Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 139-141

Verfasst von: Jörn Happel

 

Anna Kaminsky / Dietmar Müller / Stefan Troebst (Hg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer. Göttingen: Wallstein, 2011. 566 S. = Moderne Europäische Geschichte, 1. ISBN: 978-3-8353-0937-1.

Auf eine Konferenz im Jahr 2009 zum 70. Jahrestag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts geht der von Anna Kaminsky, Dietmar Müller und Stefan Troebst herausgegebene Sammelband zurück. Darin beleuchten 24 Artikel das Abkommen vom 23. August 1939 unter der Perspektive einer europäischen Erinnerungsgeschichte. Wie Jan Lipinsky in seinem Beitrag formuliert, handelt es sich bei dem Pakt um eine völkerrechtlich einzigartige, „beispiellos zynische Missachtung von Freiheit, Souveränität, Unverletzlichkeit, ja Existenz dritter Staaten und Völker, die schon während des Zweiten Weltkriegs zur Gewissheit wurde“. Dass nun die historiographische europäische Dimension des Abkommens seit 1939 bis zu unserer Zeit in einer Gesamtdarstellung vorliegt, das ist das große Verdienst des höchst informativen und vielschichtigen Buchs.

Müller und Troebst fragen eingangs nach dem Stellenwert des Pakts in der europäischen Geschichtsschreibung der einzelnen Länder. Ihre Einführung liefert nicht nur eine Fülle an Literatur in den Fußnoten, sondern auch eine wichtige Begriffsgeschichte: Derzeit dominieren vor allem die Bezeichnungen „Molotow-Ribbentrop-Pakt“ und „Hitler-Stalin-Pakt / Nazi-Soviet Pact“ den öffentlichen Diskurs, während „Deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt“ weitgehend aus der Mode gekommen ist. Hinter diesen Begriffen verbergen sich Deutungen, auf die Dan Diner in seinem Eingangsessay eingeht. Ausgehend von der Interpretation des berühmten Propagandafotos einer angeblichen deutsch-sowjetischen Militärparade vom 22. September 1939 im damaligen polnischen Brest (in Wahrheit zeigen die Fotografien den deutschen Abzug aus der Stadt und die damit einhergehende sowjetische Übernahme), geht Diner auf den deutsch-sowjetischen Pakt als Ausgangsdatum einer vierten Teilung Polens, einer angelsächsischen Vorstellung über Mechanismen von Totalitarismen und der sich 1939/40 abzeichnenden sowjetisch-deutschen kriegerischen Auseinandersetzung ein.

Stefan Troebst zeichnet die Debatten um eine europäische Erinnerungspolitik an das Abkommen im Europäischen Parlament und die darauf folgenden Verwicklungen mit anderen Staaten – vor allem Russland – nach, die aufgrund des Beitritts von acht Staaten Ostmitteleuropas in die Europäische Union am 1. Mai 2004 aufkamen. Diese Staaten, zumeist durch das Abkommen direkt betroffen, drangen darauf, in Europa in Form eines Gedenktags auch die Erinnerung an den Pakt und die folgende Aufteilung ihrer Länder und die Unterdrückung ihrer Freiheit wach zu halten. Troebst zitiert ausführlich aus den Parlamentsdebatten, wägt für und wider ab und kommt zu dem Schluss, dass der „Black Ribbon Day“ (in etwa „Trauerschleifentag“) am 23. August zur Erinnerung an die Opfer der totalitären Diktaturen in Europa zwar ein Schattendasein führe, doch die Einrichtung eines solchen Tags als „Erfolg paneuropäisch-transatlantischer, hier primär ostmitteleuropäischer Geschichtspolitik gewertet werden“ kann.

