Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 2, S. 302-304

Verfasst von: Julia Herzberg

 

Andrea Zink: Wie aus Bauern Russen wurden. Die Konstruktion des Volkes in der Literatur des russischen Realismus 1860–1880. Zürich: Pano Verlag, 2009. 444 S. = Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas, 18. ISBN: 978-3-290-22002-0.

Die russische Nationsbildung und der russische Nationalismus gehören nicht zu den vernachlässigten Forschungsgebieten. Geoffrey Hosking, Andreas Kappeler, Vera Tolz sowie Andreas Renner haben dazu wichtige Arbeiten vorgelegt, in denen sie die Praktiken und Elemente des nation-building im Zarenreich beleuchten. Die Innsbrucker Slawistin Andrea Zink schließt mit ihrer Habilitation an diese Studien an. Sie untersucht mit literarischen Texten eine Mobilisierungsform des Nationalismus, die Studien wie die von Andreas Renner und Vera Tolz durchaus im Blick gehabt haben, die jedoch noch nicht singulärer Gegenstand einer einzelnen Arbeit waren. Explizit an Eugen Webers berühmte Studie „Peasants into Frenchmenanknüpfend, fragt Zink, wie aus Bauern Russen wurden. Anders als es der Bezug auf Weber verspricht, geht es ihr aber nicht darum, wie sich die nationale Politik auf dem Dorf entfaltete und durch welche Praktiken sich auch Bauern am Nationsbildungsprozess beteiligen konnten. Vielmehr möchte siedie historisch-literarische Entstehung des Volkes“ (S. 9) in der nach der Bauernbefreiung zwischen 1861 und den 1880er Jahren entstandenen Belletristik nachzeichnen. Wie die Literatur des Realismus aus einer disparaten Gesellschaft ein russisches Volk gemacht habe, das lasse sich, so Zink, anhand der drei Bereiche Ernährung, Justiz und Liebesleben herausarbeiten. Diese drei Tätigkeitsfelder würden es erlauben, dieEntstehung des Russischen aus dem Alltag der Bauern zu erkennen“ (S. 10). Zink schließt damit an die These an, dass die Besitz- und Bildungseliten fehlende Partizipationsmöglichkeiten durch die intellektuelle Beschäftigung mit dem Volk kompensiert hätten. Dabei seien die Bauern zum Paradigma des Russischen gewordenim Gegensatz zu Ländern wie Frankreich, wo die unteren Schichten auf die Werte der Eliten festgelegt worden seien.

Der Analyse belletristischer Texte ist eine ausführliche Einleitung vorangestellt, in der Zink bisherige Forschungen sowie ihre methodischen und theoretischen Prämissen vorstellt. Leider nimmt sie ihre eigenen Überschriften zu ernst, die dem Leser geschichtswissenschaftliche und literaturhistorischeAnnäherungen“ versprechen. In einer mäandrierenden Sprache, die eine klare Argumentation vermissen lässt, gibt sie einen Überblick über Nationsbestimmungen allgemein, schließt an Kappelers Periodisierung der russischen Nationsbildung an und zeichnet mithilfe vorhandener Forschungsliteratur nach, wie Bauern zum Gegenstand der Literatur wurden. Zink bezeichnet Michel Foucaults genealogische Schriften, Norbert Elias Zivilisationsstudie und Jacques Derridas Ausführungen zur Dekonstruktion als ihre methodischen Werkzeuge, mit deren Hilfe sich die Strategien nachzeichnen ließen, die die Autoren des russischen Realismus benutzt hätten, um die Suggestion von einem Volk zu erzeugen. Leider bleibt trotz der großen Namen unklar, wie Zink die literarischen Texte analysieren will. Dieses methodische Manko zieht sich durch die ganze Arbeit.

Der Autorin gelingt es in den drei Hauptkapiteln zwar nachzuzeichnen, welche Bedeutung die Themen Ernährung, Liebe und Strafen in der russischen Literatur haben. Inwieweit diese Motive jedoch diskursiv mit den Vorstellungen von einer russischen Nation verbunden sind, wird nicht immer deutlich. Nicht jede Thematisierung bäuerlichen Lebens folgt dem Ziel nationaler Homogenisierung. Letztendlich unterstellt Zink den von ihr untersuchten Autoren die Schaffung oder Ablehnung der Nation als einziges Erzählanliegen.

