Felix Römer Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2008. 667 S., Ktn., Abb., Tab.

Bereits seit der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde die Debatte um das Wissen über und die Durchführung des sogenannten Kommissarbefehls vom 6. Juni 1941 – der „Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare“ – dominiert von Fragen nach der Akzeptanz und der Befürwortung des nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungskriegs gegen die UdSSR im Ostheer sowie von der Frage nach dem Kreis der an Verbrechen unmittelbar Beteiligten. Die öffentliche Positionierung ehemaliger Soldaten und ihrer Befehlshaber war eindeutig. Sie behaupteten, die „Truppe“ habe diesen klar völkerrechtswidrigen Mordbefehl am kriegsgefangenen Gegner oder an zivilen Funktionären vehement abgelehnt bzw. umgangen. Die besonders seit den siebziger Jahren intensivierten Untersuchungen der Rolle der Wehrmacht im Gesamtunternehmen „Barbarossa“ haben das Bild einer „sauberen Wehrmacht“ auch am Beispiel des Kommissarbefehls weitgehend zerstört. Die Forschung konnte sich jedoch nicht abschließend über die Gesamtdimensionen der Morde, den Täterkreis oder die Motivlagen der Beteiligten verständigen. Dies lag auch daran, dass eine flächendeckende Untersuchung der Durchführung des Kommissarbefehls zwar seit Jahrzehnten angemahnt, aber nicht in Angriff genommen wurde. Felix Römer hat sich nun mit aller Akribie dieser Herkulesaufgabe gestellt. Schon die quantitativen Ergebnisse sind ernüchternd. Trotz einer oftmals lückenhaft bis katastrophalen Überlieferungssituation lässt sich für 54 Prozent der deutschen Divisionsstäbe eindeutig belegen, dass sie die „verbrecherischen Befehle“ in ihrem Bereich weitergegeben haben (S. 146); hierbei wurden auch spätere Ersatzeinheiten oder Reserven nicht vergessen. Für die höheren Ebenen, etwa die Armeeoberkommandos, ist die Beweissituation noch weitaus eindeutiger. Hier ließen es sich nahezu alle Oberbefehlshaber angelegen sein, den Befehl über die üblichen Dienstwege von Ic und Heeresrichtern hinaus auch selbst bekannt zu geben. Dies geschah mitunter noch vor der schriftlichen Ausfertigung des Befehls – den ranghohen Militärs reichte die berüchtigte Ansprache Hitlers vor der Generalsversammlung am 30. März 1941, in der er die „Vernichtung der bolschewistischen Kommissare“ durch die Truppe gefordert hatte (S. 68, 159–167).

Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass die Erschießungen von Kommissaren sofort mit dem 22. Juni 1941 einsetzten. Für die Zeit bis zum 6. Mai 1942, dem Datum der Aufhebung des Befehls, lassen sich Erschießungen von Kommissaren oder Politruks für die Bereiche aller Armeekorps des Ostheeres, auf unterer Ebene für 116 von 137 Kampfdivisionen nachweisen (S. 398–399). Die jeweilige Anzahl der Erschießungen durch die Einheiten sowie die generelle Intensität der Morde variierte mit dem Kriegsgeschehen. Römer zeigt, dass deutsche Großoffensiven im Sommer und Herbst mit ihren erhöhten Gefangenenzahlen zugleich einen Anstieg der Verbrechen an Kommissaren mit sich brachten. Zu diesem Gesamtbefund passt, dass die Delikte sich gerade im Verantwortungsbereich gepanzerter und motorisierter Stoßverbände häuften. Insgesamt weist Römer mittels einer umsichtigen Auswertung relevanter Wehrmachtsakten 3430 Exekutionen nach. In 380 weiteren Fällen ist ein derartiges Verbrechen höchst wahrscheinlich. Zwei Drittel dieser Morde fanden im Frontbereich statt, dagegen nur ein Drittel im Hinterland. Etwa 20 Prozent der Opfer waren zivile Kommissare. Somit sind mehr als 2100 Hinrichtungen von Politoffizieren resp. deren Gehilfen „durch die Truppe“ aktenkundig. Angesichts der sehr zurückhaltenden Quantifizierung von unspezifischen Zahlenangaben, der bereits genannten Überlieferungslücken und auf Basis der relativ dicht dokumentierten Aktivitäten der 403. Sicherungsdivision im Hinterland sowie der 6. Armee im Frontbereich muss es sich bei diesen Zahlen um eine Untergrenze handeln. Römer rechnet seine im Anhang ausführlich dargestellten Daten daher auf eine „hohe vierstellige Zahl, die aber wahrscheinlich nicht oder nur knapp fünfstellig war“, hoch und bietet damit erstmals eine belastbare Gesamtschätzung (S. 359–367).

