Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 307-308

Verfasst von: Mateusz J. Hartwich

 

Historisch-topographischer Atlas schlesischer Städte Historyczno-topograficzny atlas miast śląskich. Band – Tom 1: Görlitz – Zgorzelec. Im Auftrag des Herder-Instituts herausgegeben von Peter Haslinger / Wolfgang Kreft / Grzegorz Strau­chold / Rościsław Żerelik. Bearbeiter Christoph Waack. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2010, 48 S., zahlr. Abb., Ktn. ISBN: 978-3-87969-361-0.

Wohl kaum eine Stadt eignete sich besser für den ersten Band der neuen Publikationsreihe Historisch-topographischer Atlas schlesischer Städte als Görlitz. Eine seit dem Zweiten Weltkrieg geteilte Stadt direkt an der deutsch-polnischen Grenze steht im übertragenen Sinne für das Schicksal der gesamten Region – des historischen Bruchs von 1945 und des Wieder-zueinander-Findens seit dem politischen Umbruch 1989.

So lag es fast schon nahe, mit Görlitz/Zgorzelec die auf 34 Publikationen angelegte Buchreihe zu beginnen. Es galt dabei, einen Schatz zu heben: den Kartenfundus der Staatsbibliothek Berlin, die Sammlung von Luftbildern der 1930er und 1940er Jahre des Herder-Instituts sowie Bestände aus Archiven in Polen. Und es galt auch, eine Doppel-Stadt, die bis heute von ihrer „Randlage“ (S. 8) geprägt ist, wieder etwas mehr in den Mittelpunkt zu rücken. Denn nicht die Randlage, sondern eher die Brückenfunktion von Görlitz trug zu einer langen Blüte der Stadt bei, was im Abriss der lokalen Geschichte zum Ausdruck kommt. Über die Hohe Straße (via regia) führten viele Handelswege von Sachsen über Schlesien nach Böhmen und Polen. Diese Ost-West-Ausrichtung prägte auch die Stadtgestalt, die im Wesentlichen bis heute erhalten geblieben ist (vgl. S. 11). Politische Turbulenzen in Europa führten zum Bedeutungsverlust der alten Handelsstadt, und als Görlitz nach dem Wiener Kongress Teil der preußischen Provinz Schlesien wurde, musste sich die Stadt de facto neu erfinden.

Zunächst konnte man von der historischen Stellung als Verkehrsknotenpunkt profitieren, indem die Stadt Anschluss an wichtige Eisenbahnlinien in Preußen und Sachsen erhielt (S. 14). Wie in vielen anderen Orten des Kontinents auch, führte die Industrialisierung zu einer rapiden Bevölkerungsentwicklung, was mit einer räumlichen Expansion einherging. Weitere Faktoren, die die Stadtentwicklung, auch östlich der Neiße begünstigten, waren die Errichtung preußischer Kasernen oder städtischer Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Erst in diesen Jahren, und damit viel später als in den meisten Städten der Region, wurden auch die alten Stadtbefestigungen geschleift, was die weitere räumliche Entwicklung begünstigte.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich die Bevölkerungszahl von Görlitz fast verdoppelt (S. 20), südlich des Bahnhofs entstanden repräsentative Gründerzeitviertel, und die günstige Lage zwischen den Metropolen Berlin, Breslau und Dresden sowie in unmittelbarer Nähe zu touristisch bereits hoch entwickelten Bergregionen (v.a. Riesengebirge) sorgte für die Zuzug wohlhabender betagter Bürger aus ganz Preußen (S. 22). Diese Dynamik konnte in der Zwischenkriegszeit nicht fortgesetzt werden, wenn auch die Einwohnerzahl ein neues Hoch erreichte, und weitere Gebäude errichtet wurden, vornehmlich in der Oststadt, dem heutigen Zgorzelec. Eher untypisch erscheint, dass bereits Ende der 1930er Jahre mit der Sanierung der Altstadt begonnen wurde, wohl auch um die touristische Attraktivität von Görlitz zu steigern (S. 26).