In ihrem ersten Hauptkapitel zeigt Zink, wie die hauptsächlich vegetarische Kost der Bauern in den literarischen Schriften zur gesunden Kost umgedeutet wurde, an der sich auch die Oberschichten ein Beispiel nehmen sollten. Der nationale Körper, den die belletristischen Texte präsentierten, sei zwar dem Alkohol verfallen, komme aber mit Hunger und Entbehrungen gut zurecht. Das Bild des opferbereiten russischen Volkes finde sich auch in Textstellen, die das Justizsystem im Zarenreich thematisieren und in denen körperliche Leidensfähigkeit als nationale Tugend gezeichnet wird. Dabei hätten die national gesinnten Autoren, so Zink, in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen und Romane vor allem die Körperstrafen gestellt, die Bauern für ihre Vergehen erlitten hätten. Der Bauer als Täter lasse sich hingegen als Motiv nur selten finden, da der literarische Blick auf den bäuerlichen Verbrecher die Empathie mit dem einfachen Volk nur gestört hätte. Nur schwer lässt sich der als Ergebnis formulierten These folgen, dass die nationale Harmonie des Fortbestands der Körperstrafen und der juristischen Distanz bedurft habe. Die ständeübergreifende Diskussion um die Aufhebung der körperlichen Züchtigung im Zarenreich konterkariert diesen zu unkritisch an Foucaults Disziplinierungstheorien angelehnten Befund. Im dritten Teil zeichnet Zink die Inszenierung einer opferbereiten Nation anhand der literarischen Repräsentationen von Familien- und Geschlechterbeziehungen nach. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die meisten Schriftsteller Bäuerinnen als Frauen charakterisierten, die nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten besaßen. Die Vernachlässigung der Kinder, die häufig ökonomische Ursachen gehabt habe, würde hingegen in den literarischen Texten kaum thematisiert. Folgt man Zink, dann belegt die Diskrepanz zwischen den literarischen Texten und jenen geschichtswissenschaftlichen Studien, die die sexuellen und familiären Handlungsspielräume von Bäuerinnen herausgearbeitet haben, die Disziplinierung russischer Bäuerinnen durch die Literatur. Sie trage, so Zink, zur Imagination einesweiblich-liebevollen, mütterlich-opferbereiten Volkes“ bei (S. 411). Letztendlichdiese These verbindet die drei Themenfeldersei diese Art der Darstellung eine Form der nationalen Disziplinierung gewesen, durch die die Bauernin Schach“ gehalten werden sollten (S. 404).

Die Art und Weise, wie Zink die literarischen Befunde mit historischen Studien konfrontiert, ist nicht durchgehend überzeugend. Durch den Vergleich der beiden kann sie zwar zeigen, dass bäuerliches Leben in der Literatur des Realismus eine Idealisierung erfuhr, durch die vor allem der soziale und kulturelle Abstand zwischen Bauernschaft und Intelligencija verringert werden sollte. Zu sehr liest Zink jedoch die Ergebnisse geschichtswissenschaftlicher Studien als historische Fakten und erkennt nicht, dass es zu den einzelnen Themen Forschungskontroversen mit durchaus unterschiedlichen Stimmen gibt. Häufig sind die vorgestellten Schlüsse zu eindimensional, oft gehen sie auf Kosten der Bauern. Befremdlich wirkt beispielsweise, dass Zink das WortPöbel“ als Synonym für die unteren Schichten benutzt (S. 24, 26, 47). Besonders ärgerlich aber ist, dass die Autorin Studien zum bäuerlichen Leseverhalten einfach ignoriert. Mehrfach bezeichnet Zink die Bauernschaft als homogene Masse von Analphabeten, die aufgrund ihrer mangelnden Lesefähigkeit alle Anstrengungen um Nationsbildung und Zivilisierung ins Leere laufen ließen. Die soziale Dynamik nach Aufhebung der Leibeigenschaft, die es auch Bauern ermöglichte, die Idealisierung der Bauernschaft für ihre Zwecke zu nutzen und sich in imaginierte Gemeinschaften wie Gesellschaft und Nation einzuschreiben, blendet Zink aus. Sie schreibt damit unkritisch die Geschichte von der unüberwindbaren Kluft zwischen oben und unten fort.

Aufgrund dieser kritisch ausgefallenen Bilanz seien allen Lesern, die mehr zur russischen Nationsbildung erfahren möchten, die oben genannten Arbeiten empfohlen, deren Ergebnisse Zink zum großen Teil nicht berücksichtigt. Wer darüber hinaus mehr über die in dieser Zeit mit der Bauernschaft verbundenen Imaginationen wissen möchte, dem sei wärmstens die vor 21 Jahren erschienene und von Andrea Zink nicht erwähnte Studie „Peasant Icons“ von Cathy A. Frierson ans Herz gelegt.

Julia Herzberg, Freiburg/Br.

Zitierweise: Julia Herzberg über: Andrea Zink: Wie aus Bauern Russen wurden. Die Konstruktion des Volkes in der Literatur des russischen Realismus 1860–1880. Zürich: Pano Verlag, 2009. 444 S. = Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas, 18. ISBN: 978-3-290-22002-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Herzberg_Zink_Wie_aus_Bauern_Russen_wurden.html (Datum des Seitenbesuchs)

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