Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 332-335

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Sally West: I shop in Moscow. Advertising and the Creation of Consumer Culture in Late Tsarist Russia. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2011. 292 S., Abb., Tab. ISBN: 978-0-87580-648-8.

Im Zarenreich galt Reklame den einen alsMotor des Handelsund somitwie zumindest die zeitgenössischen sozialistischen Kritiker meintenals einKind der entwickelten kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Demgegenüber formulierten andere eine skeptische Sicht, wie beispielsweise 1911 das Journal Sovremennyj mir :Viele Russen meinen, dass Reklame (in welcher Form auch immer sie erscheinen mag) nicht mehr als ein Werkzeug eines Betrugssystems und deshalbunzweifelhaftschädlich ist. [] Die impertinente, raubgierige, gnadenlose, keinerlei Grenzen kennende, sich keinem Gebot der Moral unterwerfende, in alle Poren des gesellschaftlichen Organismus eindringende und überall moralischen Zerfall hervorrufende Reklame, erscheint in ihrem Wesenskern nur als Mikroskop der sie gebärenden Gesellschaftsformation.Ungeachtet der deutlichen Diskrepanz stimmten beide Positionen in einem überein: der Bedeutung der Reklame. Wenn Werbungverstanden als absichtliche und ohne Zwang erfolgende Strategie, jemanden zu bestimmten Willensäußerungen und Handlungen zu veranlasseneinen beträchtlichen Stellenwert für eine Gesellschaft aufweist, dann erlaubt die Beschäftigung mit diesem Gegenstand konkrete Rückschlüsse nicht nur auf die materielle Kultur, auf Bedürfnisse, Lebensweisen und Lebensverhältnisse, sondern auch auf kommunikative Praktiken, Werthaltungen und kollektive Identitäten der Konsumenten respektive der insgesamt am Prozess des Warentauschs partizipierenden Bevölkerung.

Ziel der Studie, deren erste Archivarbeiten über zwei Jahrzehnte zurückliegen, ist, die Rolle der Reklame und der Werbebranche bei der Verbreitung der Konsumkultur im ausgehenden Zarenreich zu untersuchen (S. 4). West betont dabei gleichermaßen die Janusgesichtigkeit von Konsumgesellschaft und Reklame. Während erstere in Verbindung mit der Industrialisierung und wachsender sozialer Mobilität dazu beigetragen habe, individuelle Erfahrungen auszudrücken, persönliche Erwartungen stärker zu entwickeln und damit letztlich die tradierte Ordnung des Ancien régime zu unterminieren, habe die Reklame mit einer wechselseitigen Verklärung der Vergangenheit und Beschwörung der Moderne die Bevölkerung verunsichert, weil sich durch vermeintlich einander ausschließende Botschaften kein einheitlicher und verbindlicher imperialer Wertekanon habe entwickeln können. Indem sich die Werbung traditionaler und moderner Themen bediente, diese mischte und modifizierte, wurden ihre Fachleute zu Kulturproduzenten, wobei sich als Massenkultur das erwies, was für die Massen zum Konsum bestimmt war (S. 6).

Die Monographie besteht aus zwei Teilen mit insgesamt fünf Kapiteln. Der erste Teil behandelt die Rahmenbedingungen. Er erörtert zum einen die Entwicklung der unterschiedlichen Werbeträger bis hin zum Entstehen moderner Werbestrategien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hierzu zählten auch Auszeichnungen durch Medaillen, die auf großen nationalen oder sogar internationalen Ausstellungen bzw. Warenmessen verliehen wurden, oder auch der Titel Hoflieferant. Mit diesen Insignien durften die Kaufleute die Briefköpfe ihrer Firmenkorrespondenz oder die Schaufenster ihrer Läden schmücken. Zum andern wird der zunehmende Bedeutungsverlust der Zensur im Reklamesektor thematisiert. Gleichwohl verweist die Autorin mit Recht darauf, dass das Zarenreich keine einheitliche Gesetzgebung für das ganze Imperium kannte, die Verstöße der Werbung hätte ahnden können (vgl. S. 77).

