Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  600–601

Christoph Augustynowicz, Andreas Kappeler (Hrsg.) Die galizische Grenze 1772–1867: Kom­munikation oder Isolation? Lit Verlag Berlin, Wien 2007. II, 245 S., 1 Kte., Abb., Tab. = Europa Orientalis, 4. ISBN 978-3-8258-0095-6.

In der Geschichtsschreibung über das habsburgische Kronland Galizien und Lodomerien zeichnet sich ein Wandel ab, der sich auch als thematische Ausweitung fassen und in dem hier zu besprechenden Tagungsband gut erkennen lässt. Während die neunziger Jahre durch Untersuchungen über Formationsprozesse nationaler Gruppen, die Entstehung von Nationalismen und konflikthafte interethnische Beziehungen zwischen Polen, Ukrainern und Juden – zumal für Ostgalizien – gekennzeichnet waren, erhalten nun auch andere Themen Aufmerksamkeit bzw. wieder Aufmerksamkeit wie zum Beispiel wirtschaftliche Entwicklungen. Der vorliegende Band, der auf eine wissenschaftliche Tagung am Wiener Institut für Osteuropäische Geschichte im Sommer 2005 zurückgeht und Zwischenergebnisse einiger Wiener Forschungsprojekte dokumentiert, nimmt dabei – dies zeigt vielleicht einen weiteren Wandel an – die Jahrzehnte vor der Autonomieepoche und die Frage nach der Bedeutung der neuen russisch-österreichischen Grenze in den Blick. Einige Aufsätze greifen den von Peter Haslinger (Marburg / Lahn) in seinem einführenden Beitrag als einen der neueren Wege der historischen Erforschung von Grenzen vorgestellten Forschungstrend auf, Grenze als lebensweltlichen oder mikrohistorischen Gegenstand zu untersuchen.

Die am Anfang des Sammelbandes platzierten Beiträge polnischer Autoren aus Krakau und Kielce spiegeln diesen Wandel noch weniger wieder und untersuchen eher den strukturellen Wandel des Handels im westlichen Galizien nach 1772. Die Teilungen kappten hier frühere Handelsbeziehungen über die Weichsel nach Norden, Krakau profitierte aber ökonomisch von seinem Status als Grenzstadt und als freie Stadt zwischen 1815 und 1846 und erholte sich von den vorherigen Krisenjahren (Piotr Frana­szek [Krakau], Isabel Röskau-Rydel [Krakau]). Der Aufsatz von Christoph Augustynowicz (Wien) über die Stadt Sandomierz in den Jahren 1772 bis 1844 fragt expliziter nach der Lebenswelt von Beamten in der grenznahen, nach 1795 zu Österreich und nach 1815 zu Kongresspolen gehörenden kleinpolnischen Stadt, um auf schwieriger Quellenbasis deren stärkere lebensweltliche Verankerung in der Stadt nach 1815 im Vergleich zu 1772 festzustellen. Börries Kuz­many (Wien) weist in seinem Aufsatz über die Entstehung des Freihandelsprivilegs der Stadt Brody zwischen 1776 und 1787 auf Konflikte innerhalb der Brodyer Kaufmannschaft hin. Die Drohung der wohlhabenden Kaufleute, die Stadt zu verlassen, spielte bei der Zuerkennung des Freihandelsstatuts wohl eine entscheidende Rolle und ermöglichte es der Stadt, vor allem aber einer kleinen Zahl von Kaufleuten, im 19. Jahrhundert wie in den beiden Jahrhunderten zuvor eine überregionale Bedeutung zu gewinnen. Laurie Cohen (Innsbruck) sucht nach lebensweltlichen Spuren in der galizisch-podolischen Grenzstadt Husjatyn/Gusjatin, die nach 1772 peripherisiert wurde. Sie findet sie am ehesten bei den chassidischen Rabbinern, die den Namen Husjatyn im 19. Jahrhundert über die Region hinaus bekannt machten.

Diese forschungsorientierten Beiträge werden von einigen weiteren ergänzt, die soliden Überblickscharakter haben. Svjatoslav Pachol­kiv (Lemberg) untersucht die nach 1772 neu entstehende galizische Grenze im Kontext des Werdens einer Staatsgrenze. Die Grenzziehung erfolgte in einem Raum, der zuvor praktisch keine Grenze kannte, und in den folgenden Jahrzehnten bildete sich erst langsam eine Praxis von Grenzüberwachung und -überschreitung heraus. Auch die Frage nach nationaler Entwicklung wird aufgegriffen. Polen überquerten die Grenze nach Krakau und Kongresspolen nach 1815 auch immer wieder illegal (etwa 1830), wie Isabel Röskau-Rydel (Krakau) und Hugo Lane (New York) berichten. Doch Lane weist darauf hin, dass die galizisch-polnischen Adligen ein weitgehend separates Leben führten und nur peripher nationalisiert waren. Oleh Tu­rij (Lemberg) fasst souverän die Rolle des griechisch-unierten Klerus zwischen 1772 und 1848 zusammen, Andreas Kappeler (Wien) stellt anhand dreier zwischen 1778 und 1838 entstandener Reiseberichte den Wandel der Außenwahrnehmung Galiziens fest und Gertrud Marinelli-Kö­nig (Wien) macht sich in abschließenden kulturwissenschaftlichen Betrachtungen Gedanken über Galizien als nationalen und transnationalen Gedächtnisort. Einmal mehr wird deutlich, dass das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert war, das den Kontinent durch Zerstörung und Vergessen auseinanderriss.

Die Publikation hat einerseits Bedeutung für die Untersuchung von Grenzbildungen in Europa, indem sie das Thema exemplarisch in historischer Perspektive untersucht; sie liefert andererseits auch neue Einblicke in die Erforschung der so genannten kleinen Städte. Was in einigen Beiträgen als Zwischenergebnis präsentiert wird, möchte man gern als Endergebnis sehen.

Guido Hausmann, Freiburg

Zitierweise: Guido Hausmann über: Christoph Augustynowicz, Andreas Kappeler (Hrsg.) Die galizische Grenze 1772–1867: Kommunikation oder Isolation? Lit Verlag Berlin, Wien 2007. II. = Europa Orientalis, 4. ISBN 978-3-8258-0095-6, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 600–601: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hausmann_Augustynowicz_Galizische_Grenze.html (Datum des Seitenbesuchs)