Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 519-520

Verfasst von: Mateusz J. Hartwich

 

Jan Salm: Ostpreußische Städte im Ersten Weltkrieg. Wiederaufbau und Neuerfindung. Aus dem Polnischen übersetzt von Katrin Adler. München: Oldenbourg, 2012. 304 S., 266 Abb., 2 Ktn., zahlr. Pläne. = Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 46. ISBN: 978-3-486-71209-4.

Jan Salms Publikation beschreibt den Wiederaufbau der ostpreußischen Orte nach den Zerstörungen vom Sommer-Herbst 1914. Dabei untersucht der in Łódź lehrende Architekturhistoriker, inwieweit ideologische und ästhetische Tendenzen eine Rolle in diesem Prozess spielten. Die lesenswerte Studie erlaubt über das konkrete Untersuchungsgebiet und den Untersuchungszeitraum hinausgehende Schlüsse auf das Themenfeld Stadtentwicklung und regionale Identitätsdiskurse. Insbesondere kann die vorliegende Forschungsliteratur zur Aneignung von ehemals deutschen Städten in Ostmitteleuropa nach 1945 um eine hochinteressante Vergleichsebene ergänzt werden.

Zugegeben, die Arbeit braucht etwas, um in Fahrt zu kommenneben einer methodischen Einleitung und einer kurzen Einführung zuArchitektur und Städtebau in Ostpreußen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, schickt Salm der eigentlichen Darstellung von 16 Fallstudien noch ein Überblickskapitel zu den Kriegsereignissen und zum Hintergrund des Wiederaufbaus vorweg. Ergänzt wird die Untersuchung durch einen Seitenblick auf das Geschehen in vier weiteren europäischen Staaten (darunter Polen) sowie durch Schlussfolgerungen. Besonders der Versuch einer vergleichenden Betrachtungsebene ist lobend hervorzuheben. Er fällt zwar arg kurz aus, aber allein schon das Bemühen, die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf den erst 1918 wiedererrichteten polnischen Staat im Vergleich zu Belgien oder Frankreich zu untersuchen, stellt eine Herausforderung für den nationalen Geschichtskanon dar. Im polnischen historischen Bewusstsein findet derGroße Kriegtendenziellwoanders‘ statt, was angesichts der Tatsache, dass sich eine seiner größten Schlachten bei Stębark (Tannenberg) in den Masuren, seit 1945 einem Teil Polens, abspielte, etwas verwundern mag.

Vor diesem Hintergrund und im Bewusstsein desauch geschichtspolitisch motiviertenfehlenden Interesses an sozialhistorischen Untersuchungen zu den preußischen Ostprovinzen in der Zwischenkriegszeit, ist die vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit dem Thema hoch einzuschätzen. Mehr nochwiederholt vergleicht Salm den Wiederaufbau nach dem Ersten Weltkrieg, durchgeführt von deutschen Behörden und Architekten, mit dem nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht immer zum Vorteil polnischer Planer und Entscheider. Er verfolgt mit dem Buch aber auch einpolitisches‘ Ziel: Er möchte die nach 1914 errichteten Gebäude und geschaffenen Stadtstrukturen ins Bewusstsein der regionalen Öffentlichkeit rücken, ihren historischen Rang herausstellen und damit bewahren helfen.Die anstehenden Veränderungen sollten behutsam vollzogen werden und nicht nur von den Richtlinien der EU-Fördermittel [!] abhängen, sondern vom Bewusstsein und dem Engagement der lokalen Bevölkerung zum Schutz des historischen Erbes getragen sein(S. 18). Wie andernorts bereits analysiert, gelten etwa lokale Gebirgsvereine als Vorläufer einer ausgewogenen, mit indigenen Kräften betriebenen Tourismusentwicklung in Westpolen, oder es dient das Breslauer Stadtbürgertum von vor 1939 als Vorbild einer selbstbewussten, auf regionale Eigenheiten fokussierten urbanen Elite. Damit sollen die deutschen Leistungen vor dem Zweiten Weltkrieg in die heutige Identität der in den früheren Ostgebieten lebenden Polen Eingang finden und infrastrukturelle Entscheidungen beeinflussen.

