Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Andreas Hilger

 

Andrea Gotzes Krieg und Vernichtung 1941–1945. Sowjetische Zeitzeugen erinnern sich. Mit einer Einleitung von Bernd Bonwetsch. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2006. 160 S., 12 Abb. ISBN: 978-3-534-18771-3.

Der Zweite Weltkrieg traf Weißrussland besonders hart. Im Sommer 1941 wälzte sich die Heeresgruppe Mitte durch die Republik. 1944 diente das Gebiet den Truppen der deutsch-sowjetischen Front erneut als „Korridor“ (S. 8). Dazwischen erlitt Weißrussland drei Jahre lang die deutsche Besatzungs- und Vernichtungspolitik, dann die bürgerkriegsähnlichen Wirren von Restalinisierung und Westverschiebung. Im deutschen Bewusstsein sind diese Abläufe und ihre Akteure bis heute wenig präsent. Die sowjetische Geschichtspolitik, die das historische Geschehen bis zur Unkenntlichkeit verfälschte und den eigenen Bürgern ihr Recht auf ihre individuelle Geschichte nahm, wirkt bis heute nach. Die im Buch zusammengestellten Auszüge von 20 Gesprächen mit Zeitzeugen aus Belarus’ tragen dazu bei, sowohl das deutsche als auch das post-sowjetische Geschichtsbild zu schärfen.

Die Autorin gruppiert die Exzerpte in sieben Kapitel, die unter anderem den deutschen Überfall, das Besatzungsregime, das Kriegsende und die Vergangenheitsbewältigung thematisieren. Der letzte Abschnitt behandelt das aktuelle Deutschlandbild der Überlebenden.

Mit der Montagetechnik wandelt Gotzes die Interviews quasi zu einem Dialog zwischen den Zeitzeugen um. Dadurch kann sie eine große Bandbreite von individuellen, mitunter durchaus widersprüchlichen Erfahrungswelten der letzten sowjetischen Kriegsgeneration dokumentieren. Der Band wird eindrucksvoll der von Bernd Bonwetsch in der Einleitung formulierten Mehrfachfunktion derartiger Erinnerungsgespräche gerecht: Sie können nicht nur zur „Rekonstruktion und Veranschaulichung der objektiv fassbaren Vergangenheit“ beitragen, sondern sind als „lange entbehrtes Bekenntnis zur eigenen Biographie des Zeitzeugen wichtig“. (S. 29–30) Letzteres wird z.B. in den Erfahrungen ehemaliger Kriegsgefangener fassbar. Wie Hunderttausende von Schicksalsgenossen hoffte Lev Genrichovič Manevič, als „Held“ von der Heimat begrüßt zu werden. Stattdessen wurde er jedoch als Verräter stigmatisiert und verfolgt (S. 121–122). Aus wissenschaftlicher Perspektive tragen die Erinnerungen vor allem zu einem differenzierten Bild der sowjetischen Gesellschaft im Krieg bei. Gerade die zahlreichen Äußerungen über Kollaboration und Widerstand dokumentieren die Vielschichtigkeit und Zerrissenheit der Bevölkerung. Sie musste unter einem gnadenlosen Besatzungsregime, das, wenn überhaupt, dann nur äußerst begrenzte Handlungsoptionen eröffnete, täglich neu um ihr Überleben bangen.

Die komplexe Erinnerungslandschaft, die der Band präsentiert, wurde offenkundig nicht nur von den konkreten Erlebnissen selbst hervorgebracht. Andrea Gotzes weiß natürlich um die Bedeutung von politisch-mentalen Prädispositionen für biographische Erzählungen, und sie ist sich der in der Oral History vielfach nachgewiesenen Prägung von Erinnerungen durch spätere individuelle Lebensverläufe oder die offizielle Erinnerungskultur wohl bewusst. Leider sind die biographischen Angaben über die Augenzeugen im Anhang (S. 155–156) zu kurz aus­gefallen, um diese komplexen Wechselwirkungen im Einzelfall nachvollziehen zu können. Dies ist nur ein kleiner Schönheitsfehler eines insgesamt empfehlenswerten Buches.

Andreas Hilger, Hamburg

Zitierweise: Andreas Hilger über: Andrea Gotzes Krieg und Vernichtung 1941–1945. Sowjetische Zeitzeugen erinnern sich. Mit einer Einleitung von Bernd Bonwetsch. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2006. ISBN: 978-3-534-18771-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hilger_Gotzes_Krieg_und_Vernichtung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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