegen ihres häufigen bourgeoisen Hintergrunds. Insgesamt setzten stalinistische Grundüberzeugungen und Verhaltensmuster in Österreich repressive und anti-westliche Handlungsmechanismen in Gang, wie sie vor Jahren Norman N. Naimark für die sowjetische Politik in der SBZ beschrieben hat. Auch in den Folgejahren blieb die sowjetisch-österreichische Verständigung vor Ort problematisch, zumal die sowjetische Propaganda, die sich aktiv um die österreichische Bevölkerung bemühte, unter Personal- und Themenmangel litt. Österreichische Antipathien wurden durch sowjetische Repressionen, aber auch durch die sowjetische Wirtschaftspolitik noch vertieft. Dabei darf der Ertrag, den die UdSSR aus dem beschlagnahmten deutschen Eigentum und aus sonstigen Firmen zog, keinesfalls überschätzt werden. Nur die Ablösesummen, die die sowjetische Delegation 1955 aushandelte, lagen noch über den sowjetischen Schätzungen und erwiesen sich als Geschäft. (S. 281, 302303)

Derweil mussten sich die Soldaten der sowjetischen Armee in einer gänzlich neuen Welt zurechtfinden. Die sowjetische Führung wollte sie von der österreichischen Bevölkerung isolieren. Der Alltag der Soldaten blieb bis 1955 durchreglementiert und ohne wirkliche Freiräume. Das Gros der Besatzungskräfte erfuhr höchstens am Rande österreichisches Leben, das den Soldaten fremd blieb: Sowjetische Hobbyfotografen suchten sichexotische‘ Motive und sammelten etwa Aufnahmen von Einwohnern mit Trachtenhüten. Die sowjetische Führung ließ ihre Soldaten im übrigen auch in der Verarbeitung der Schrecknisse des Krieges allein. Das offizielle Kriegsbild feierte die Rettung der Kulturnation Österreich durch die Rote Armee und verschleierte bis in die 1980er Jahre hinein die immensen Kosten des Sieges. Die sowjetische Adaption des Hollywood-StreifensThe Great Waltz, der ab Juni 1940 in den sowjetischen Kinos gezeigt wurde, illustriert die tiefen Gräben, die sich zwischen der offiziellen und der privaten Deutung von Kriegs- und Nachkriegszeit auftaten. Die sowjetische Propaganda nutzte Kranzniederlegungen am Grabmal des durch den Film popularisierten Johann Strauß, um die sowjetische kulturelle Mission und das einvernehmliche Miteinander von Siegern und Befreiten zu zelebrieren. Für die sowjetischen (soldatischen) Zuschauer lieferte der Film dagegen höchstens eine willkommene Ablenkung von der harten Realität der Kriegs- und Nachkriegsjahre. Zugleich bot er einen Blick auf eine bessere Welt unter nicht-sowjetischen Bedingungen. (S. 640-642) Das harte Binnenregime der sowjetischen Armee auch in Österreich unterdrückte das latente Spannungsverhältnis, das zwischen soldatischen Wahrnehmungen und politischen Ansprüchen herrschte. Die inneren Widersprüche und die Ursachen für die Fluchten aus der Realität oder für die Begeisterung für alternative Entwürfe blieben bestehen. Die sowjetische Besatzungspolitik in Österreich scheiterte damit sowohl an der äußeren als auch an der inneren Front. Österreicher feierten 1955 euphorisch den Abzug der sowjetischen Befreier, und diese mussten noch Jahrzehnte nach Wegen suchen, um die Unvereinbarkeit des ideologisch-politischen Anspruchs der Staatsführung mit der gesellschaftlichen Realität und mit individuellen Sehnsüchten auflösen zu können.

Andreas Hilger, Hamburg

Zitierweise: Andreas Hilger über: Barbara Stelzl-Marx: Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955. München: Oldenbourg; Wien: Böhlau, 2012. 865 S., 128 Abb., 8 Tab. = Kriegsfolgen-Forschung, 6. ISBN: 978-3-205-78700-6, 978-3-486-70592-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hilger_Stelzl-Marx_Stalins_Soldaten_in_Oesterreich.html (Datum des Seitenbesuchs)

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