Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 160-162

Verfasst von: Andreas Hilger

 

Georg Schild: 1983. Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2013. 234 S., 2 Abb., 2 Tab., 1 Kte. ISBN: 978-3-506-77658-7.

1983 war „das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges“: Dem Autor, Professor für Nordamerikanische Geschichte an der Universität Tübingen, geht es in seiner Darstellung nicht um einen effektvollen Wettstreit, in dem der brisanteste Moment in der Geschichte des Kalten Kriegs herauspräpariert wird. Er schlägt vielmehr eine neue Sicht auf die Auseinandersetzung der Supermächte USA und UdSSR nach 1945 vor. Der besondere Stellenwert des Jahres 1983 ergibt sich für Schild aus zwei Überlegungen. Zum einen seien Reagans USA davon ausgegangen, dass sie aufgrund ihrer eigenen wirtschaftlichen und technologischen Überlegenheit den langjährigen Konflikt klar für sich entschieden hatten. Dagegen habe sich die UdSSR, die sich ihrer Schwächen wohl bewusst war, eine Niederlage noch nicht eingestehen wollen. Es ging der Reagan-Administration in ihren ersten Jahren demnach zwar nicht darum, den endgültigen Sieg militärisch zu beschleunigen, wohl aber, Moskau den westlichen, uneinholbaren Vorsprung vorzuführen und es somit zu den entsprechenden Ein- und Zugeständnissen zu bringen. Amerikanische Demonstrationen militärischer Stärke versetzten die geschwächte UdSSR jedoch in Alarmstimmung. Ausschlaggebend war hierbei, dass der Kreml Washington in dieser Zeit tatsächlich unmittelbare Angriffsabsichten zugetraut habe. Dieser Befund ist mit Schilds zweiter Grundthese verknüpft. Er sieht die zahlreichen Krisen der ersten Phase des Kalten Krieges bis einschließlich Kuba 1962 nicht als potentielle „Vorboten eines größeren Krieges“, sondern als „bewusst begrenzte Aushandlungsprozesse“ (S. 204). Diese gelangen, da die Entscheidungszentren in Washington und Moskau immer davon ausgegangen seien, dass „keine Seite einen Krieg wollte“ (S. 16). Gemäß der Darstellung Schilds ging dieses, wenn man so will, sowjetische Urvertrauen gegenüber den USA ab den von Moskau nicht erwarteten harschen amerikanischen Reaktionen auf die Invasion in Afghanistan verloren. Noch Präsident Carter leitete eine anti-sowjetische Politik ein, die unter Reagan forciert und mit Endkampfstimmungen aufgeladen wurde.

Schild führt seine Interpretationen in einer kompakten, sehr gut lesbaren Darstellung des Kalten Kriegs bis Mitte der achtziger Jahre aus. Den Kern stellt hierbei die Abkehr von der Entspannungsphase der späten sechziger und siebziger Jahre dar. Die Beschreibungen lassen deutlich die Dynamik der Abläufe gerade in Washington erkennen. Dem Leser wird eindrucksvoll die rasche Abfolge schwergewichtiger Entscheidungen und dramatischer Zuspitzungen vor Augen geführt. Diese waren in einen allgemeinen, deutlich wahrnehmbaren Stimmungswandel in den USA gegenüber der UdSSR eingebettet, verbunden mit Reagan’schen Armageddon-Phantasien und begleitet von öffentlichen Diskussionen um immer höher gesteckte amerikanische Aufrüstungsziele einschließlich neuer Gewinnchancen in einem Atomkrieg. In diesen Zusammenhängen erscheint 1983 tatsächlich als neuer Höhepunkt des Kalten Kriegs: Im Januar definierte Washington eine Änderung des politischen Systems der UdSSR als ein amerikanisches Politikziel, im März brandmarkte Reagan die UdSSR öffentlich als „Reich des Bösen“. Noch im selben Monat kündigte der US-Präsident – aus eigener Initiative und ohne Beratung mit seiner Umgebung – die Entwicklung eines weltraumgestützten Raketenabwehrschirms, SDI, an. Schild zeichnet die besondere militärstrategische Bedeutung des Programms nach und macht hierbei deutlich, dass es im misstrauischen Moskau durchaus als Baustein einer amerikanischen Erstschlags- und Enthauptungs-Strategie betrachtet werden konnte. Parallel hierzu unterstrichen amerikanische Marinemanöver und Aktivitäten der Air Force entlang der sowjetischen Grenzen eine machtvolle globale Präsenz der USA. Dieser hatte die UdSSR offenkundig nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Ab September 1983 kulminierten die Ereignisse: Der Abschuss des südkoreanischen Passagierflugzeugs KAL 007 über Sachalin am 1. September war aller Wahrscheinlichkeit nach einer Fehleinschätzung des sowjetischen Militärs geschuldet, das die Boeing für ein Spionageflugzeug hielt. Knapp vier Wochen später rettete der diensthabende Offizier im sowjetischen Raketenfrühwarnzentrum, Stanislav Petrov, die Welt vor einem Atomkrieg, indem er auf eigene Verantwortung Angriffsmeldungen des unausgereiften Systems als Fehlalarm klassifizierte und keine Gegenmaßnahmen einleitete. Im Oktober 1983 ließ Reagan die sozialistische Regierung von Grenada mit Militärgewalt stürzen. Anfang November übte die NATO den politischen Abstimmungsprozess ihrer Mitglieder vor dem Einsatz nuklearer Waffen. Erst jetzt wurde man in Washington unter anderem durch Meldungen des sowjetischen Doppelagenten Oleg Gordievskij gewahr, dass die sowjetische Führung ernsthaft mit einem Angriff rechnete. Die Reagan-Administration fand zu einem ruhigeren Auftreten zurück. Dieses trug dem sowjetischen Sicherheitsbedürfnis insofern Rechnung, als Washington eindeutig zu erkennen gab, dass die USA auf keinen Fall einen atomaren Krieg führen wollten: Was, so notierte sich ein völlig überraschter Reagan am 18. November 1983 in sein Tagebuch, „haben sie, was irgendjemand haben möchte?“ (S. 188).

