Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 66 (2018), 1, S. 167-169

Verfasst von: Andreas Hilger

 

Verhört. Die Befragungen deutscher Generale und Offiziere durch die sowjetischen Geheimdienste 1945–1952. Hrsg. von Wassili Stepanowitsch Christoforow / Wladimir Gennadjewitsch Makarow / Matthias Uhl. Berlin, Boston: de Gruyter, 2015. X, 467 S. = Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Moskau, 6. ISBN: 978-3-11-041604-6.

Aussagen von Soldaten des Zweiten Weltkriegs in Kriegsgefangenschaft werden seit einiger Zeit als Quellen für die Erforschung von Kriegführung und hoher Diplomatie, von Besatzungsherrschaft und Innenleben der Wehrmacht sowie vom Alltag in beherrschten und herrschenden Gesellschaften zugänglich gemacht und analysiert. Neben Studien und Editionen, die auf westlichen Vernehmungs- und Abhörprotokollen basieren, liegen bereits einige Editionen sowjetischer Protokolle der Verhöre von deutschen Kriegsgefangenen und Internierten vor, die zusätzliches Licht auf verschiedene Großthemen der Ostfront werfen. In diese Reihe fügt sich der vorliegende Band ein, der aus einem Kooperationsprojekt des Deutschen Historischen Instituts in Moskau mit dem Archiv des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) hervorging. Die gut 60 Dokumente sind hier dankenswerter Weise in aller Regel vollständig abgedruckt. Sie sind im Ganzen angemessen übersetzt und ausreichend kommentiert. Die Materialien umfassen vor allem Vernehmungsprotokolle und persönliche Aufzeichnungen von hochrangigen Kriegsgefangenen. Dazu kommen einige sowjetische Anklageschriften, die die früheren Aussagen der Vernommenen zusammenfassen. Beweismaterialien etwa in Form von deutschen Beutedokumenten brachten die Ermittler offenbar nur selten bei. Frühe sowjetische Vernehmungen von politischen und militärischen Spitzen des Dritten Reichs, die sich im Sommer 1945 in amerikanischem Gewahrsam befanden, vervollständigen den Band.

Es ist zu hoffen, dass die Auswahl tatsächlich den „Beginn einer Rekonstruktion“ darstellt (S. 43), zumal analoge russischsprachige Editionen, zum Teil aus den hier genutzten Serien, weitere Dokumente bzw. andere Auszüge präsentieren. Das gilt auch für die angegebene Parallelpublikation, die im Jahr 2009 von den beiden russischen Mitherausgebern dieser Edition verantwortet wurde (Generaly i oficery Vermachta rasskazyvajut… Dokumenty iz sledstvennych del nemeckich voennoplennych 1944–1951. Moskva 2009). Die Unterschiede in Auswahl und Präsentation ergeben sich laut Herausgeber daraus, dass man sich am „unterschiedlichen Forschungsdiskurs der beiden Länder“ „orientiert“ habe (S. 44). Dies kann von Vorteil sein, da sich der Gesamtkorpus der publizierten Dokumente und Auszüge vergrößert und die Editionen mit ihren Unterschieden als Quelle zur Analyse der Geschichts- und Erinnerungspolitik genutzt werden können. Ob die Trennung den wichtigen Dialog über alte Forschungsgrenzen hinweg erleichtert und überkommene Fragestellungen und Interpretationen produktiv aufbricht, sei indes dahingestellt. Die Einleitung selbst ist für diese Frage ein ambivalenter Indikator, auch, weil sie nicht immer den aktuellen internationalen Forschungsstand aufnimmt.

Insgesamt lagern im FSB-Archiv über 30.000 Strafakten, die deutsche Zivilisten und Kriegsgefangene betreffen. Hinsichtlich der Gruppe der Kriegsgefangenen sind darunter vor allem Akten zu den Personen, denen die Spitzen von sowjetischer Partei und Staatssicherheit besondere Bedeutung beimaßen. Auf diese Weise geben die Materialien nicht nur Auskunft über relevante Aspekte der deutsch-sowjetischen Beziehungen der dreißiger und vierziger Jahre. Sie markieren zudem besondere Interessen und Prioritäten, die die sowjetische Nachbereitung des Zweiten Weltkriegs unter den Bedingungen von Hochstalinismus und Kaltem Krieg prägte. Dabei sind die Aussagen der Gefangenen zumindest zum Teil unter immensem Druck entstanden. Zwar schließen die Herausgeber für die hier dokumentierten Verhöre physische Gewaltanwendung aus. Lange nächtliche Verhöre lassen sich jedoch auch hier nachweisen. Dazu spiegeln die Protokolle vielfach einen aggressiven Fragestil wider, mit dem die Vernehmungsoffiziere im Zweifelsfall eher darauf zielten, Bestätigungen für eigene Interpretationen und Annahmen zu erhalten. Damit war die Verhörsituation auch in den vorliegenden Fällen vielfach von wirksamen psychologischen Drohkulissen und Zermürbungstaktiken mitgeprägt (S. 15, 17, 19). In diesem Kontext ist zu erwähnen, dass die parallel zu den Ermittlungen laufenden Anwerbungsversuche von zukünftigen Repatrianten „aus Gründen des Quellenschutzes noch immer geheim gehalten“ werden (S. 44). Entsprechende Versprechungen und Verweigerungshaltungen mochten die Gesamtatmosphäre der Verhöre zusätzlich beeinflussen.

