Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 312-314

Verfasst von: Peter Heumos

 

Stanislav Holubec: Lidé periferie. Sociální postavení a každodennost pražkého dělnictva v meziválečné době [Menschen der Peripherie. Soziale Lage und Alltag der Prager Arbeiterschaft in der Zwischenkriegszeit]. Plzeň: Západočeská univerzita v Plzni, 2009. 329 S. ISBN: 978-80-7043-834-3.

Die mageren Jahre der Arbeitergeschichte in der Tschechischen Republik sind vorbei. Die Untersuchung, die Stanislav Holubec zur sozialen Lage der Prager Arbeiterschaft zwischen 1918 und 1938 vorgelegt hat, beendet eine Periode tastender Umschreibversuche nach dem Erlöschen aller Richtfeuer des historischen Materialismus. Holubec packt sein Thema mit einem klaren Konzept an, das eine überzeugende Alternative zur hüpfenden Beliebigkeit postmoderner Arbeitergeschichte bietet.

Wie die jüngsten Kontroversen in der Tschechischen Republik über den tschechoslowakischen Staatssozialismus spiegelt die vorliegende Arbeit die Skepsis vor allem jüngerer Historiker gegenüber den Verheißungen derneuen Zeit: Zwar verschwänden die Industriearbeiter, schreibt Holubec, mit ihnen aber nicht Armut und Ungleichheit (S. 265). Seine Antwort auf die alt-neuen Probleme ist die Wiederaufnahme der kritischen Tradition, die tschechische Soziologen der Zwischenkriegszeit (Machotka, Nečasová, Stejskal, Uhlíř u.a.) begründet haben. Deren Forschungen zur Prager Arbeiterschaft sind noch immer eine Fundgrube für die Sozialgeschichte.

In der Einleitung zu seiner Studie kommentiert Holubec den bisherigen Ertrag sozialgeschichtlicher Untersuchungen zur tschechischen Arbeiterschaft. Auf einen Exkurs über die BegriffeKlasse,SchichtundMilieuund ihren Gebrauch in der westeuropäischen und der tschechischen wissenschaftlichen Literatur folgen Abschnitte, die der Quellenkritik und den methodologischen Problemen des Untersuchungsgegenstands gelten.

Die Studie selbst ist in sechs Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel zeichnet ein detailliertes Bild der Arbeiterfamilie, wobei allgemeine soziodemographische Rahmenbedingungen zwar nicht zu kurz kommen, das Gewicht jedoch auf diesen Aspekten liegt: soziale Bedingungen der Partnerwahl, weibliche Schönheitsideale, Rollenverhalten in der Familie, Scheidungsrate und Scheidungsgründe, Kindererziehung. Das zweite Kapitel befasst sich mit den gesundheitlichen Verhältnissen der Prager Arbeiterschaft. Wie im ersten Kapitel profitiert auch hier die dichte Beschreibung der einzelnen Facetten des Themas (Krankheit, Gesundheitspflege, Hygiene, Sexualität) von Gesprächen mit Zeitzeugen, die in Kurzbiographien vorgestellt werden (S. 290292). Im dritten Kapitel wird die Wohnsituation der Prager Arbeiter in vergleichendem Zusammenhang mit den Wohnverhältnissen von Arbeitern in deutschen Großstädten untersucht. Einbezogen werden dabei auch die Prager Herbergen und die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenenNotkolonien, mit den favelas vergleichbare und über viele Stadtviertel verstreute Elendsquartiere, in denen während der 1920er Jahre rund 10.000 Menschen lebten, überwiegend Arbeiter. Das vierte Kapitel beschreibt die kulturellen Aktivitäten der Arbeiter und ihre Freizeitgestaltung, dieeingebettet in den Prozess der Reduzierung der wöchentlichen Arbeitsstunden und der räumlichen Trennung von Arbeiten und Wohnenim Wesentlichen in der Perspektive einer an Familie und Heim orientierten Kultur gesehen werden. Stichworte sind hier u.a.: Arbeitervereine, Lesen, Besuch von Tanzveranstaltungen und Kinos, Wirtshauskultur, Ernährung, Kleidung. Sport und Trampen werden vor allem mit jugendlichen Arbeitern verbunden.

