Gabriele Freitag Nächstes Jahr in Moskau! Die Zuwanderung von Juden in die sowjetische Metropole 1917–1932. Verlag Vandenhoeck & Rup­recht Göttingen 2004. 348 S., 2 Abb., 18 Tab. = Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, 2.

Nach der Februarrevolution 1917 fielen die Schranken, die zuvor eine massenhafte Zuwanderung von Jüdinnen und Juden in die Großstädte des russischen Landesinnern behindert hatten. Von etwa 15.000 jüdischen Einwohnern in Moskau am Vorabend des Ersten Weltkrieges stieg diese Zahl bis 1926 auf 130.000 und bis 1933 gar auf 220.000. Gabriele Freitag untersucht in ihrer Dissertation, die hier in überarbeiteter Form vorliegt, diesen Prozess der Migration und der damit verbundenen „Großstadtsozialisation“ (S. 12). Im Mittelpunkt steht die Frage der Integration der neuen Einwohner vor dem Hintergrund der Interaktion mit ihrer Umwelt. Inwieweit gab es kollektive Verhaltensmuster bei den Juden? Wie gestaltete sich die Selbst- und Fremd­wahrnehmung? Als Quellen dienen insbesondere Materialien aus mehreren russischen Archiven, zeitgenössische Statistiken und Periodika sowie publizierte Memoiren.

Im Einzelnen stellt Gabriele Freitag die Situation der Juden im Ansiedlungsrayon während der Zarenzeit dar, die beschränkte Niederlassungsmöglichkeit in Moskau und die Zuwanderung jüdischer Flüchtlinge während des Ersten Weltkrieges. Ausführlich widmet sie sich dann dem Zustrom nach Moskau seit 1917, den Mo­tiven und der Sozialstruktur der Migranten, ihrer Ansiedlung und ihren Wirkungsfeldern, ihrem spezifischen Milieu. Ein eigener Teil beschäftigt sich mit der Tätigkeit der jüdischen Parteisektion (Evsekcija) in der Hauptstadt und mit den Folgen für die dort lebenden Juden. Abschließend fragt Gabriele Freitag nach den Möglichkeiten und Grenzen der gesellschaftlichen Integration der Juden in Moskau. Dabei thematisiert sie die kulturelle Praxis, Eheschließungen, Religion und Antisemitismus.

Im Ergebnis hält Gabriele Freitag fest, dass sich die zugewanderten Juden rasch in der Hauptstadt eingewöhnten, dass Moskau „für vie­le Juden offensichtlich bald zu einer neuen Heimat“ wurde (S. 315). Das gilt für die jungen und gebildeten Juden, die den Kern der ersten großen Migrationswelle nach dem Ende des Bürgerkrieges 1920 ausmachten, ebenso wie für die älteren, die am Ende der zwanziger Jahre im Rahmen der Industrialisierung und der Verdrängungsvorgänge an ihren bisherigen Siedlungsorten nach Moskau kamen. Die Niederlassung folgte dem Muster des „urbanen Schtetl“, ließ also sowohl die Bewahrung traditioneller Lebens­weisen als auch den Aufbruch zu neuen Lebensformen zu.

Die meisten Juden machten, ähnlich den Angehörigen anderer ethnisch-nationaler Minderheiten, aufgrund des sozialen Vakuums nach der Revolution und der erweiterten Partizipationsmöglichkeiten schnell Karriere: in der Wirtschaft, innerhalb der städtischen Intelligenz wie auch im Verwaltungs- und Parteiapparat. Insgesamt kann man von einem beträchtlichen beruflichen und sozialen Aufstieg im Verhältnis zur vorrevolutionären Zeit sprechen. Die Evsekcija ging radikal gegen den Klassenfeind innerhalb der jüdischen Bevölkerung vor, gegen die „klerikalen“ und „bourgeoisen“ Elemente. Damit versuchte sie, ihre Existenz in der Partei zu rechtfertigen. Es gelang ihr aber nicht, im jüdischen Milieu Fuß zu fassen. Weder die traditionsverhafteten noch die aufstiegsbewussten Juden fühlten sich mehrheitlich angesprochen. Ge­gen Ende der zwanziger Jahre zeigte sich, dass die meisten Zuwanderer bereit waren, sich vom Jiddischen und von ihrer traditionellen Kultur zu lösen. Die Möglichkeiten, am Aufbau einer neuen Gesellschaft mitzuwirken, genossen hohe Attraktivität. Jüdische Landsmannschaften oder ähnliche Verbände konnten sich nur unzureichend entwickeln und wurden mehr und mehr zurückgedrängt.

