Emily D. Johnson How St. Petersburg learned to study itself. The Russian idea of kraevedenie. The Pennsylvania State University Press University Park 2006. XV, 303 S., 7 Abb. ISBN 978-0-271-02872-9.

Heimatkunde, Landeskunde – das war im ausgehenden Zarenstaat und in der frühen Sowjetunion eine kulturelle Strömung und Bewegung, die unter der Bezeichnung kraevedenie einige Popularität gewann und der begrenzten Welt der Städte und Landstriche neue kulturell-historische Bedeutung verlieh. Unter Stalin wurde sie weitgehend zerstört, aber mit dem Zerfall der Sowjetunion lebte sie im ersten postsowjetischen Jahrzehnt wieder auf und gab den Städten und Regionen Geschichte und kulturelle Eigenart zurück. Ihr Anspruch blieb zunächst begrenzt, aber bald diskutierten russische Vertreter, wie sie die Landeskunde zu einer modernen Regionalgeschichte oder Regionologie hin entwickeln könnten.

Die amerikanische Historikerin Emily D. Johnson hat nun eine Pionierstudie über Aufstieg und Fall der kraevedenie am Beispiel von St. Petersburg vorgelegt. Sie diskutiert ihren Gegenstand im allgemeineren Kontext der Herausbildung neuer akademischer Disziplinen. Im Zentrum stehen aber eigentlich Petrograd und Leningrad bzw. das frühsowjetische Erbe dieser kulturellen Bewegung. Die Begrenzung auf die zarische Residenz- und Hauptstadt ist nicht unproblematisch, denn die Landeskunde hat in Russland eine sehr spezifische, eigene Form entwickelt und Bedeutung erhalten, und St. Petersburg/Petrograd/Leningrad war und ist wiederum ein Sonderfall innerhalb dieser Strömung in Russland und der Sowjetunion.

Der Versuch, die kraevedenie als eine akademische Disziplin zu untersuchen, zu deren Kennzeichen Raumbezug, Multidisziplinarität und Identitätsausrichtung gehören, ist eine gewisse Einengung. In den 1920er Jahren gab es tatsächlich in Leningrad eine lebendige Diskussion über eine disziplinäre Methodologie. Aber die zentrale Textform der Leningrader kraevedenie, der Stadtführer (russ. putevoditel’, S. 12), lässt sich kaum als eine typische Textform einer akademischen Disziplin darstellen, und die Akzeptanzfrage der kraevedenie kann weder für die 1920er Jahre noch für die postsowjetische Zeit als beantwortet gelten.

In den einzelnen Kapiteln werden zunächst kompetent Vorformen und Ursprünge im 18. und 19. Jahrhundert mit zentralen Autoren und literarischen Formen zusammengefasst: Auch auf die Bedeutung der deutschen Heimatkunde für die russische kraevedenie wird hingewiesen. Es geht zunächst um Stadtführer, Feuilletonartikel und die Skizze, und seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch immer mehr um die Geschichte der Stadt (etwa in Michail Pyljaevs Pionierstudie „Das alte St. Petersburg“). Die historische Wende lässt sich mit dem wachsenden Interesse an nationalisierter Vergangenheit begründen, wie es die Autorin tut (S. 39); sie lässt sich aber auch allgemeiner als Historisierung des kulturellen Bewusstseins im 19. Jahrhundert begreifen.

Die folgenden vier Kapitel sind der Hauptteil des Buches und untersuchen Spezifika der kraevedenie in St. Petersburg, Petrograd und Leningrad. Johnson untersucht hier zunächst die ersten großen Kunstzeitschriften, in denen die Autoren das architektonische Erbe St. Petersburgs ästhetisch aufwerteten und für dessen Schutz eintraten. Die Bedeutung von Alexander Benois wird zu Recht hervorgehoben, ohne dass er aber als Person genauer vorgestellt wird. Dann zeigt Johnson das Scheitern der im vorherigen Kapitel vorgestellten Gruppe einflussreicher Künstler und Kritiker in den ersten Sowjetjahren bei dem Versuch, das architektonische Erbe der Stadt zu schützen. Korrekt und kritisch wird darauf hingewiesen, dass sie neue Vereinigungen gründeten und für deren Erhalt auch mit dem neuen Sowjetregime kollaborierten, obwohl sie ihm kaum Sympathien entgegenbrachten (S. 80). In weiteren Kapiteln erhalten die Exkursionsbewegung und die literarischen Stadtführer sowie der Mediävist Ivan M. Grevs und sein Schüler Nikolaj P. Anciferov als prägenden Figuren ihre verdiente Aufmerksamkeit.

Die nächsten Kapitel folgen etwas unverbunden und halten nicht ganz das Niveau der vorhergehenden. Kapitel 6 über die Popularisierung des Begriffs kraevedenie in den 1920er Jahren und die akademische Institutionalisierung bezieht auch Moskau und die russische Provinz ein, berücksichtigt aber nur zum kleineren Teil die neuere russische Spezialforschung und verklärt etwas die politische Haltung der Leningrader Stadtkundler. Zu kurz wird die Ver­haftungswelle abgehandelt, die die kraevedy seit Ende der 20er Jahre traf. Kapitel 7 über die literarische Landeskunde kehrt dann noch einmal zu Anciferov zurück.

Die vorliegende Darstellung ist eine erste fundierte Würdigung der St. Petersburger und Leningrader Stadtkundler. Sie ist aber keine allgemeine Studie über Aufstieg und Fall der krae­ve­denie in Russland, die wohl breiter in der russischen Provinz ansetzen und das Phänomen als kulturelle Bewegung untersuchen müsste.

Guido Hausmann, Freiburg

Zitierweise: Guido Hausmann über: Emily D. Johnson: How St. Petersburg learned to study itself. The Russian idea of kraevedenie. The Pennsylvania State University Press University Park 2006. XV, 303 S., 7 Abb. ISBN 978-0-271-02872-9, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 306: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hausmann_Johnson_How_Petersburg.html (Datum des Seitenbesuchs)