Die Entstehung und die Bedeutung des Hitler-Stalin-Pakts für die deutsche Außenpolitik und Hitlers Kriegspläne gegen Polen und die Sowjetunion zeichnet Rolf Ahmann facettenreich nach. Jutta Scherrer analysiert in ihrem Beitrag vor allem Geschichtsbücher für die heutigen russischen Schulkinder, die darin über den Pakt doch sehr wenig erfahren. Während in der Perestrojka-Zeit wichtige moralische Verurteilungen über die Bedeutung des Abkommens ausgesprochen wurden (Aleksandr Jakovlev, 1989), ist in den heutigen Lehrbüchern für den Geschichtsunterricht – bei bewusster Ignorierung der Rolle Stalins – vor allem zu lesen, dass verlorene russische Gebiete durch den Pakt für die Sowjetunion zurückgewonnen werden konnten. Von Unrechtmäßigkeit sei hier nicht die Rede. Zudem suggerierten in den Schulbüchern die Karten Sowjetrusslands von 1940 und des Zarenreichs in den Grenzen von 1914, das Abkommen sei territorial gesehen rechtmäßig abgeschlossen worden. Von den zwölf untersuchten Geschichtsbüchern stelle nur ein einziges eine Ausnahme da, so Scherrer, das den Zynismus Molotovs und Stalins bezüglich der Existenz Polens thematisiere. Angesichts solcher Lehrwerke bestehe einzig die Hoffnung, die russischen Geschichtslehrer mögen die jungen Russen an die Folgen des Pakts bis heute erinnern und die positivistisch-deskriptiven Narrative der Lehrbücher hinterfragen. An Scherrer anknüpfend untersucht Wolfram von Scheliha die aktuellen Strömungen in der russischen ‚offiziellen‘ Historiografie. Es gab eine Vielzahl von Veröffentlichungen – auch von Politikern und namhaften Militärs – im Vorfeld des 70. Jahrestags 2009, die den Pakt verteidigten oder ihn als „Geniestreich Stalins“ einstuften. Immer wieder wurde dem Ausland während dieser Debatten vorgeworfen, die Geschichte fälschen und den Anteil des Siegs der Sowjetunion gegen Deutschland schmälern zu wollen. Doch habe unlängst, 2010, Präsident Dmitrij Medvedev betont, Geschichtsfälschungen weder im In- noch im Ausland zu dulden. Er wandte sich somit gegen revisionistische Tendenzen, die im Bezug auf das Zusatzabkommen des Pakts in Russland lange Zeit die Diskussion bestimmten.

Im Sommer 1989 wurde auf Drängen der baltischen Republiken die sogenannte „Molotow-Ribbentrop-Kommission“ (MRK) eingesetzt. Keiji Sato beschreibt die Arbeit der Kommission, die hochrangig besetzt war, und diskutiert die Sitzungsprotokolle. Zwar wurde der Pakt und das Zusatzprotokoll rückwirkend für nichtig erklärt, doch lenkten Litauer, Weißrussen und Ukrainer sorgsam von territorialen Fragen ab: Sie wollten weder Vilnius, noch die westlichen Grenzgebiete von Belarus oder der Ukraine wieder an Polen abtreten müssen.

Krzysztof Ruchniewicz und Małgorzata Ruchniewicz leiten mit ihrem Beitrag die Diskussion des Pakts in Ostmittel- und Osteuropa ein. Sie haben die polnische Geschichtspolitik im Blick, wo der 1. September als Tag des deutschen Überfalls präsenter ist als die Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt. Medial überschattet wird die Erinnerung derzeit vor allem durch das Gedenken an das Massaker von Katyń (1940) sowie durch den Flugzeugabsturz des polnischen Präsidenten bei Smolensk (2010). In Belarus wird besonders der 17. September 1939, als die Sowjetunion die ostpolnischen Gebiete unter dem Vorwand annektierte, Belarussen und Ukrainer befreien zu wollen, öffentlich erinnert, wie Elena Temper anschließend berichtet.

