Igal Halfin Intimate Enemies. Demonizing the Bolshevik Opposition, 1918–1928. University of Pittsburgh Press Pittsburgh, PA 2007. 416 S., 50 Abb. = Pitt Series in Russian and East European Studies.
Igal Halfin ist bisher mit zahlreichen sehr anregenden, aber auch ebenso kontrovers diskutierten Veröffentlichungen zur Geschichte der bolschewistischen Partei hervorgetreten, die allesamt den Anspruch vertreten, den Terror der Partei gegen sich selbst in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre zu erklären. In der zu besprechenden Studie nimmt er dieses Thema wieder auf. Er beschreibt, wie die bol’ševiki von einer Debattier- und Abstimmungspartei, in der über politische Fragen gestritten wurde und in der unterschiedliche politische Auffassungen diskutier- und abstimmbar waren, zu einer Partei mutierten, die jegliche Opposition in ihren eigenen Reihen gegen die von der ZK-Mehrheit vertretene sogenannten Generallinie auf zunehmend radikale Weise verfolgte, unterdrückte und ausschloss. Dieser Prozess, den Halfin in der vorliegenden Publikation lediglich bis zum endgültigen Sieg der Mehrheitsfraktion über die von Trockij, Zinov’ev und Kamenev angeführte „vereinigte Opposition“ in den Jahren 1927/28 detailliert nachzeichnet, endete in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre mit der physischen Vernichtung der als oppositionell gebrandmarkten oder auch nur als unzuverlässig eingestuften Genossen. Halfin untersucht die entsprechenden Debatten und Entwicklungen auf der Ebene des Zentralapparats der bolschewistischen Partei in Moskau sowie deren Einfluss auf die Prozesse der politischen Willensbildung auf den untergeordneten Hierarchieebenen. Dies tut er im Rahmen zweier Mikrostudien höherer Bildungseinrichtungen der Partei: der Petrograder Kommunistischen Universität und des Technologischen Instituts in Tomsk. Halfins Hauptquelle sind die Stenogramme von Parteiversammlungen der genannten Parteiorganisationen.
Vieles wird den mit den Veröffentlichungen Halfins vertrauten Lesern schon bekannt vorkommen. Dennoch hat Halfin einiges Interessante mitzuteilen: Die vorliegende Studie sticht insbesondere dadurch hervor, dass die parteiinternen Verfahren der politischen Willensbildung, deren Genese, Veränderungen und bewusste Manipulationen, die Interaktion zwischen den unterschiedlichen Ebenen der Parteihierarchie, die Funktionsmechanismen und Institutionen der parteiinternen Disziplinierung sowie die Produktion der dafür relevanten schriftlichen Dokumentation genau beschrieben werden. So kann Halfin z.B. zeigen, dass das während des 10. Parteitags eingeführte Verfahren, die Stimmabgabe jedes einzelnen Delegierten nicht mehr anonym, sondern namentlich zu registrieren, zunächst nicht vorgesehen war, um Oppositionelle zu brandmarken, sondern um die Wahlprozedur zu vereinfachen und verbindlicher zu machen. Diese Verfahrensänderung, der auch Mitglieder der sogenannten Arbeiteropposition und der spätere Oppositionelle Trockij zustimmten, sollte für diese unintendierte Konsequenzen zeitigen und im Zusammenspiel mit anderen Variablen eine mörderische Dynamik entfalten.
Sehr instruktiv ist Halfins detaillierte Rekonstruktion der Debatten, die in den Parteizellen der Petrograder Kommunistischen Universität über Trockijs Brief an das ZK vom 8. Oktober 1923 geführt wurden. An diesem Beispiel macht er deutlich, wie die Prozesse politischer Willensbildung in der Studentenschaft der Kommunistischen Universität vom Leningrader Parteichef Zinov’ev mit Hilfe des vom ZK bestellten und gutbezahlten Sekretärs des Parteibüros der Universität Ivanov sowohl durch konkrete Interventionen als auch durch epistemologische Praktiken manipuliert wurden. Insbesondere durch Manipulationen der Berichterstattung über die Debatten wurde der Begriff Opposition definiert und Personen als Oppositionelle kategorisiert, von denen viele in der Folge, zunächst während der „Säuberungskampagne“ an den Hochschulen 1924, Gegenstand von Maßregelung und Opfer von Verfolgung werden sollten.