Der zweite Teil besteht aus drei Kapiteln, die sich mit der Entwicklung der Werbung und deren Fortschrittsvisionen durch Konsum, mit dem Gender-Aspekt sowie den unterschiedlichen Reklamestrategien beschäftigen. Diese propagierten sowohl traditionelle Werte als auch zukunftsorientierte, Standesgrenzen und Klassenschranken überwindende Gesellschaftsmodelle, waren aber insofern der Moderne verpflichtet, als sie eine universelle Konsumkultur beschworen und nicht allein den Luxuskonsum der gesellschaftlichen Eliten (S. 20, 112). Gerade indem die Werbung das zivilisierende Potential des Konsums bestimmter Produkte hervorhob, versuchte sie der konsumkritischen Haltung der Intelligencija den Wind aus den Segeln zu nehmen (S. 97 ff., 181).

Die Untersuchung ruht auf einer breiten Materialbasis. Neben einschlägigen Archivalien insbesondere aus den Moskauer und Petersburger Stadtarchiven verwendet West vor allem im Historischen Museum Moskaus, in der Handschriftenabteilung der Moskauer Staatsbibliothek, dem Archiv für Literatur und Kunst sowie dem Petersburger Historischen Staatsarchiv Kaufmannsnachlässe, Reklameplakate, Firmenarchivez. B. dasjenige der größten russischen Anzeigenagentur E. Metzl [Metcel] – Akten von Zeitungsredaktionen sowie des Ministeriums für Handel und Industrie. Um die Informationsflut der ausgewerteten Tagespresse, die die zweite zentrale Quellengattung bildet, methodisch in den Griff zu bekommen, wertete die Autorin je eine Woche im Mai und November von zwei hauptstädtischen Boulevardzeitungen im Fünfjahresabstand aus: die von 1867 bis 1917 erscheinende Peterburgskaja Gazeta sowie ihr Moskauer Gegenstück, den von 1881 bis 1918 erscheinenden Moskovskij Listok. Um eine konsistentere inhaltliche Analyse vornehmen zu können, zog sie daneben nicht nur die beiden auflagenstärksten Zeitungen, das durchaus seriöse, politisch ungebundene, aber progressive Russkoe Slovo sowie das Petersburger Boulevardblatt Gazeta-Kopejka heran, sondern analysierte darüber hinaus noch das MoskauerProfessorenblatt, die linksliberalen Russkija Vedomosti. Dieses Vorgehen birgt Schwächen. Fünfjahresintervalle sind zu groß, um den Wandel schnelllebiger Werbetrends adäquat verfolgen zu können, insbesondere dann, wenn in der Reklame beispielsweise auf tagespolitische Ereignisse oder Jubiläen Bezug genommen wurde. Zum zweiten wäre es wohl sinnvoller gewesen, die unterschiedlichen Jahreszeiten einerseits und Alltags- und Festtagsreklame andererseits zu fokussieren. Dieses starre, auf Mai und November, fern der großen kirchlichen Feste fixierte Procedere trägt den typischen Schwankungen des Konsumverhaltens keinerlei Rechnung. So ist es nicht überraschend, dass die Festtagsreklame vor allem dem Russkoe Slovo entnommen worden ist (S. 195–196).

Der technische Fortschritt in der Druckindustrie begünstigte die schnelle Verbreitung der Werbung. Mit den neuaufgekommenen Klischees war es möglich, Illustrationen in den Periodika abzudrucken. Die Entwicklung der Halbtoneffekte in den 1880er Jahren sowie die der Chromlithographie können als ikonographische Revolution betrachtet werden. Aufgrund dieser Innovationen erfuhr das Plakat als Werbeträger im ausgehenden 19. Jahrhundert eine bis dahin nicht gekannte Verbreitung. Poster und Plakate konnten in hoher Auflage kostengünstig produziert werden; bei hohen Auflagen von mehreren tausend Exemplaren kostete ein Poster keine 10 Kopeken. Sie waren vielseitig verwendbar und erreichten ein großes Publikum.