Schilds Narrativ und Argumentation sind zupackend und anregend. Sie werfen allerdings ihrerseits Fragen auf. Für die Zeit ab den sechziger Jahren ist unsere Kenntnis der sowjetischen Motive und Entscheidungsprozesse generell weitaus weniger dicht und eindeutig, als es die Monographie erkennen lässt. So erscheint es zweifelhaft, dass sich die UdSSR vor allem aus Angst vor einem Ausgreifen des politischen Islams nach Zentralasien zur Invasion in Afghanistan entschloss. Ob das erwähnte Raketenfrühwarnsystem 1982 aus Angst vor den USA vorschnell in Betrieb genommen wurde, sei dahingestellt, ebenso der wirkliche Stellenwert, den die sowjetische Politik in ihren Entscheidungen der – traditionellen und grundsätzlich routinemäßigen – geheimdienstlichen Aufgabe beimaß, Angriffsvorbereitungen des Gegners im Frühstadium zu erkennen. Darüber hinaus bleibt die Balance von Ideologie und Realpolitik in der sowjetischen Außenpolitik bei Schild unklar. Dass die sowjetischen Führer von Stalin bis Andropov einen atomaren „großen Entscheidungskrieg jemals willentlich und bewusst als Ziel definiert und angestrebt haben“, wird man so kaum behaupten wollen (S. 204). Anders sieht es jedoch aus, wenn es um die sowjetische Fremdwahrnehmung ging: Hier ist es keineswegs ausgemacht, dass Stalin und seine Nachfolger durchgängig davon überzeugt waren, dass die USA diesen Konflikt partout „nicht wollten“ oder zumindest nicht bereit waren, ihn gegebenenfalls in Kauf zu nehmen (S. 204). In diesem Gesamtzusammenhang wünschte man sich schließlich, dass die Studie die unauflösbare Verflechtung der bipolaren Konfrontation mit weiteren Entwicklungen des 20. Jahrhunderts ausführlicher thematisiert und damit relevante Interdependenzen erfasst hätte. Ohne eine angemessene Einbeziehung der Außenpolitik Maos beispielsweise bleiben Beschreibungen des Koreakriegs oder der Bemühungen um eine Begrenzung der Atomrüstung lückenhaft, werden wichtige krisenhafte Entwicklungen etwa in der Taiwanfrage oder in Südostasien nur unvollständig erfasst. Insgesamt ergab sich unter anderem aus der Eigendynamik regionaler Interessen und der entsprechenden Konflikte mit ihrem gefährlichen Potential zur Eskalation sowie ihrem Wechselspiel mit innenpolitischen Machtkonstellationen insbesondere in Moskau, mit globalen innersozialistischen und ggf. innerkapitalistischen Debatten sowie mit bilateralen Beziehungen der Supermächte zu Dritten eine multidimensionale Komplexität des Kalten Krieges, die über die unmittelbaren sowjetisch-amerikanischen Beziehungen hinausging.

Andreas Hilger, Hamburg

Zitierweise: Andreas Hilger über: Georg Schild: 1983. Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2013. 234 S., 2 Abb., 2 Tab., 1 Kte. ISBN: 978-3-506-77658-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hilger_Schild_1983.html (Datum des Seitenbesuchs)

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