Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), S. 162-164

Verfasst von: Andreas Hilger

 

Moritz Florin: Kirgistan und die sowjetische Moderne. 1941–1991. Göttingen: V&R unipress, 2015. 309 S., 21 Abb. = Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas – Cultural and Social History of Eastern Europe, 3. ISBN: 978-3-8471-0313-4.

Die sowjetische Nationalitätenpolitik sowie nationale Identitätsbildungen und -findungen in der UdSSR haben sich seit den neunziger Jahren zu einem ebenso formidablen wie spannenden Forschungsfeld entwickelt. Die Prozesse stehen in engem Zusammenhang mit einem breiteren Verständnis von Sozialismus, das die sowjetische Staatsideologie als sozialistisches Entwicklungsprojekt und damit als eigenständigen Weg in die Moderne diskutiert. In diesem Spannungsfeld ist die in Hamburg entstandene Dissertation von Moritz Florin angesiedelt. Im Zentrum steht die Frage, inwieweit kirgisische Akteure mit ihrem spezifischen Verständnis und aus eigenen Perspektiven heraus die sowjetische Moderne mitdefinieren und mitgestalten wollten und konnten (S. 14).

Mit Kirgistan widmet sich Florin einem Fall, der einige Besonderheiten aufweist. Erst 1936 wurde die Region zur Unionsrepublik aufgewertet. Seit dem Zweiten Weltkrieg machte die Titularnationalität weniger als fünfzig Prozent der Bevölkerung aus. Evakuierungen, aber vor allem Massendeportationen im Zweiten Weltkrieg haben die fragilen Mehrheitsverhältnisse vor Ort nachhaltig beeinflusst. In der Hauptstadt Frunze, seit 1991 Biškek, waren in dieser Zeit faktisch kaum Kirgisen anzutreffen.

Unabhängig hiervon hatte sich ein kirgisisches Nationalbewusstsein ab 1917 erst noch entwickeln müssen. Dies geschah quasi parallel zu breiten Alphabetisierungs- und Bildungskampagnen, die die für die sozialistische Modernisierung notwendigen Voraussetzungen schaffen sollten. Nach 1945 mussten sich die in den Kriegsjahren gestärkte nationale Tradition und insbesondere die eigenen Führungseliten mit Diskursen einer gesamtsowjetischen Identität sowie mit starken russozentrischen Orientierungen in der UdSSR auseinandersetzen. Florin zeichnet diese komplexen Vorgänge und Wechselwirkungen in einer sehr gut lesbaren Diktion nach und liefert eine äußerst dichte und kompakte Analyse. Er stellt dabei zwangsläufig kulturelle Dimensionen in den Mittelpunkt, ohne aber beispielsweise Fragen des Parteilebens, der Wirtschaftspolitik oder internationaler Beziehungen sowie der Propaganda im Kalten Krieg zu ignorieren.

Auch die Kirgisische SSR erlebte im Zweiten Weltkrieg den patriotischen Aufschwung mit. Dass ein hier besonders gefeierter Held der sowjetischen Armee, Ivan Panfilov, von Geburt Russe war, verdeutlicht erneut die Widerhaken im national-sowjetischen Geflecht. Mit dem Sieg im Rücken gewann in Kirgistan der Glaube an eine lichte Zukunft ebenfalls an Gewicht. Im Doppelprozess von sozialistischer Modernisierung und nationaler Findung konnte man sich von einer solchen Zukunft auch eine zweite korenizacija erwarten (S. 91). Mit dem Verlust des unbedingten Fortschrittsglaubens öffneten sich wieder Risse zwischen nationalen und gesamtsowjetischen, vielfach russisch durchsetzten Identitäten. Dabei schienen zahlreiche Kirgisen Ende der achtziger Jahre dafür offen zu sein, ein reformiertes sowjetisches „Experiment Moderne“ (Stefan Plaggenborg) fortzuführen. Sie waren aber ebenso bereit, Chancen und Möglichkeiten des von Russland unabhängigen Staats auszuloten – die Ambivalenzen der ersten Jahre waren nicht überwunden.

In seiner Arbeit rückt Florin mit eingehend recherchierten Biographien führende Intellektuelle als relevante nationale Akteure in den Blickpunkt, von Tügölbaj Sysykbekov oder Aaly Tokombaev über Mar Bajžiev und Omor Sultanov bis hin zu dem auch in der UdSSR und außerhalb der sozialistischen Welt weitaus bekannteren Čyngyz Ajtmatov. Ihre Lebenswege verleihen der Darstellung zusätzliche Struktur. Sie verdeutlichen kollektive Karrieremuster von Stalin bis Gorbačev, zeigen aber auch, dass innerhalb der sowjetischen Rahmenbedingungen intellektuelle Ausdifferenzierungen und Auseinanderentwicklungen stattfanden. Die biographischen Beschreibungen erläutern derartige Denk- und Wandlungsprozesse. Sie akzentuieren die ausschlaggebenden Themenfelder, und sie zeigen dabei schließlich auch die Grenzen des sowjetischen Modells und seiner Vorstellungen von Moderne auf.

Auf der anderen Seite spiegelt die Prominenz privilegierter Eliten in der Darstellung die Problematik wider, dass sich angesichts der sowjetischen Herrschaftspraktiken, Presselandschaft und Verhaltensweisen allgemeine Stimmungs- und Meinungsbilder der verschiedenen Schichten und Kreise der Gesellschaften kaum verlässlich eruieren lassen. Um hier Abhilfe zu schaffen, hat der Autor selbst vor Ort 45 Gespräche geführt. Zudem konnte er 200 weitere Interviews, die im Rahmen eines Oral-History-Projekts der OSZE-Akademie entstanden, für seine Analysen nutzen. Inwieweit in diesen Erhebungen die stumme Masse zum Sprechen gebracht werden konnte, bleibt in der Arbeit unklar, trotz eines eigenen Anhangs zur Methode. Hier wäre eine genauere, auch quantifizierende Aufschlüsselung der Gesprächspartner sicherlich nützlich gewesen. So hinterlässt der Exkurs einen etwas unfertigen Eindruck. Dieser Eindruck trifft auch für andere Teile der Studie zu. So hätte sich insbesondere eine Rückbindung der Befunde oder Begrifflichkeiten an gängige Theoriedebatten der Forschungen zu Nationalismus und nation building sowie zu Imperien angeboten. Dies hätte nicht zuletzt die Anschlussfähigkeit der Studie in den entsprechenden Großbereichen erhöht und die anregenden Debatten und Beschreibungen der Monographie selbst abgerundet.

Andreas Hilger, Hamburg

Zitierweise: Andreas Hilger über: Moritz Florin: Kirgistan und die sowjetische Moderne. 1941–1991. Göttingen: V&R unipress, 2015. 309 S., 21 Abb. = Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas – Cultural and Social History of Eastern Europe, 3. ISBN: 978-3-8471-0313-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hilger_Florin_Kirgistan_und_die_sowjetische_Moderne.html (Datum des Seitenbesuchs)

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