West macht mit Rekurs auf den geringeren Alphabetisierungsgrad der Frauen, aber auch auf die Bevölkerungsstruktur der Großstädte, die infolge der Arbeitsmigration einen deutlichen Männerüberschuss aufwiesen, plausibel deutlich, dass sich im Zarenreichanders als dies für Westeuropa wiederholt geltend gemacht worden istReklame nicht in erster Linie an die Frau gerichtet habe (S. 15, 140 ff., 145). Die Reklame wies drei charakteristische Objektivierungen der Frauen auf. Frauen verkörperten erstensallerdings relativ seltenden Typ der Xanthippe, der man durch Zuflucht zu einer Zigarette Jar der Petersburger Firma Laferm oder einem Glas Cognac der Firma Šustov zu entkommen suchte. Zweitens standen sie für Abenteuer: entweder, und dem gängigen Rollenverständnis zuwiderlaufend, als Bergsteigerin eines St. Petersburger Parfums oder als streitbare, aber auch attraktive Amazone. In der überwiegenden Mehrheit der Reklame waren Frauen schließlich, drittens, jung, schön, begehrenswert und verführerischz. T. gerade aufgrund der Benutzung des Produktes, für das sie warben, wie Korsette, Seife, Parfums, Crèmes etc. Doch war die Produktpalette, für die Frauen warben, umfangreicher: Von wertbeständigen Haushaltsgegenständen wie Nähmaschinen über Zigaretten der Marken Duchesse, Eva u. a. m. bis hin zu Parfums wie Koketterie. Gerade die letzten Beispiele können als einseitige sexuelle Zuschreibung verstanden werden. Die Frau spielte die passive Rolle, der Mann hatte wie beim Produkt, für das geworben wurde, die Wahl. Daher, so West, zielte die Werbung letztinstanzlich auf den Mann (S. 15ff.).

AlsMissionareder Moderne bezeichnete der amerikanische Historiker Roland Marchand die Werbefachleute seines Landes für die Zeit der 1920er bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. In der Reklame im Zarenreich war nicht nur ein Strategiewechsel in der Reklame zu erkennen, eine Substitution der Information durch die suggestive Methode der Verheißung. Evident war darüber hinaus das Bekenntnis der Werbebranche zur Moderne als einem Wert an sich. Alles was neu war, war zugleich auch besser. Das Optimum war der dernier cri, die poslednjaja novost. Insofern waren die Werbestrategen die Pioniere des Fortschritts, die gerne mit großen Fabrikanlagen und rauchenden Schornsteinen warben, die Schattenseiten des Industrialisierungsprozesses, die Umweltverschmutzung, durch ihre romantisierenden und idealisierenden Darstellungen der Fabriken aber ausklammerten.

Wests Studie ist eine Pionierleistung. Ihr gebührt das Verdienst, sich diesem zwischen Produktion und Konsum gelegenen weiten Feld der Werbung in Russland als erste zugewandt zu haben. Insgesamt überzeugend analysiert sie zwei der wichtigsten Verbreitungswege der Werbung, Tageszeitungen und Plakate. Weil die Studie im Wesentlichen aber den beiden Hauptstädten gewidmet ist, wird nicht deutlich, inwieweit die Verbrauchergemeinschaft möglicherweise regionale Unterschiede aufwies. Für Moskau und St. Petersburg thematisiert die Autorin diesen Aspekt nicht. Zu bedauern ist ferneraber dies ist der Quellenlage geschuldet, die nicht West angelastet werden kann, dass sich die Darstellung insgesamt auf die Produzenten der Reklame bezieht, welche Intention sie verfolgten. In aller Regel können keine Aussagen über die Konsumenten gemacht werden, wie nämlich die Werbung auf sie wirkte und ob sie die Gefühle evozierte, die sich ihre AuftraggeberPR-Agenturen existierten in Russland vor dem Ersten Weltkrieg kaumversprachen. Die Rezeptionsgeschichte bleibt ein Buch mit sieben Siegeln. Vielleicht hätte West das dynamische Element des Wandels der Zeichen im Verlauf eines Vierteljahrhunderts in noch stärkerem Maße in ihre Analyse einbeziehen müssen. So vertritt sie beispielsweise die Auffassung, dass soziale Mobilität für die Masse der Bevölkerung etwas Neues gewesen sei, was zumindest angesichts des gesellschaftlichen Wandels, der beschleunigt nach 1861 Einzug hielt, überrascht (S. 121). Auch eine stärkere Historisierung fehlt. Gab es keine einschneidenden Zäsuren, keine Beschleunigung, keine Neuakzentuierung auf dem Feld in der Reklame in den letzten fünf Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg? Zu bedauern ist schließlich, dass dem Werk ein Schluss fehlt: Es gibt weder eine Zusammenfassung noch ein Ausblick. Ungeachtet dieser Einwände ist der Studie nachdrücklich Respekt zu zollen.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Sally West: I shop in Moscow. Advertising and the Creation of Consumer Culture in Late Tsarist Russia. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2011. 292 S., Abb., Tab. ISBN: 978-0-87580-648-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_West_ I_Shop_in_Moscow.html (Datum des Seitenbesuchs)

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