Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 656-658

Verfasst von: Mateusz J. Hartwich

 

Historisch-topographischer Atlas schlesischer Städte – Historyczno-topograficzny atlas miast śląskich. Band – Tom 3: Węgliniec Kohlfurt. Im Auftrag des Herder-Instituts herausgegeben von Peter Haslinger / Wolfgang Kreft / Grzegorz Strauchold / Rościsław Żerelik. Bearbeiter Jacek Dębicki. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2012. 48 S., 57 Abb., 21 Ktn. ISBN: 978-3-87969-383-2.

Zugegeben, dass nach Zgorzelec/Görlitz und Opole/Oppeln ausgerechnet diese Kleinstadt inmitten der Niederschlesischen Heide zum Thema eines historisch-topographischen Atlas in der Publikationsreihe des Herder-Instituts in Marburg und des Historischen Instituts der Universität Wrocław/Breslau wurde, mag auf den ersten Blick verwundern. Węgliniec/Kohlfurt wird nur eingefleischten Kennern der deutschen Eisenbahnhistorie ein Begriff sein, und wie die Autoren freimütig zugeben, reduziert sich die Bedeutung des Städtchens auch weitestgehend auf diesen Aspekt (S. 13). An der Schnittstelle mehrerer wichtiger Bahnlinien gelegen, spielte der Ort im Südwesten Niederschlesiens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine überregionale Rolle.

Die auf 34 Publikationen angelegte Buchreihe, die neben dem Kartenfundus der Staatsbibliothek Berlin die einzigartige Sammlung von Senkrechtluftbildern aus den dreißiger und vierziger Jahren im Herder-Institut und weitere archivalische Bestände der Projektpartner (u.a. lokaler Archive im heutigen Polen) nutzt, versteht sich gewissermaßen als Mittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Nicht eine „Neuentdeckung“ der (deutschen) Vorkriegsgeschichte, die an vielen Orten insbesondere in Schlesien seit vielen Jahren und meist vorurteilsfrei vonstatten geht, kann Ziel einer wissenschaftlich fundierten Kartensammlung sein. Es ist eher der fachliche Blick auf strukturelle Begebenheiten, über die Epochen hinweg, der diesem Vorhaben seine besondere Bedeutung verleiht. Denn wie viele aktuelle Debatten in Polen zeigen, ist Stadtentwicklung ein Thema, bei dem man sich oft schwer tut, Lehren aus der Geschichte zu ziehen.

Die Geschichte der Stadt an sich ist schnell erzählt: von einer Waldsiedlung mit Forstwirtschaft, Kohlenbrennereien und Fischzucht über die Eisenbahnerkolonie in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zur 4000-Einwohner-Stadt Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als die Bevölkerungszahl den Höchststand erreichte (S. 30). Die Eisenbahnersiedlung und das alte Dorf entwickelten sich dabei lange Zeit parallel, wobei erstere schon zu Beginn der 20. Jahrhunderts mehr Einwohner aufwies als die Ortschaft (S. 18). Nach und nach entstanden südlich von Bahnhof und Gleisen neue Wohngebäude und öffentliche Einrichtungen sowie Industriebetriebe (Sägewerk, Braunkohlegrube), die zur weiteren Zunahme der Wohnbevölkerung beigetragen haben. Einen weiteren Schub brachte die Zwischenkriegszeit mit Wohnsiedlungen, öffentlichen Anlagen (Parks, Sportstätten, Friedhöfen) und Arbeitsstätten. Im infrastrukturellen Sinne war Kohlfurt somit vollends entwickelt, als der Ort 1945 an Polen fiel. Die neue Grenzlage trug zum Verlust des überregionalen Rangs des Bahnhofs bei, was auch mit dem schrittweisen Niedergang des Eisenbahnwesens in Polen zusammenhing (S. 26 ff.). Die Jahre seit 1989 stehen für einen Kampf um den Erhalt der Verkehrsknotenpunktfunktion und um den Ausbau weiterer wirtschaftlicher Perspektiven, etwa im Tourismus (S. 33–34).

Eine Besonderheit der vorliegenden Publikation ist es, dass die Auseinandersetzung mit der Kohlfurter Stadtgeschichte eine sehr kleinteilige Recherche notwendig machte. So werden neben den einschlägigen Museen und Archiven in Deutschland und Polen auch Vereine und Privatpersonen als Unterstützer des Projekts genannt (S. 3). Überhaupt scheint die Quellen- und auch die Literatursituation überschaubar zu sein. Auch hier ist sehr bezeichnend, dass ein beträchtlicher Teil der existierenden Publikationen die regionale Eisenbahngeschichte behandelt. Es überrascht aber, dass ein zentrales Ereignis in der jüngsten Geschichte des Ortes nur marginale Erwähnung findet (S. 26), und bisher nicht Gegenstand einer Einzelpublikation war: Die Rolle als „Verschiebebahnhof“ für vertriebene Deutsche aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße. Allein in zehn Monaten des Jahres 1946 wurden über 1 Million Menschen mit Eisenbahntransporten aus Schlesien über Kohlfurt in die britische und sowjetische Besatzungszone in Deutschland gebracht. Abgesehen von einem kleinen Schwarz-weiß-Foto und einigen wenigen Fußnoten wird dieses Momentum nicht weiter ausgeführt (vgl. S. 26), was sich mit dem Fehlen entsprechender Sekundärliteratur erklären lässt.

In fachlicher Hinsicht lässt der Band keine Fragen offen. Es ist der Materie, d. h. der Geschichte des Ortes und dem spärlich vorhandenen Material geschuldet, dass die Lektüre recht kurz ausfällt. Die grafische Gestaltung und die Textredaktion zeugen von höchster Professionalität der Herausgeber. Ergänzt wird die Buchreihe durch eine interaktive Onlineanwendung, in der sich die Entwicklungsphasen einzelner Orte noch anschaulicher darstellen lassen (www.herder-institut.de/staedteatlas-schlesien). Mit Nowa Sól/Neusalz ist 2013 ein vierter Band erschienen, der wiederum eine kleine Stadt mit interessanter Verkehrsgeschichte – in diesem Falle die Oderschifffahrt – behandelt. Man darf also auf die weiteren Bände der Atlantenserie gespannt sein.

Mateusz J. Hartwich, Berlin

Zitierweise: Mateusz J. Hartwich über: Historisch-topographischer Atlas schlesischer Städte – Historyczno-topograficzny atlas miast śląskich. Band – Tom 3: Węgliniec – Kohlfurt. Im Auftrag des Herder-Instituts herausgegeben von Peter Haslinger / Wolfgang Kreft / Grzegorz Strauchold / Rościsław Żerelik. Bearbeiter Jacek Dębicki. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2012. 48 S., 57 Abb., 21 Ktn. ISBN: 978-3-87969-383-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hartwich_Historisch-topographischer_Atlas_schlesischer_Staedte_3_Kohlfurt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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