Die kaum zerstörte Stadt wurde im Sommer 1945 zum Schauplatz der Trennung gewachsener Stadtorganismen durch eine neu gezogene Staatsgrenze. Görlitz war die größte der durch die Oder-Neiße-Linie geteilten Städte und gleichzeitig wichtiger Transitort für tausende vertriebene Deutsche sowie Kriegsheimkehrer und andererseits für Zwangsarbeiter auf ihrem Weg nach Osten. So überstieg die Einwohnerzahl im Juni 1945 die 100.000er-Marke, und der Magistrat sah sich veranlasst, alle Nicht-Ortsansässigen zum Verlassen der Stadt aufzufordern. Wie schwierig der Neuanfang auf beiden Seiten der Neiße war, zeigt sich auch daran, dass von einer Stabilisierung der Bevölkerungsstruktur noch lange nach 1945 nicht die Rede sein konnte. Die polnische Verwaltung siedelte heterogene Gruppen (Militärangehörige, griechische Bürgerkriegsflüchtlinge, Polen aus den an die Sowjetunion abgetretenen Ostgebieten) an, was kaum zu einer Integration der neu zu schaffenden Stadtgesellschaft beitragen konnte (vgl. S. 29 f.). Auf Görlitzer Seite bedeutete die Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953, wobei hier als einziger Stadt der DDR der SED-Bürgermeister abgesetzt wurde, auch den Wegzug vieler bürgerlicher Familien. Seit den 1960er Jahren entstanden dafür neue Wohnsiedlungen für die Arbeiter der Industriebetriebe und des Bergbaus (S. 30).  

Diese Umformung der Stadt und der Stadtgesellschaft hatte auch Auswirkungen auf die Zeit nach 1989, als es einerseits zu einer Rückbesinnung auf das gebaute Erbe und zur vorbildlichen Sanierung der Altstadt und der Gründerzeitquartiere kam. Andererseits führte die Deindustrialisierung in Ostdeutschland zu einem dramatischen Bevölkerungsrückgang in Görlitz (S. 32), wodurch sich das Einwohnerverhältnis der Ost- gegenüber der Weststadt immer weiter verbesserte (gegenwärtig 32.000 in Zgorzelec und 54.000 in Görlitz – letzteres hatte 1970 noch dreimal so viele Einwohner). „Aber wie schon in früheren Phasen der Stadtentwicklung verhält sich die Topographie der gebauten Stadt weniger dynamisch als die sozio-demographische Struktur einer Stadt. Vielmehr kommt es oft zu einem Nutzungswandel der bestehenden Gebäudestrukturen, sofern im Wechselspiel von denkmalpflegerischen und ökonomischen Überlegungen sinnvolle städtebauliche Konzepte entwickelt wurden“, schreibt dazu Christoph Waack (S. 32). Anders ausgedrückt: Während die Sanierung der Altbausubstanz gut voranschreitet und zu einer leichten Belebung der historischen Innenstadt geführt hat, leiden industrielle Anlagen und Plattenbausiedlungen unter Leerstand und Abbruch.

Auch wenn sich der Autor in seinen abschließenden Ausführungen klar zu einer grenzüberschreitenden Stadtentwicklung bekennt, die in vorliegenden Konzepten und Planungen beider Städte verbrieft ist (S. 37f.), wagt er keine Prognosen. Er verweist auf positive Tendenzen, etwa den wachsenden Zuzug polnischer Bürger aufs westliche Neiße­ufer, sieht aber „die alten und neuen Bewohner der Europastadt Görlitz/Zgorzelec“ am Zuge, „diese historische Chance zu ergreifen“, und eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln (S. 38). Dabei betrachtet er interessanterweise die Geschichtsbilder auf beiden Seiten der Grenze als Hemmnis, da das Jahr 1945 als „Fluchtpunkt“ der jeweils eigenen Stadtkonstruktion dient und kontrovers wirkt. Diese Unvereinbarkeit findet im publizierten Kartenmaterial sehr sprechenden Ausdruck – auf den Seiten 28 und 29 stehen sich zwei Stadtpläne gegenüber, einer von Görlitz 1958 und einer von Zgorzelec 1984, auf denen die jeweils andere Stadthälfte sprichwörtlich einen weißen Fleck hinter der Neiße darstellt. Und damit kehren wir gewissermaßen an den Anfang des Beitrags zurück. Kaum ein Ort im historischen Schlesien könnte besser dafür stehen, wie sich das Nicht-wissen-Wollen der Nachkriegszeit aufgelöst hat, und einem verbindenden Ansatz Platz macht. Dem Band somit ‚politische‘ Absichten zu unterstellen, wäre zu viel des Guten. Dafür reicht es schon, die Quellen – hier: die Karten – für sich sprechen zu lassen.

Mateusz J. Hartwich, Berlin

Zitierweise: Mateusz J. Hartwich über: Historisch-topographischer Atlas schlesischer Städte – Historyczno-topograficzny atlas miast śląskich. Band – Tom 1: Görlitz – Zgorzelec. Im Auftrag des Herder-Instituts herausgegeben von Peter Haslinger / Wolfgang Kreft / Grzegorz Strau­chold / Rościsław Żerelik. Bearbeiter Christoph Waack. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2010, 48 S., zahlr. Abb., Ktn. ISBN: 978-3-87969-361-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hartwich_Historisch-topographischer Atlas_ schlesischer_Städte_1_Görlitz.html (Datum des Seitenbesuchs)

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