Das KapitelDer Wiederaufbau in Ostpreußen nach den Kriegszerstörungenstellt gewissermaßen ein abstract der gesamten Arbeit dar, werden darin doch die wesentlichen Leitideen und Erkenntnisse zusammengefasst. Salm führt auf, wie verheerend die Verwüstungen nach den Kämpfen im Sommer und Herbst 1914 warensiebetrafen zwei Drittel des Territoriums(S. 53) und hatten zur Zerstörung und Beschädigung von über 30.000 Gebäuden geführt. Die Entscheidung zum schnellen Wiederaufbau war auch politisch motiviert, man hatte nämlich befürchtet, die periphere, im heutigen DuktusstrukturschwacheRegion, würde zum Unsicherheitsfaktor im laufenden Krieg. Für einige Zeitgenossen stellten die Kriegszerstörungen dafür eine Chance dar, vermeintlich überkommene städtische Strukturen durchmodernezu ersetzen (S. 78), was nach dem Zweiten Weltkrieg noch viel stärker zum Durchbruch kam, wie unlängst eine Hamburger Ausstellung zeigte. Die Architekten und Planer, die seit 1915 in Ostpreußen zum Zuge kamen, hattenunter anderem beeinflusst durch die Ideen des Deutschen Bundes Heimatschutzein idealtypisches Bild einerkleinbürgerlichenStadtum 1800vor Augen (S. 61–62). Moderneraumplanerische Überlegungen zur Verbesserung der städtischen Wohn- und Lebensbedingungen(S. 67) fanden allerdings ebenfalls Eingang in die Planungen. Auch wenn nirgendwo zwischen Alle und Memel eineGartenstadtentstand, wurden doch einige Ideen von Verfechtern dieser urbanen Erneuerung auf die preußische Provinz übertragen.

Die nachfolgend detailreich aufgeführten Fallbeispiele lassen sich in einigen wesentlichen Punkten zusammen fassen. Wichtig waren 1. die handelnden Personen, d.h. die Architekten, 2. der organisatorische Rahmen, insbesondere die Einstellung der lokalen Behörden, 3. die ästhetischen Leitbilder, die immer auch Fragen von Nutzung und Bezug zum Gesamtensemble berührten. Wiederholt kam es dabei zu Konflikten zwischen örtlichen Baubehörden und zugereisten Architekten, zu Umlegungen im innerstädtischen Bereich, zur übertriebenen Romantisierung der Neubauten (v.a. in Gerdauen), aber auch zu prätentiösen Anlagen, die der Skala einer Kleinstadt nicht gerecht waren. Man hätte in diesem Punkt gerne mehr zu möglichen Interessenkonflikten zwischen Architekten, Behörden und Eigentümern erfahren, da sich Letztere nicht bloß von patriotischen Gefühlen und zeitgenössischer Ästhetik leiten lassen mochten. Auf Grundlage der ausgewerteten QuellenVerwaltungsakten einerseits und Architektenzeitschriften und -memoiren andererseitslassen sich die geschilderten Auseinandersetzungen lediglich auf diese zwei Ebenen beziehen, mit punktuellen Verweisen auf die Bauherrenperspektive (z. B. S. 159).

Zu den wichtigsten Schlussfolgerungen des Kapitels zu den europäischen Vergleichsfällen gehört die Feststellung, dass nirgends der Wiederaufbau so konsequent und so einheitlich im Ergebnis verlaufen sei wie in Ostpreußen (S. 236). Trotz der Leitidee einesnationalen Baustils, die in ganz Europa damals vertreten wurde, erfolgte der Aufbau unter modernen Gesichtspunkten. Diese Verbindung von Tradition und Regionalismus mit reformerischem Ansatz gehört ohnehin zu den prägenden Phänomenen jener Zeit, und sie war auch leitend für den Heimatschutzgedanken. Vermutlich macht dieser Ansatz das Thema so attraktiv für den aktuellen architektonischen Diskurs in Polen, wird doch derzeit der allgemeine ästhetische Verfall von Neubauten und das planerische Chaos von vielen Kommentatoren bemängelt. Dass nun ausgerechnet der Wiederaufbau in Ostpreußen, das sich in der Zwischenkriegszeit vor allem über die negative Abgrenzung zum wiedererstandenen Polen definierte, wie Robert Traba einst in seinem brillanten Buch ausführte, als positive Referenz genutzt wird, mag auf den ersten Blick verwundern, zeugt aber vom zunehmend affirmativen Umgang mit den historischen Schichten aus deutscher Zeit, der die Identitätsdebatten jenseits von Warschau charakterisiert. Jan Salms fundierte Studie ist dabei mehr als Regionalgeschichte, sie ist ein wertvoller Beitrag zur Europäisierung der polnischen Zeitgeschichtsschreibung.

Mateusz J. Hartwich, Berlin

Zitierweise: Mateusz J. Hartwich über: Jan Salm: Ostpreußische Städte im Ersten Weltkrieg. Wiederaufbau und Neuerfindung. Aus dem Polnischen übersetzt von Katrin Adler. München: Oldenbourg, 2012. 304 S., 266 Abb., 2 Ktn., zahlr. Pläne. = Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 46. ISBN: 978-3-486-71209-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hartwich_Salm_Ostpreussische_Staedte_im_Ersten_Weltkrieg.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Mateusz J. Hartwich. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.