Im Abschnitt zu Nordosteuropa werden die Erinnerungen in Estland, Lettland, Litauen und Finnland thematisiert. 1989 hatten in der „Baltischen Kette“ zum Jahrestag des Abkommens etwa zwei Millionen Menschen auf einer 600 Kilometer langen Strecke die drei baltischen Hauptstädte Talinn, Riga und Vilnius verbunden. Dies demonstriert, wie früh der Pakt zu einem Politikum wurde. In Lettland, so Katja Wezel in ihrem Beitrag, ist man auf dem Weg, den 23. August 1939 zu einem transnationalen Gedenktag zu machen – mit dem Hauptanliegen, an die Verbrechen Stalins zu erinnern. Hierbei seien ideologische Nachwirkungen des Kalten Kriegs deutlich spürbar, zumindest bei der lettischen Haltung gegenüber den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes 2005.

Bezüglich Südosteuropas werden die Erinnerungsdiskurse in Rumänien und in Moldova diskutiert. Im Abschnitt zu Westeuropa stehen Großbritannien, Frankreich und Dänemark im Fokus, wobei weniger die heutige Erinnerung als vielmehr die damalige Politik 1939/40 rekonstruiert wird. Verdienstvoll ist auch die Aufnahme zweier Beispiele für die Bearbeitung des Pakt-Themas in der Literatur, hier in der ukrainischen Gegenwartsliteratur (Marija Matios und ihr Buch „Die süße Darusja“, 2004) und in der rumänischen Belletristik mit den Autoren Alfred Margul-Sperber, Norman Manea, Mihail Sebastian, Paul Goma und Marin Preda.

Den Abschluss des Sammelbands bildet die Diskussion um das Ende Ostmitteleuropas als multiethnischer Raum. Katrin Steffen geht auf die Erinnerung an den Holocaust in der Geschichte Ostmitteleuropas ein. Sie bilanziert, dass es wohl noch ein weiter Weg sei, „in einer Art integrierten Erinnerungskultur sowohl den jüdischen Opfern als auch denen des Kommunismus in Ost und West eine respektvolle Erinnerung zukommen zu lassen, bei denen beide Phänomene bzw. die von ihnen betroffenen Menschen weder gleichgesetzt noch gegeneinander ausgespielt werden“. Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa begann nicht erst mit dem Ende des Kriegs. Detlef Brandes beginnt seinen Beitrag mit der „Zurückführung“ der Deutschen aus dem Baltikum in das Reich beziehungsweise in das angeschlossene Polen in Folge des Pakts 1939/40. Nach dem Krieg sei dann die Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen erfolgt, die diktiert gewesen sei von der Grenzsetzung Stalins und angesichts der Gräuel deutscher Besatzungspolitik im Osten und aufgrund des Holocausts die Zustimmung der Westmächte erhalten habe.

In der Buchmitte sind auf knapp 30 Seiten Auszüge aus der Ausstellung „1939 – Pakt über Europa. Der Hitler-Stalin-Pakt in der Geschichte und Erinnerungskultur Ostmitteleuropas“ veröffentlicht, was den Sammelband weiter aufwertet: Mit viel Bild-, Karten- und Quellenmaterial, kurzen, prägnanten Texten entsteht ein umfassender Blick auf den Pakt und auf seine Folgen. Diese Ausstellungsmaterialien sowie die sehr gut lesbaren Einzelbeiträge des Bandes lassen die Ereignisse rund um den Pakt plastisch werden. Außerdem werden hier auf engstem Raum gegenwärtige Strömungen innerhalb der europäischen Gesellschaft bezüglich der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg thematisiert und illustriert. Den Herausgebern ist für diese gelungene Gesamtschau zu danken, zumal sich das Buch sehr gut für die Lehre eignen sollte.

Jörn Happel, Basel

Zitierweise: Jörn Happel über: Anna Kaminsky / Dietmar Müller / Stefan Troebst (Hg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer. Göttingen: Wallstein, 2011. 566 S. = Moderne Europäische Geschichte, 1. ISBN: 978-3-8353-0937-1., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Happel_Kaminsky_Hitler-Stalin-Pakt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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