Stellt man derlei methodische Probleme in Rechnung, so hält die Sammlung für Kernfelder der Forschung nützliche Details und Hintergrundinformationen bereit. Sie können bisherige Einsichten untermauern und ausdifferenzieren. So lassen bereits Berichte der sowjetischen Sicherheitsdienste vom Sommer 1945 das prekäre Verhältnis der Alliierten zueinander erkennen. Dazu zeigten sich nationalsozialistische Größen und Militärs auch 1945 immer noch von der These eines deutschen Präventivkriegs gegen die UdSSR überzeugt. Sie waren ganz offenkundig 1941 tatsächlich davon ausgegangen, diesen Krieg zu gewinnen. Von dieser Überzeugung gingen Spitzenkräfte des Reichs zudem spät ab. Ein Keitel etwa will sich die unabwendbare Niederlage Deutschlands beispielsweise erst im Sommer 1944 eingestanden haben. Daneben gewannen die sowjetischen Vernehmer konkrete taktische militärische, rüstungstechnische oder nachrichtendienstliche Erkenntnisse, die ihrerseits für die entsprechenden Forschungen von Interesse sind. Mit knapp 40 Dokumenten schließlich ist der größte Fundus der Dokumentation den Themen Besatzungspolitik, Kriegsverbrechen und „Judenmord“ zuzurechnen (S. 219–380). Sie lassen hinsichtlich der nationalsozialistischen Besatzungspolitik und der Endziele einmal mehr Mitwisserschaft und vielfache Kooperationsbereitschaft deutscher Militärs erkennen. Ohnehin interpretierten die Befragten vielfach angebliche militärische Notwendigkeiten äußerst weit und rücksichtslos. Der „Tod einer so großen Anzahl von Zivilpersonen“ sei „eine normale Erscheinung der Straßenkämpfe“, gab Generalleutnant Rainer Stahel im August 1945 seine Haltung als Militärkommandant während des Warschauer Aufstands wider (S. 230). Insgesamt decken die Befragungen ein breites Feld deutscher Kriegs- und Besatzungspolitik ab, einschließlich der deutschen Verbrechen gegen sowjetische Kriegsgefangene und gegen die jüdische Bevölkerung. Dass die sowjetische Straf- und Nachkriegspolitik dieses Wissen für eigene Prioritäten nutzte und dabei den Opfern und ihrem Leiden wenig Bedeutung beimaß, unterstreicht noch einmal die enge politische Anleitung der stalinistischen Justiz. Von daher verwundert es auch nicht, dass in den Verhören die Suche nach der sowjetischen Kollaboration einen eigenen Stellenwert gewann. Im Kalten Krieg waren vermutete „Fünfte Kolonnen“ und unzuverlässige Elemente im eigenen Machtbereich aufzuspüren. Es ging dabei oft weniger um die Aufklärung früherer möglicher Verbrechen, sondern darum, aktuelle Schwachstellen im sowjetischen Reich zu eliminieren. Die Vermischung von ideologischen Perzeptionen und Fokussierungen mit dem Bemühen, Fakten und Hintergründe des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs gegen die UdSSR und ihre Bevölkerung aufzuklären, macht die gesamte Edition zu einer ebenso gehaltvollen wie schwierigen Quelle für die komplexe, multidimensionale deutsch-sowjetische Geschichte.

Andreas Hilger, Hamburg

Zitierweise: Andreas Hilger über: Verhört. Die Befragungen deutscher Generale und Offiziere durch die sowjetischen Geheimdienste 1945–1952. Hrsg. von Wassili Stepanowitsch Christoforow, Wladimir Gennadjewitsch Makarow und Matthias Uhl. Berlin, Boston: de Gruyter, 2015. X, 467 S. = Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Moskau, 6. ISBN: 978-3-11-041604-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hilger_Christoforow_Verhoert.html (Datum des Seitenbesuchs)

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