Das politische Milieu der Prager Arbeiterschaft ist Gegenstand des fünften Kapitels, das, wie zu vermuten, mehr als die anderen unter dem Zwang steht, die von der kommunistischen Scholastik (wie auch ihren Kritikern) verzerrten Verhältnisse wieder zurechtzurücken. Zentraler Punkt ist die Analyse der Milieus der beiden großen Arbeiterparteien, der sozialdemokratischen und der kommunistischen Partei, die in allen Wahlen im Untersuchungszeitraum die Masse der Prager Arbeiterinnen und Arbeiter hinter sich brachten. Leitend ist die Frage, aus welchen industriellen, materiellen und sozialen Strukturen (Branche, Betriebsgröße, Lohngruppe, Wohnviertel u.a.) sich die Wähler beider Parteien rekrutierten. Die mit dem jeweiligen politischen Milieu verbundenen Organisationen (Gewerkschaften, Genossenschaften, Bildungs- und karitative Einrichtungen, Vereine, Sportverbände etc.), Struktur und Entwicklung der Führungsgruppen beider Parteien in Prag und die Integration der Jugend in das jeweilige politische Milieu sind weitere Untersuchungsfelder. Besonders aufschlussreich für das sozialdemokratische Milieu ist eine Analyse der politischen Ikonographie, deren sich die Partei bei ihrer Selbstdarstellung bediente. Abschließend, im sechsten Kapitel, untersucht Holubec unter dem TitelSchulwesen und ArbeitermilieuBildungschancen und Bildungserwerb von Arbeiterkindern in Abhängigkeit von sozialen und soziokulturellen Bedingungsfaktoren, wobei die Genauigkeit der Aussagen von einer akribischen Untersuchung zumdes Zusammenhangs von schulischem Misserfolg und sozialer Lage im Prager Stadtteil Košíře profitiert, die die Soziologin Nečasová (s.o.) gegen Ende der 1920er Jahre durchgeführt hat. Ein großer Teil des sechsten Kapitels befasst sich mit den Ausbildungsverhältnissen der Lehrlinge.

Die Untersuchung wird allen Ansprüchen moderner Sozialgeschichtsschreibung gerecht; sie wirft aber auch Fragen auf.

Für die Schlüssigkeit der Argumentation von Holubec ist es ungünstig, dass die Arbeitswelt in seiner Untersuchung nicht vorkommt, sieht man von einigen verstreuten Bemerkungen ab. Ungünstig deshalb, weil die Kultur der Arbeiterklasse in hohem Maße arbeitsbezogen und in eben dieser Form verhaltensprägend war. Die Beharrungskraft dieser arbeitsbezogenen Kultur variierte von Land zu Land. Noch in der Zwischenkriegszeit gab jedoch beispielsweise das Streikverhalten tschechischer Arbeiter am genauesten darüber Auskunft, welche gesellschaftliche Ordnung sie für akzeptabel hielten. Eine von der Arbeitswelt abgetrennte Analyse des politischen Verhaltens der Arbeiterschaft lässt daher manche Fragen offen. Die Einbeziehung der Arbeitswelt und damit des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital wäre auch deshalb aufschlussreich gewesen, weil zu vermuten ist, dass gerade die überwiegend kleingewerbliche Struktur Prags arbeitsbezogene Kultur konservierte. Ein Anhaltspunkt dafür ist das Wirtshausmilieu, das, wenn wir Holubec folgen, Arbeit, Geselligkeit, Vereinsleben und Politik integrierteein soziokultureller Zusammenhang, der in anderen europäischen Großstädten, etwa in London, längst aufgebrochen worden war. Holubec beschreibt den Wandel des Arbeitermilieus anhand des Vordringens derMassenkultur. Eine breitere Perspektive würde sich vielleicht eröffnen, wenn dieser Wandel mit dem gesellschaftlichen Entwicklungsmuster zunehmender funktionaler Differenzierung von Wertsphären und ihrer Verselbständigung in autonomen Subsystemen verknüpft wirdwürde. Damit wiederum ließen sich zwei zentrale Kategorien der Untersuchung von Holubec sinnvoll verbinden, nämlichMilieuund Habitus: Beide lagenweil sie Wertsphären nicht differenzierten, sondern verschiedene kulturelle Praktiken in einer Wertsphäre integrierteneher quer zum dominierenden Entwicklungstrend des sozialen Systems.

Peter Heumos, Moosburg

Zitierweise: Peter Heumos über: Stanislav Holubec: Lidé periferie. Sociální postavení a každodennost pražkého dělnictva v meziválečné době [Menschen der Peripherie. Soziale Lage und Alltag der Prager Arbeiterschaft in der Zwischenkriegszeit]. Plzeň: Západočeská univerzita v Plzni, 2009. 329 S. ISBN: 978-80-7043-834-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Heumos_Holubec_Lide_periferie.html (Datum des Seitenbesuchs)

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