Bei seiner statistischen Untersuchung setzt sich Römer ausführlich mit qualitativen Kernfragen des Verbrechenskomplexes auseinander. Seine Darlegung über Entstehung und Aussagegehalt der genutzten Akten stellt eine ebenso lehrreiche wie spannende Quellenkunde zur Geschichte der Wehrmacht dar. Die ausführliche Analyse der Befehlsübermittlung widerlegt nicht nur erneut alte Apologien, sondern führt eindrücklich die Handlungsspielräume der Befehlshaber verschiedener Ebenen vor Augen. Der bereits erwähnte vorauseilende Gehorsam diverser Kommandeure lässt sich tatsächlich nur mit einem hohen Maß an Übereinstimmung dieser Militärs mit dem Feind- und Weltbild Hitlers erklären. Das widerspruchslose Akzeptieren der den bisherigen Rahmen sprengenden Befehle spricht dafür, dass ein Großteil des Ostheers zumindest die militant antikommunistischen Grundeinstellungen der politischen Führung sowie deren antislawisches Ressentiment und Überlegenheitsgefühl teilte. Hier gaben Wehrmachtoffiziere letztlich allgemeine Empfindungen einflussreicher deutscher Gesellschaftsschichten wider: Die Ic-Offiziere vor Ort etwa, die im Gesamtkomplex der verbrecherischen Befehle eine zentrale Rolle spielten, waren vornehmlich Reservisten, häufig aus adligen oder gutbürgerlichen Familien. Bei anderen Offizieren überdeckte die Internalisierung der militärischen Tugenden von Gehorsam und Disziplin mögliche Zweifel am befohlenen Mordprogramm. Fundamentaler Widerspruch, der zu einer Abmilderung der Vorgaben führte, lässt sich auf der Basis der vorhandenen Akten nur bei einer sehr geringen Zahl von Kommandierenden feststellen. Auf breiterer Grundlage setzte die Kritik der Basis am Kommissarbefehl daher auch erst nach dem ersten Scheitern der Blitzkriegstrategie ab August 1941 ein. Die Kommandeure beschränkten sich in ihrer Argumentation aus Überzeugung allein auf die kontraproduktive Wirkung des Befehls, der offensichtlich den Widerstand der Roten Armee verstärkte. Nachdem Hitler eine Änderung im September abgelehnt hatte, führten die Kritiker den Befehl weiterhin aus, um ab Winter 1941 das utilitäre Argument mit größerer Überzeugungskraft zu präsentieren.

Die Einbettung der Mordbefehle in das Kampfgeschehen verleiht den Interpretationen Römers zusätzliches Gewicht. Er zeigt auf, dass Indoktrination, Führerglaube und normative Enthemmung der Radikalisierung der Truppe Vorschub leisteten. Hinzu kam, dass Widerstandsvermögen und Brutalität des Gegners diesem Feldzug eine neue Qualität gaben. Derartige Erfahrungen bestätigten bei den Kampfverbänden der Wehrmacht nicht nur die negativen Erwartungen. Die hohen Verluste in den Kämpfen senkten zudem die Hemmschwelle gegenüber dem Feind. Die detaillierte Auswertung der Aktenbestände legt die hohe Zahl von willkürlichen Erschießungen kriegsgefangener Rotarmisten durch deutsche Wehrmachteinheiten offen, die als Vergeltung deklariert und von der deutschen Führung nicht konsequent unterbunden wurden. Die Auswirkungen sowjetischer Verbrechen auf das Verhalten deutscher Verbände wird weiter zu untersuchen sein. Im gegebenen Rahmen belegt Römer, dass sie wohl als mitauslösender Faktor, kaum aber als entscheidende Ursache für eine eifrige Befolgung des Kommissarsbefehls angesehen werden können. Die Einheiten des Ostheeres waren offenbar grundsätzlich bereit, sich der Kommissare, die im nationalsozialistischen wie im militaristisch geprägten Weltbild die Ursache des ebenso zähen wie hinterhältigen Widerstands eines unterschätzten Gegners darstellten, mit allen Mitteln zu entledigen.

Auch wenn man sich hinsichtlich der Übersetzung quantitativer Analysen und zahlreicher Aktenfunde in qualitative Aussagen eine grundsätzliche Erläuterung der entsprechenden methodischen Vorgehensweise gewünscht hätte, lässt die Arbeit Römers keinen vernünftigen Zweifel an der weitflächigen Akzeptanz und Befolgung des Kommissarsbefehls durch die Wehrmacht bestehen. Der generalisierende Zugriff kann natürlich auch hier die konkrete Aufschlüsselung der vielschichtigen Motivationslage im individuellen Einzelfall nicht leisten. Sie bietet aber über die wichtige Aufarbeitung des Gesamtgeschehens relevante und verlässliche Bezugspunkte für die weitere Diskussion um Verbrechen der Wehrmacht.

Andreas Hilger, Hamburg

Zitierweise: Andreas Hilger über: Felix Römer Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2008. ISBN: 978-3-506-76595-6, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hilger_Roemer_Kommissarbefehl.html (Datum des Seitenbesuchs)