Bei aller Angleichung an die russische Kultur und zahlreichen Eheschließungen mit russischen Partnerinnen oder Partnern wurden die Juden aber nicht zu Russen – sie waren gesellschaftlich integriert, blieben hingegen im jüdischen Milieu, wenngleich hier keine neue jüdische Kultur entstand. Ausgeschlossen aus diesem Prozess waren die „Klassenfeinde“: die Rabbiner und andere Kultusbedienstete sowie zunehmend dann die Privathändler. Sie fanden auch immer weniger eine eigenständige jüdische Infrastruktur oder eine „institutionell verankerte Gemeinschaft“ (S. 322) vor. Für die Mehr­heit der Juden hatte die jüdische Nationalität kaum noch Bedeutung, sie identifizierten sich weitgehend mit der sowjetischen Gesellschaft, die ihnen wesentliche Vorteile bot. Erst die Kinder, die in den zwanziger oder dreißiger Jahren geboren wurden, heben in ihren Erinnerungen die jüdische Abstammung wieder stärker hervor. Dazu trug vermutlich der Antisemitismus bei, der nach dem Zweiten Weltkrieg stärker spürbar war als zwischen 1917 und 1932. Vorhanden war er allerdings auch während dieser Zeit, vor allem drückte er sich in den Konkurrenzängsten innerhalb der städtischen Bevölkerung aus.

Gabriele Freitag geht nur kurz auf ihre methodische Vorgehensweise ein. Sie hat eine beeindruckende sozialgeschichtliche Untersuchung vorgelegt. Als Teil ihrer Argumentation führt sie immer wieder Selbstzeugnisse und persönliche Schicksale an, so dass deutlich wird, welche Bedeutung die Vorgänge und Veränderungen für den einzelnen Menschen hatten. Dies wäre noch schärfer herauszuarbeiten gewesen. So könnte es sich lohnen, sich eingehender mit dem Ergebnis zu beschäftigen, dass zahlreiche Zuwanderer im jüdischen Milieu blieben, aber weder sich in die jüdische Tradition eingebunden fühlten noch eine spezifisch jüdisch-kommunistische Identität entwickelten, sondern als Juden ohne „Sonderbewusstsein“ Teil der neuen Sowjetgesellschaft sein wollten. Könnte man hier, wie es bei Untersuchungen zu anderen Gesellschaften festgestellt wurde, von „Grenzgängern“ sprechen, die zwischen zwei Welten standen?

Interessant ist auch, dass die Genossenschaften und Gemeinschaftswerkstätten, als „Keimzel­len einer neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung“ gedacht, für viele Juden, gerade wenn sie noch religiöse Bindungen hatten, als „Ersatz für vorrevolutionäre jüdische Gemeinschaftsformen“ empfunden wurden (S. 263). Hier erfuhren sie Solidarität. Könnte es sein, dass in diesen Kollektiven versucht wurde, die Tradition von Selbstverwaltung und Selbstbestimmung im Alltag fortzusetzen, die schon im 19. Jahrhundert alle Versuche der zarischen Behörden unterlaufen hatte, jüdisches Leben unter ihre Kontrolle zu bringen? Sicher war dies unter sowjetischen Bedingungen viel schwieriger zu verwirklichen. Aber es könnte ein Teil des Bestrebens nach Selbstbehauptung in einer dramatischen Umbruchzeit gewesen sein. Hier wären weitere Studien anzusetzen. An Gabriele Freitags Buch wird niemand vorbeikommen, der sich mit jüdischer Geschichte, mit Urbanisierungsprozessen oder mit den zwanziger Jahren in der Sowjetunion auseinandersetzen will.

Heiko Haumann, Basel

Zitierweise: Heiko Haumann über: Gabriele Freitag: Naechstes Jahr in Moskau! Die Zuwanderung von Juden in die sowjetische Metropole 1917–1932. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Goettingen 2004. = Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, 2. ISBN: 3-525-36981-6, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 4, S. 614-616: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haumann_Freitag_Naechstes_Jahr.html (Datum des Seitenbesuchs)