Ein Jahr später sollte sich der Leningrader Parteichef Zinov’ev selbst in Opposition zu der von Stalin und Bucharin angeführten ZK-Mehrheitsfraktion wiederfinden. Zinov’ev und seine Anhänger stießen sich insbesondere an deren konziliatorischer Landwirtschaftspolitik. Halfin zeigt, dass Worte nun nicht mehr die Hauptwaffe im Kampf um die Kontrolle des Leningrader Parteiapparats waren. Durch gezielte Agitation in den Parteiorganisationen, die Umbesetzung von Führungspositionen in der Leningrader Parteiorganisation auf Geheiß von Stalins Emmissären, die Übernahme der „Leningradskaja Pravda“, den Einsatz der GPU sowie von außerordentlichen Ordnungskräften auf der Gehaltsliste des ZK konnten die Vertreter der ZK-Mehrheit die Leningrader Anfechtungen ihrer Autorität abwehren. Mit seiner Analyse des Lachens und des Humors, der sich an den Stenogrammen der Debatten ablesen lässt, gelingt es Halfin, die im Laufe der Zwanzigerjahre immer unversöhnlicher werdende Atmosphäre anschaulich zu vermitteln.
Halfin scheint zudem – im Gegensatz zu seinen früheren Arbeiten – die etablierte Auffassung zu akzeptieren, dass politische Krisen und Kurswechsel unter den bol’ševiki immer wieder zu unterschiedlichen Vorstellungen über die Lösung konkreter aktueller politischer Probleme führten, dass die Vertreter dieser Vorstellungen in der Partei um Unterstützung warben und versuchten, in Abstimmungen Mehrheiten zu erringen, und dass diese (minoritären) Versuche politischer Willensbildung von den Vertretern der ZK-Mehrheit als Opposition bezeichnet wurden. Das komplementäre Begriffspaar Opposition vs. Generallinie, das im Laufe der innerparteilichen Auseinandersetzungen konstruiert wurde, diente den jeweiligen Gruppen als Instrument, mit dem politische Gegner in den eigenen Reihen denunziert und zur Anpassung gezwungen werden konnten. Halfin zeigt auch, dass die streitenden Parteien versuchten, ihre jeweilige Position zu legitimieren, indem sie vorgaben oder auch davon überzeugt waren, die Interessen der Arbeiterklasse besser zu erkennen und zu vertreten als ihre Konkurrenten.
All dies zeichnet Halfin auf überzeugende Weise nach. Dennoch ist die Arbeit unausgewogen und macht der Rezensentin eine Bewertung nicht leicht, denn vieles von dem, was hervorgehoben wurde, möchte Halfin offenbar gar nicht zeigen. Und eigentlich hält er den sozialen und politischen Kontext der innerparteilichen Debatten, den er so nachvollziehbar analysiert, für irrelevant. Stattdessen geht er in einer ziemlich extravaganten parallelen Argumentation davon aus, dass die bol’ševiki unter Opposition eben nicht eine politische Plattform mit konkreten politischen Anliegen und Machtambitionen verstanden, sondern zunächst eine heilbare Krankheit und seit der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre einen unheilbaren spirituellen Defekt, d.h. eine Abkehr von einer abstrakten proletarischen „Wahrheit“. Das wachsende Bedürfnis nach dieser proletarischen „Wahrheit“ habe zu einer wachsenden Radikalisierung der „seelenhermeneutischen“ Überprüfungstechniken und damit schließlich zur Dämonisierung und Verfolgung der als Oppositionelle gebrandmarkten Genossen geführt. Die Repräsentanten der ZK-Mehrheitsfraktion hätten die Opposition als eine diabolische Perversion der Parteilinie und deren Organisationsformen als „schwarze Messen“ wahrgenommen. „Schwarze Messe“ ist die zentrale Metapher, mit deren Hilfe Halfin den Prozess verstehen will, in dessen Verlauf sich für die bol’ševiki innerparteiliche oppositionelle Willensbekundungen in ein „dämonisches Verbrechen“ transformierten. Halfin ist zwar der festen Überzeugung, dass Sprache die soziale Welt konstituiert, und so versteht er seine Studie in Anlehnung an Foucault als Archäologie des bolschewistischen Diskurses. Die für seine Arbeit so zentrale Metapher der „schwarzen Messe“ sucht man in diesem Diskurs allerdings vergeblich.
Sandra Dahlke, Hamburg
Zitierweise: Sandra Dahlke über: Igal Halfin Intimate Enemies. Demonizing the Bolshevik Opposition, 1918–1928. University of Pittsburgh Press Pittsburgh, PA 2007. 416 S., 50 Abb. = Pitt Series in Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-8229-5952-6, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Halfin-Intimate-Enemies_DF.html (Datum des Seitenbesuchs)